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Surprise-Porträt
«Müsste man mich beschreiben, wäre das passendste Wort wohl ‹Nomade› oder ‹Überlebenskünstler›. Mit siebzehn Jahren zog ich per Autostopp durch Europa, schlief draussen und lebte von Tag zu Tag. Später heuerte ich auf einem Öltanker an, gondelte um Afrika nach Kuwait. Ich lebte auch in Holland, doch das Reisefieber packte mich immer wieder. Nach Mexiko kam ich mit meinen letzten 500 Dollar. Um mich über die Runden zu bringen, verkaufte ich Comics. In die Hefte klebte ich Annoncen für meine Dienste als Sprachlehrer – so habe ich doppelt Geld verdient und auch meine Frau kennengelernt. Sie buchte mich als Sprachlehrer und rettete mich vor dem Verhungern. Vier Jahre lebten wir in Mexiko, dann zogen wir in die Schweiz. Wir besuchen die Familie in Mexiko regelmässig, aber dort zu wohnen ist nicht ungefährlich.
Inzwischen bin ich ruhiger geworden. Ich kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Dabei habe ich oft gedacht: «Huere Siech, was machi?!» Bisher habe ich immer eine passende Überlebens strategie für mein Nomadendasein gefunden. Die Leute werden sehr erfinderisch, wenn sie nur genug tief in der Klemme stecken oder nicht so behütet aufwachsen.
Bei mir war das so. Wir waren fünf Geschwister und sehr arm, die Jüngsten wurden weggegeben. Wenn ich bei meinen Eltern im St. Galler Rheintal war, halfen wir Kinder unserem «Nach buur», um ein paar Kartoffeln zu ergattern. Als sich meine Eltern trennten, kam ich zu einem Bauern. Ich wurde nicht misshan delt, wie man das von anderen Verdingkindern hört. Aber für die Bauernfamilie war ich eine billige Arbeitskraft.
Wahrscheinlich wäre ich Analphabet geblieben, hätte es keinen obligatorischen Schulunterricht gegeben. Gerne wäre ich Koch geworden. Mein Vormund wollte aber, dass ich ‹AutoService-Mann› lerne. Das war während des Autobooms der Sechzigerjahre. Doch ich merkte schnell, dass dies kein Job für mich war. Irgendwann bin ich abgehauen, um die Welt zu entdecken. Nach meinem ersten Trip durch Europa kam ich 1969 nach Zürich – die Hippieszene war gerade im Aufschwung. Ich konsumierte Drogen und verkaufte Haschisch. Immer wieder arbeitete ich temporär als Angestellter. Insgesamt sechs Jahre war ich bei der Migros im Postbüro. Dann zog es mich wieder in die Ferne. Auf Reisen vergass ich die Drogen, war frei und unabhängig. Ich habe nie den Reichtum gesucht, ich brauchte meine Freiheit. Deshalb waren Temporär-Jobs das Richtige für mich. Doch irgendwann hiess es, ich sei zu alt dafür.
Und so kam ich zu Surprise. Seit über sechzehn Jahren verkaufe ich das Heft in Zürich beim Bahnhof Wiedikon und Enge. Ich schätze den Kontakt zu den Menschen, doch die Zeiten haben sich geändert. Früher hatten die Leute Zeit, heute rennen sie auf den Zug. Ich verliere immer mehr ältere Stammkunden, die zum
30 Réne Georges Senn, 68, verkauft Surprise in Zürich. Er hat immer eine Überlebensstrategie für sein Nomadendasein gefunden.
Teil wegsterben. Die Menschen, die neu ins Quartier ziehen, sind meist weniger offen. Es gibt solche, die schon seit sechzehn Jahren an mir vorbeilaufen, ohne mich nur einmal anzuschauen.
Ich fühle mich nicht alt, bin aber dem Tod schon einige Male knapp entkommen. So war ich während des grossen Erdbebens von 1985 in Mexiko-Stadt. Hätte unser Haus nicht wie durch ein Wunder gehalten, wäre unsere ganze Familie ausgelöscht worden. Wenn man an den zerstörten Häusern der Nachbarn vorbeiläuft und überall den Tod sieht, jedoch selbst verschont bleibt – das fährt einem ein. Schon als Kind bin ich dem Tod von der Schippe gesprungen. Als kleiner Junge fiel ich in eine Grube und wurde schwer verletzt. Ein paar Jahre später wäre ich beinahe ertrunken. Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, muss ich sagen: Ich bin schon oft mit einem blauen Auge da vongekommen. Daher bin ich für mein Leben sehr dankbar und mache das Beste daraus – trotz der vielen Steine im Weg.»
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