8 minute read

Soziale Stadtrundgänge

Next Article
Care Leaver

Care Leaver

Oben: Stadtführer Jia Xi-yah leitet durch das «verborgene Taipei». Unten: In der Nähe des Hauptbahnhofes.

Im Verborgenen

Soziale Stadtrundgänge In Taiwan ist Armut ein grosses Tabu. Nun erzählen Menschen ohne Obdach ihre Geschichten und sprechen über Scham. Ein Rundgang durch «Hidden Taipei».

TEXT ALICE GRÜNFELDER

Taipeh

TAIWAN

Zuerst geht es durch ödlange Gänge. Die Rollläden in der Einkaufspassage sind noch heruntergelassen. In einer Ecke stehen Massagestühle, eine Frau und zwei Männer in weissen Kitteln warten auf Kunden.

Der Treffpunkt für den Rundgang mit einem Obdachlosen ist ein kleiner Platz hinter dem Bahnhof. Jia Xi-yah sitzt auf einer Bank und lässt seine wachen Augen über die Gesichter jener gleiten, die per Rolltreppe ans Tageslicht hochfahren, als schätze er ab, wer an diesem Samstagmorgen an seiner Tour teilnehmen wird. Dreizehn sind es heute. Die Begrüssung fällt knapp aus. Er erzählt von sich, wie er als Matrose in Japan an Meningitis erkrankte, ein Jahr im Krankenhaus lag und die Ärzte ihn schon aufgegeben hatten. Wie er danach sein linkes Bein und die linke Hand nicht mehr richtig bewegen konnte, dass er vieles vergessen hatte und von da an keinen Fuss mehr auf den Boden bekam. Jahre lebte er am Hauptbahnhof von Taipei.

Seine Augen flitzen beim Erzählen hin und her, er streut historische Fakten über das Viertel ein, durch das wir gehen, immer wieder auch aus der Perspektive der Obdachlosen. Dass zum Beispiel im kleinen Tempel hinter dem Bahnhof jedes Jahr zu bestimmten Zeiten Essen verteilt wird. Darin nehmen die Tempel auf Taiwan eine vergleichbare Funktion ein wie in anderen Ländern Asiens, wo vor Tempeln und Klöstern Bettler sitzen und von den Gläubigen Almosen bekommen, die sich dadurch wiederum ein besseres Karma erhoffen, ein besseres Schicksal im nächsten Leben. Und wo Klöster – ähnlich wie früher in Europa – Armenspeisungen anbieten.

Deshalb sieht man viele Obdachlose nicht nur am Hauptbahnhof, sondern auch in Wanhua in der Nähe des Longshan-Tempels. Gegenüber im Bankga-Park – das Land gehörte einst dem Tempel, der dort die Armen verköstigte – sitzen tagsüber die Armen der Stadt, halten Prostituierte nach Freiern Ausschau, führt ein Mann sein Schwein mit einem Glücksanhänger spazieren, werden Schachsteine über Pappbretter geschoben und Wetten abgerechnet. Wanhua ist eines der ältesten Quartiere der Stadt, früher Umschlagplatz für Güter, die von jenseits des Meeres kamen und ins Hinterland weiterverkauft wurden. Die Geschäfte sind mittlerweile Richtung Osten gezogen, wo die Luxus-Shopping-Malls die Wolken kratzen und das fünfthöchste Gebäude der Welt, der «101 Tower», als Symbol der geballten Wirtschaftsmacht des Landes steht. Die Armen sind in Wanhua geblieben, weil sie sich anderswo die Mieten ohnehin nicht leisten könnten.

Wer das Gesicht verliert

Im Jahr 2018 wurden 645 Obdachlose in der Stadt registriert, davon 97 Frauen, doch die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Die Zahl scheint tatsächlich zu niedrig angesichts der knapp drei Millionen Einwohner von Taipei. Das hat mehrere Gründe. Gezählt wird nur, wer sich registriert. Nicht jeder bringt aber die notwendigen Papiere zusammen, und die Bürokratie ist gnadenlos. Sowohl Jia Xia-yah als auch die Sozialarbeiterin Yan Man-Ju von Hidden Taipei – der NGO, die diese Stadt führungen organisiert – erklären, dass die Registrierung einem ungeheuren Gesichtsverlust gleichkomme. «Lieber auf der Strasse von Almosen leben und mühsam ums Überleben kämpfen, als sich zu registrieren.» Die Behörden würden Fragen stellen und nachforschen, warum die eigene Familie einen nicht unterstütze. Nicht nur in Taiwan, sondern auch in anderen Ländern Asiens ist die Familie als kleinste Zelle für die soziale Absicherung der Familienmitglieder verantwortlich – trotz der Sozialversicherungen, die in Taiwan jedoch nicht wirklich oder nur knapp zum Überleben reichen. Und wenn die Familie erfährt, dass man in Taipei auf der Strasse lebt, erfahren es auch ihre Nachbarn, und die Scham, die damit gleichsam über die Familie kommt, lasse einen buchstäblich in den Boden versinken. Wer jedoch von der Familie verstossen wurde – wegen Gewalttätigkeit oder Suchtproblemen etwa –, muss zuerst das Problem lösen, bevor der Staat Geld fliessen lässt. In einem Fall war der Sohn aus finanziellen Gründen schlicht nicht in der Lage, seinen Vater zu unterstützen, der dann zwei Jahre warten musste, bis er Sozialhilfe bekam.

Wie hoch die Dunkelziffer also wirklich ist, darauf will sich niemand festlegen. Für die vielen hundert Obdachlosen gibt es gerade mal 175 Betten, zum Teil in Häusern mit strengen Vorschriften, wo man sich zwischen 8 und 16 Uhr nicht in der Unter

kunft aufhalten darf. «Wohin sollen die Kranken gehen?», fragt Yan Man-Ju von der Organisation Hidden Taipei, die selbst 25 Betten ohne solche strengen Regelungen anbietet. Also werden sie beim den Hauptbahnhof geduldet, solange sie nicht betteln, und sie dürfen unten im Parkhaus schlafen, wenn sie bis 8 Uhr wieder draussen sind. «Jede Nacht so um die 300 Leute», sagt Jia Xi-yah. Danach verstreuen sie sich in der Stadt, arbeiten als Werbeträger für Plakate, fegen die Parkanlagen, helfen bei religiösen Veranstaltungen. Jia Xi-yah war zeitweise auch Verkäufer von The Big Issue Taiwan, dem taiwanischen Pendant zu Surprise, doch aus gesundheitlichen Gründen konnte er irgendwann nicht mehr so lange an einem Ort stehen.

Weil die Obdachlosen ihre Habseligkeiten tagsüber beim Bahnhof liessen, hatte man sie für Abfall gehalten und entsorgt. Dann kam das Sozialdepartment auf die Idee, schwarze Säcke zu verteilen, und stolz hält Jia Xi-yah einen hoch: «Darauf schreibt man seinen Namen, stellt ihn vor den Bahnhof und holt ihn abends wieder ab.» Und ja, das klappt – aber nur wer re gistriert ist, bekommt einen solchen Sack und überhaupt Sozialhilfe. Das sei eben die Krux, meint die Sozialarbeiterin Yan Man-Ju. Viele wollen sich nicht registrieren lassen, doch dann erhalten sie keine Unterstützung bei der Wohnungssuche, bekommen keine Sozialhilfe und fallen durch alle Raster. Suchen sie Arbeit, brauchen sie eine Adresse. Für eine Wohnung aber brauchen sie einen Arbeitsnachweis – ein Teufelskreis.

Erzählen statt klagen

Gründe, das Dach über dem Kopf zu verlieren, gibt es so viele, wie es Obdachlose gibt. Die einen haben ihre Arbeit verloren, weil die Firma ihre Produktionsstätte in die Volksrepublik China oder nach Südostasien verlagerte. Oder sie sind krank geworden und wurden flugs ersetzt. Und von Fortbildung zur Verbesserung ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt können die allermeisten nur träumen, dafür fehlen ihnen die nötigen Schulabschlüsse und Zeugnisse. Das ist insbesondere bei der dritten Gruppe der Fall: Das sind jene über 50, die keine Familie haben. Diese Gruppe wird grösser werden angesichts der Überalterung der Gesellschaft und des massiven Geburtenrückgangs, fürchtet Sozialwissenschaftler Lin Thung-Hong im Gespräch mit Channel News Asia. Denn wer kinder

2

los ist, hat keine Nachkommen, die sich im Alter um ihn kümmern könnten. In Taiwan – mit einer der niedrigsten Geburtenraten weltweit – ist dies nicht nur für Obdachlose ein Problem. Zudem reichen die Löhne oft nicht aus, um die rasanten Mietsteigerungen aufzufangen, denn Taiwan – neben Singapur, Hongkong, Südkorea einer der vier sogenannten Tigerstaaten –, legte in den letzten Jahren einen fulminanten Wirtschaftsaufschwung hin. «Die Armen haben die Stadt aufgebaut, aber ihre Geschichte will niemand hören», sagt Jia Xi-yah. Dabei beklagt er während der zweitstündigen Stadtführung keines wegs sein Schicksal, drückt nicht auf die Tränendrüse, sondern es ist ihm ein ernsthaftes Anliegen, dass die Teilnehmenden verstehen, wie Obdachlose leben.

Hier springt Hidden Taipei ein. Neben den Rundgängen organisiert die NGO auch die Living Library, wo Obdachlose aus ihrem Leben erzählen, organisiert Ausstel

1 Jia Xi-yah informiert über den Pujin-Tempel. 2 Alles Hab und Gut aufs Velo verstaut. 3 Die Gruppe hört Jia

Xi-yah aufmerksam zu. 4 Am Bahnhof können registrierte Obdachlose ihre Habseligkeiten lagern.

CHING-WEI LIN FOTO(3): ZVG/HIDDENTAIPEI.ORG, FOTOS(2+4): ALICE GRÜNFELDER, FOTO(1):

«Wir führen diese Touren durch, damit wir gemeinsam überlegen können, wie sich die Situation der Obdachlosen verbessern lässt.»

YAN MAN-JU

3

4

lungen und bietet Unterrichtsmaterial an. Ziel sei es unter anderem, Vorurteile abzubauen: Entgegen weit verbreiteter Annahme arbeiten 70 Prozent der Obdachlosen, auch wenn 80 Prozent von ihnen damit weniger als 5000 Yuan (165 Schweizer Franken bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 1200 Franken) verdienen. Oft sind sie unverschuldet in eine Notlage geraten und auf der Strasse gelandet. Yan Man-Ju von Hidden Taipei hofft denn auch, dass durch die Rundgänge und direkten Begegnungen mit Obdachlosen aus der Einsicht in das Leben dieser Menschen engagierte Empathie wird.

Wem geben die Obdachlosen und die Armen der Stadt die Schuld für ihr Schicksal? Der eigenen Familie, den Chefs, der Regierung oder dem Karma? Keiner weiss eine Antwort auf die Frage, alle schütteln den Kopf und schweigen. Nur einer ruft: «Wir sind es selbst, wir selbst», und seine Stimme wird dabei immer lauter. «Was bringt es denn, anderen die Schuld für unser Scheitern in die Schuhe zu schieben? Nichts bringt es, nichts.»

Dass es das Karma sein soll, lehnt die Sozialarbeiterin ab. «Wir führen diese Touren durch, damit die Menschen sehen, wie die Obdachlosen leben, damit sie verstehen, was in ihnen vorgeht, welche Probleme sie haben. Und damit wir gemeinsam überlegen können, wie wir ihre Situation verbessern können. Karma», sie schüttelt den Kopf, «damit macht man es sich zu einfach. Das würde bedeuten, dass der Einzelne und auch die Gesellschaft nichts tun können, um die jetzigen Lebensumstände zu verbessern, sondern dass man sich auf ein besseres Leben im nächsten vertröstet.» www.hiddentaipei.org

Soziale Stadtrundgänge

Surprise hat die Sozialen Stadtrundgänge in Basel, Bern und Zürich mit einem umfassenden Schutzkonzept wieder aufgenommen. Nach drei Monaten im Corona-Lockdown können sich nun die 13 Stadtführerinnen und Stadtführer wieder ein eigenes Einkommen erwirtschaften und Interessierten ihre Stadt aus der Perspektive von Armutsbetroffenen und weniger Privilegierten zeigen. Buchen Sie einen Sozialen Stadtrundgang direkt hier: surprise.ngo/stadtrundgang AJA

This article is from: