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Theater
Abstandsregeln? In «Very Important» kommt uns der Schauspieler ganz nah – am Bildschirm.
Lesung im Plexiglaskasten: Brandy Butler im «Performance Supermarket» des Theater Neumarkt.
Pfannenmüller rennt raus
Theater Abstandsregeln sind eine schwierige Sache, wenn Nähe und Distanz Mittel des Ausdrucks sind.
TEXT DIANA FREI
Meinen Jeton habe ich eingeworfen, langsam ruckelt ein Vorhang auf. Im Plexiglaskasten vor mir sitzt Brandy Butler, Soul-Sängerin, Performerin, Aktivistin, Afroamerikanerin, Ensemblemitglied am Theater Neumarkt. Wir sind drei, die in der Lesung sitzen, aber wir sind je allein in unserem Raum, abgeschirmt von den anderen. Mir gegenüber, ich sehe ihn durch den Plexiglaskasten hindurch, sitzt ein älterer Herr. Brandy Butler liest «Invisible Man» des afroamerikanischen Autors und Jazz-Musikers Ralph Ellison. Draussen im rea len Leben wird gegen Rassismus demonstriert. Der «unsichtbare Mann» im Buch ist ein schwarzer Mann – sozial unsichtbar, weil er von den Weissen nicht wahrgenommen wird. Ein intimer Moment. Die Schauspielerin, diese Geschichte und ich. Gegenüber der Mann. Was er sich wohl überlegt? Folgt er der Geschichte? Was hält er von den Demos draussen?
Meine Wahrnehmung stapelt sich in drei Schichten. Ich wühle hypothetisch im Hirn des älteren Herrn herum und verstricke mich dabei in eigenen Vorurteilen (Ist das jetzt ein weisser alter Mann?), versuche mich auf das Englisch der Lesung zu konzentrieren und bin – ganz bei mir – mit der Absurdität beschäftigt, auf Anraten des Kassenpersonals eine Maske zu tragen, obwohl ich alleine hier sitze. Ich spiegle mich links und rechts, ich möchte ein Selfie schiessen und tue es nicht, weil ich mich schäme vor dem alten Mann, der mich genauso beobachten kann wie ich ihn. Und Brandy Butler? Brandy Butler ist eine Wucht. Nach 15 Minuten schliesst sich der Vorhang, obwohl die Lesung noch nicht zu Ende ist. Die Vorstellung geht ohne mich weiter – was für ein Gefühl. Das war die erste Vorstellung des «Performance Supermarket» im Theater Neumarkt.
«Der ‹Supermarket› ist eine mögliche Antwort darauf, wie wir unter Schutzkonzepten wieder zusammenkommen können. Der Lockdown war zwar ein Schock, aber auch eine sehr produktive Phase», sagt Tine Milz, mit Hayat Erdog ˘ an und Julia Reichert eine der drei Co-Leiterinnen des Theater Neumarkt in Zürich. Normalerweise reden ein paar Schaupielerinnen und Schauspieler zu oder vor einem Pub likum von vielleicht 50, vielleicht 500 Leuten – einer Masse, die schweigt und dann irgendwann applaudiert. Der Raum ist im Theater ein zentrales Element. Er definiert die Beziehung von Spielenden und Publikum. Nähe und Distanz sind inhaltliche Kategorien, auf der Bühne wie im Zuschau
«Wir können mit den Schutzmassnahmen spielen», sagt Tine Milz (rechts) vom Direktorinnen-Trio des Theater Neumarkt (links und Mitte: Hayat Erdog˘ an und Julia Reichert).
erraum. Nun ist da plötzlich ein Virus, das Abstandsregeln definiert und Raumkonzepte vorschreibt.
Wie geht ein Theater damit um? Eigentlich ist das eine spannende Ausgangslage. Tine Milz sieht das genauso. «Das Neumarkt hat keinen klassischen Theaterraum, in dem Bühne und Zuschauerraum fix sind. Wir können mit den Schutzmassnahmen spielen», sagt sie.
Das Virus als Brandbeschleuniger
Wenn nun so etwas wie ein Corona-Theater am Entstehen ist, gehört auch die Neuentdeckung der digitalen Bühne dazu. Die Online-Produktion «Very Important: This is About Theatre» ist in Zusammenarbeit des Theater Neumarkt mit dem Theaterhaus Jena entstanden. Der Schauspieler Leon Pfannenmüller und der Videokünstler Thomas Taube haben ein dreiteiliges Projekt entwickelt, das eigentlich trockene Bühnentheorie verhandelt – aber anschaulich und temporeich. Pfannenmüller zeigt, dass der Raum in der Beziehung zu einem Baby auf dem Arm ein anderer ist als die zwanzig Meter bis zur Zuschauerin in der hintersten Reihe, die sich auch noch angesprochen fühlen will. Und wenn der Schauspieler dann ganz nah zur Kamera kommt und mir ins eigene Wohnzimmer blickt, spüre ich plötzlich jeden einzelnen Zentimeter zwischen Bildschirm und mir auf dem Sofa. Dann reisst Pfannenmüller aus dem Theaterraum aus, er schlägt die Tür des Hintereingangs auf und rennt, über den Theaterraum referierend, hinein in die Stadt, während die Passanten ab und an ihre eigene Meinung zur Problematik der Guckkastenbühne hineinrufen oder ein offeneres Theater fordern. Pfannenmüller rennt raus aus der Blackbox, raus aus der abgeschirmten Denkblase, raus aus alten Hierarchieverhältnissen. «Es ist an der Zeit, die Schwellen abzubauen, die das Theater für viele immer noch hat», sagt Tine Milz.
Gerade jetzt hat das Coronavirus eini ges an die Oberfläche gespült, mit dem sich Theater grundsätzlich beschäftigt – gesellschaftliche Themen wie Gerechtigkeit, Solidarität, gesellschaftliche Teilhabe. Eigentlich ist Theater eine ständige Wertediskussion. Dass Antirassismus oder auch die Geschlechterfrage intensiver diskutiert werden als auch schon, ist kein Zufall. Das Gespür dafür, dass sich gesellschaftliche Bedingungen auf verschiedene Gruppen unterschiedlich auswirken, ist in der Corona-Krise in vielen Köpfen angekommen. «Spannend ist jetzt, sich zu fragen, was die Themen sind, die das Virus noch mehr offengelegt hat. Es ist eine Art Brandbeschleuniger, der auf alle bestehenden Konflikte draufgekippt wurde», sagt Milz. «Wir wollen versuchen, die Aufmerksamkeit jetzt wieder auf die Konflikte an sich zu lenken. Die Antirassismus-Proteste zeigen, wie problematisch bereits die Normalität war. Wir wollen gar nicht zurück in die gesellschaftliche Normalität vor der Corona-Krise.»
Leinwände, die miteinander sprechen
Auch formal ist jetzt die Zeit, etwas auszuprobieren. Das fänden auch viele freie Gruppen, mit denen er zusammenarbeite, sagt Manuel Bürgin, Leiter des Zürcher Theater Winkelwiese. Mischformen aus analogem Vorstellungsbetrieb und Verlagerung ins Netz werden ausprobiert. Das kann ein Stück sein, das einerseits auf einem Youtube-Kanal in Form von Mini-Clips stattfindet, die wiederum auf eine Live-Situation im Theaterraum verweisen. Aber auch ein klassisches Stück unter Corona-Bedingungen umzusetzen, bedarf neuer, grundsätzlicher Überlegungen. Manuel Bürgin will im Juni einen Test für eine eigene Regiearbeit machen: «Ein Projekt, das eigentlich analog angedacht war und für das wir jetzt eine Umsetzung mit Video testen wollen.» Das Equipment und den Proberaum stellt das Theater Neumarkt zur Verfügung. Auch das ist eine Neuerung, die die Krise gebracht hat: Die Zürcher Theaterszene ist näher zusammengerückt. In einer gemeinsamen Zoom-Sitzung – vom Schauspielhaus bis zum Kleintheater waren alle dabei – hat man sich ausgetauscht: über Ängste, Ideen, Organisatorisches und praktische Hilfestellungen.
Die Produktion, der Bürgin eine neue Form geben will, ist ein Dialogstück zwischen zwei Figuren auf einem Kreuzfahrtschiff. «Wir haben uns gefragt, ob es möglich wäre, dieses Stück komplett ohne physische Präsenz der Darstellenden umzusetzen. Sondern nur über zwei Screens, über die die Figuren miteinander im Dialog sind. Aber mit dem ganzen Theaterapparat, Nebel, Licht, Musik, und dem Publikum zwischen diesen Leinwänden.» Die Testaufnahmen sollen Fragen klären, die bei digitalen Formaten immer eine Rolle spielen: Was für eine Wirkung haben die Schauspieler auf der Leinwand? Macht es Sinn, dass ich dafür ins Theater gehe, oder könnte ich es auch am Fernsehen angucken? Und letzten Endes: Wie kann man den Ort Theater neu definieren? «Vielleicht findet ein klassisches Theaterpublikum: Ist das überhaupt noch Theater?», meint Bürgin und fügt an: «Ich interessiere mich sehr dafür, wie Präsenz im Theaterraum neu verhandelt werden kann. Ich glaube nicht, dass Theater in zehn Jahren noch so aussehen wird wie jetzt. Es gibt viel Potenzial, das noch irgendwo schlummert und entdeckt werden will.»
Der Autor auf dem Sprungbrett
Vor zwanzig Jahren hätten wahrscheinlich auch Online-Vorstellungen noch nicht so ausgesehen wie heute: Im Digitalprogramm des Zürcher Theater Gessnerallee hielt die britische Gruppe Heart of Glass «A slow conference for a fast evolving crisis» ab – eine langsame Konferenz über eine sich schnell entwickelnde Krise. Es ging darum, was mit marginalisierten Gruppen in der Krise passiert. Die On line-Gäste bewegten sich mit ihrer Arbeit in einem Bereich, in dem sich Kunst und
Theater im Gang statt auf der Bühne: Mit dem Raum spielte die Winkelwiese schon immer.
«Theater wird in zehn Jahren nicht mehr gleich aussehen.»
MANUEL BÜRGIN, LEITER THEATER WINKELWIESE Sozialarbeit vermengen. In der Seitenleiste bekam ich laufend weiterführendes Material zum Geschehen: Buchtitel, Essays der Gesprächsteilnehmenden, Links zu ihren Instagram-Accounts, www-Adressen. Ich wurde Teil einer Interessengruppe, die sich für ein ganz bestimmtes Thema engagiert. Auch die Kaserne Basel nutzte die Zeit für Lecture Performances: In einem Projekt der argentinischen Künstlerin Lola Arias präsentierten internationale Künstlerinnen und Künstler ihre Recherche- und Arbeitsmaterialien und stellten ihre Methoden zur Diskussion. Ich hätte mich über Zoom live mit den Künstlerinnen austauschen können. Und wäre damit Teil der Performance geworden.
Was auffällt: Online werden nicht nur Geschichten erzählt – natürlich gab es auch die integrale «Wozzeck»-Inszenierung am Opernhaus –, sondern spielerische Theorie mit relativ hohem Abstraktionsgrad und politischer Haltung wird vermittelt. Es sind künstlerische Formen von Aktivismus.
Mit Corona hat diese Tendenz hin zum Aktivistischen vordergründig nicht viel zu tun. Sie kam schon vor mehreren Jahren in der freien Szene auf und findet seither immer stärker auch in den Institutionen ihren Platz. Trotzdem wird sie zurzeit verstärkt sichtbar: Die Formate, die den Diskurs per se in den Vordergrund stellen, sind relativ leicht ins Digitale übersetzbar. Aber nochmals: Ist das noch Theater? Ja, findet Winkelwiese-Leiter Manuel Bürgin. «Das Theater ist nicht nur ein Ort der Vorstellung und des Unterhaltungsmoments, sondern auch ein Ort der Versammlung und der Öffentlichkeit. Ein Ort, wo man Stellung bezieht. Das Theater unternahm schon in der Antike den Versuch, seinen Bürgern politische Themen näherzubringen.»
Vielleicht senkt das Internet die Zugangsschwelle, vielleicht definiert die beschränkte Platzzahl die Beziehung zwischen Spielenden und Publikum neu. Vielleicht wird das Theater in den kommenden Monaten stärker zu einem öffentlichen Raum. So stellt auch der Regisseur Samuel Schwarz in Zusammenarbeit mit etlichen Kulturhäusern ab Juli die «Corona-Stage Max Frisch Badi» auf die Beine. Im Zürcher Freibad Letzigraben, erbaut von Max Frisch, werden Bade- und Theatergäste verschiedensten Inszenierungen begegnen. Kann sein, dass in diesem Sommer also ab und zu mal ein Autor auf dem Sprungbrett steht und eine Lesung abhält.