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Sucht

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Vor Gericht

Vor Gericht

Sucht Vor mehr als 25 Jahren zwang die Platzspitz-Krise die Schweiz zu einer progressiven Drogenpolitik. Doch mit den Elendsbildern verschwand auch der Handlungsdruck. Nun ist der nächste Schritt längst überfällig.

Einen Schritt nach vorne wagen

Kokain Entkriminalisierung, kontrollierte Abgabe und mehr Prävention - so möchten Basler Politikerinnen und Politiker wieder Bewegung in die Schweizer Drogenpolitik bringen.

TEXT SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATIONEN

IVANO TALAMO

Im November letzten Jahres reichte eine parteiübergreifende Gruppe rund um den BastA!-Politiker Oliver Bolliger im Basler Grossen Rat einen Vorstoss ein. Er fordert die Regierung auf, die Einführung von schadensmindernden Massnahmen bei Kokain-Abhängigkeit zu prüfen. Begründet wird der Vorstoss mit dem signifikanten Anstieg des Konsums. Immer mehr Menschen würden unter den Folgen leiden: «Arbeitsplatzverlust, Verschuldung, familiäre Trennungen, Delinquenz und verbunden damit sozialer Abstieg», so heisst es im Anzugstext. Weiter aufgeführt werden gesundheitliche Folgen wie Herzinfarkte und Schädigungen von Nase und Zähnen.

Der Vorstoss fordert unter anderem die Prüfung folgender Massnahmen: die weitgehende Entkriminalisierung des Konsums und Besitzes von Kokain im Rahmen des Eigenbedarfs, die Einrichtung einer Substitutionsbehandlung beispielsweise mit Ritalin und die wissenschaftliche Begleitung derselben sowie grossangelegte Sensibilisierungskampagnen. «In der Fachwelt bis hin zu Anwälten, die hochverschuldete Klienten mit Kokain-Abhängigkeit vertreten, ist man sich einig, dass längst hätte gehandelt werden müssen», sagt Oliver Bolliger im Gespräch. Doch seit die offene Drogenszene durch die Einführung der Substitutions- und heroingestützten Behandlung ab Mitte der 1990erJahre verschwunden sei, fehlten die entsprechenden Bilder, der gesellschaftliche Druck. «Damals war die Schweiz international in den Schlagzeilen. Das Elend vom Platzspitz war offensichtlich. Wir mussten handeln.»

Die Dramen beim Kokain aber spielten sich, anders als damals beim Heroin, vor allem im Privaten und im Nachtleben ab. Und so gab es bisher wenig Grund für die Politik, die enorme Kluft zwischen wissenschaftlichem Kenntnisstand und politischer Umsetzung schliessen zu wollen. Wohl auch weil man «mit dem Thema Sucht keine politische Karriere» macht, so formuliert es Bolliger. Der 49-Jährige hat zwanzig Jahre lang in der Suchtarbeit gearbeitet, war Leiter des Beratungszentrums der Suchthilfe Region Basel und ist damit eines der wenigen Bindeglieder zwischen Fachwelt und Politik.

Längst nimmt die Schweiz im Vergleich zu Ländern wie Portugal keinen führenden Platz im progressiven Umgang mit Rauschmitteln mehr ein. Dort wurde 2001 der Besitz sämtlicher Substanzen entkriminalisiert. Die portugiesische Reform gilt als Erfolg, vor allem im europaweiten Vergleich der Zahl jugendlicher Konsumenten steht Portugal gut da: Was nicht illegal ist, hat offenbar auch weniger Reiz. Derweil ruht sich die Schweiz auf ihrer ehemaligen Vorreiterinnenrolle aus und hat seit der Bewältigung der Platzspitz-Krise neben dem Drug-Checking, also der registrierungsfreien Substanzanalyse und Aufklärung für Partydrogen-Konsumenten, nur wenige drogenpolitische Neuerungen eingeführt.

Nun aber könnte Bewegung in die Sache kommen. Gerade rechtzeitig, denn die Gruppe derer, die mit einem kontrollierten Heroinkonsum oder einer Substitution leben und vom Erfolg der Schadensminderung erzählen können, wird immer älter und kleiner. Wird jetzt der Übertrag des Erfolgsmodells auf den heutigen Bedarf politisch verpasst, droht die Zusammenstreichung der existierenden Programme und damit die Gefahr neuer Elendsszenarien. Denn dass die Menschen Rauschmittel konsumieren und ein gewisser Prozentsatz dabei eine problematische Abhängigkeit entwickelt, lässt sich auch mit harschen Mitteln wie Null-Toleranz-Politik oder Prohibition nicht verhindern – das zeigt die historische Erfahrung.

Surprise Talk:

Redaktorin Sara Winter Sayilir spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk

Kein Junkie von der Ecke

Heroin Nicole Merz ist abhängig. Die 50-Jährige ist ausserdem: voll berufstätig, alleinerziehende Mutter und regelmässig in den Ferien. Ihr gutes Leben verdankt sie auch der einstmals mutigen Schweizer Drogenpolitik.

TEXT SARA WINTER SAYILIR

«Bei meinem Chef, denke ich, würde sich nichts verändern.» Seit über zwanzig Jahren arbeitet Nicole Merz in ihrer jetzigen Firma, die grossgewachsene Frau mit den langen Haaren fühlt sich wohl dort. Sie sind zu fünft im Team, sie und vier Männer. «Wir kennen uns schon so lange, das ist schon eine Freundschaft geworden, die uns verbindet.» Aber wenn es um ihre Gesundheit geht, möchte Merz ihren Namen und manches Detail lieber nicht ge druckt lesen. «Ich möchte einfach nicht mein Leben riskieren.»

Nicole Merz ist heroinabhängig. Genauso lange, wie sie in ihrer Firma arbeitet, ist sie auch Patientin in einem Zentrum für die heroingestützte Behandlung von schwer Opioid-Abhängigen. Darüber redet sie nur in Ausnahmefällen. «Das ist eine medizinische Sache, die niemanden etwas angeht», sagt Merz. «Du sagst es den Leuten ja auch nicht, wenn du Hämorrhoiden hast.» Ein bisschen Trotz liegt in ihrer Stimme. Sie weiss wohl, dass der Vergleich hinkt: die Drogensucht und die unangenehme Darmkrankheit. Aber das Stigma nervt sie, das mit einer Suchterkrankung verbunden ist. «Ich bin ein normaler Mensch, der ein gesundheitliches Problem hat und dafür ein Medikament bekommt.»

In den ganzen zwanzig Jahren ist Merz auf dem Weg zur Abgabestelle nur selten jemandem begegnet, den sie kannte. Dann sei sie einfach eine Extrarunde um den Block gelaufen. «Aber ich schaue natürlich gut, wenn ich raus- oder reingehe, wer in der Nähe ist.» Ein bisschen Angst bleibt immer. Für den Fall der Fälle hätte sie eine Ausrede parat: «Eine Freundin schafft dort oder so.» Dass sie selbst süchtig sei, würden ihr die meisten Leute aus ihrer Umgebung eh nicht unterstellen, vermutet sie. «Es ist schon eine Art Doppelleben. Aber hat nicht jeder Mensch etwas, das er nicht allen auf die Nase binden möchte?»

Nur wenige wissen Bescheid

Und trotzdem redet sie jetzt darüber. «Ich möchte den Leuten zeigen, dass Menschen, die mit Drogen zu tun haben, nicht nur die Junkies sind, die in der Ecke hocken.» Bis zum Lockdown ging Nicole Merz einmal am Tag in die Abgabestelle und bekam dort ihre abendliche Dosis flüssiges Diaphin, so heisst Heroin als Medikament. Für den Morgen nahm sie Tabletten mit, für maximal zweieinhalb Tage. Das dürfe nicht jede, sagt sie. Arbeit und ein stabiler Lebenswandel sind die Voraussetzung. Seit den Pandemiebestimmungen darf Merz ihre Pillen neu sogar für eine ganze Woche beziehen, 1 pro Woche. «Erst wusste ich gar nicht, was ich mit all der dazugewonnenen Zeit anfangen soll», sagt sie und lacht. Mittlerweile hofft sie, dass man ihr den gesetzlich hochregulierten Bezug von Diaphin auch dauerhaft in Wochenrationen zutraut. Sie schätzt ihre neue Freiheit. Und es macht sie sauer, wenn andere Patienten etwas aus der Abgabestelle rausschmuggeln und damit das Wohlwollen der Mitarbeitenden auf die Probe stellen. Wo sie selbst so viel Kraft und Selbstdisziplin in ihren Emanzipationsprozess gesteckt hat. Solange Merz noch täglich hingehen musste, hat sie sich auf der Arbeit immer etwas einfallen lassen, warum sie abends immer genau zur gleichen Zeit ging. «Ein Glück, hatte ich seit Jahren die Aufgabe, kleine Botengänge zu machen.» Manchmal habe sie ihre Tochter vorgeschoben. Wenn es dann doch mal ein Geschäftsessen gab, bat sie am Tag zuvor um mehr Tabletten. Spontan sein konnte sie nicht. Ob sie spritze oder Tabletten schlucke, mache für sie keinen Unterschied mehr, sagt Merz. Es geht ihr nicht mehr um den Rausch, der beim oralen Konsum kaum zu spüren ist. Sie hatte auch nie Beikonsum, seit sie in der heroingestützten Behandlung ist, also keine weiteren Substanzen genommen. Abgesehen vielleicht von einem gelegentlichen Glas Wein beim Firmenessen oder mit Freunden. «Aber wenn ich keine Lust habe, fällt es mir überhaupt nicht schwer, Nein zu sagen», sagt Merz. Mit dem in der Partyszene weit verbreiteten Kokain habe sie seit 35 Jahren nichts mehr zu tun, das habe sie schon zu ihrer Zeit auf der Gasse schlecht vertragen. «Bei uns im Geschäft ist das zum Glück kein Thema. Ich hätte da aber auch viel zu viel Angst, es wieder zu nehmen.»

Nur ihr engster Familienkreis weiss Bescheid: ihr Vater, ihre Mutter, der ebenfalls abhängige Vater ihrer Tochter, von dem sie getrennt lebt. Und wie steht es mit der mittlerweile zum Teenager herangereiften Tochter? «Sie weiss, dass ich und ihr Vater immer an denselben Ort müssen. Ob sie weiss, was genau wir da tun, kann ich nicht sagen. Wenn sie eines Tages nachfragt, werden wir es ihr sagen, das ist klar.» Als Mutter hat Nicole Merz mit ihrer Tochter eine Abmachung getroffen: Wenn sie sich bis 18 von Alkohol & Co. fernhält, bezahlt sie ihr den Führerschein. Und Autofahren findet ihre Tochter richtig cool.

Nicole Merz auch. Allerdings wurde ihr der Führerschein schon vor langer Zeit abgenommen, das war noch zu Gassenzeiten. Damals hatte sie gedealt, um ihren Eigenkonsum zu finanzieren. «Für den Führerschein würde ich einiges tun», sagt sie heute. Solange sie in der heroingestützten Behandlung ist, kann sie diesen jedoch nicht wiedererwerben, dafür müsste sie dauerhaft auf Methadon oder ein anderes Substitut umsteigen. Zudem kostet der Führerschein viel Geld. «Bisher gab es immer irgendetwas, wofür ich das Geld dringender ausgeben musste», sagt Merz. Finanzielle Sorgen hat sie keine. Merz hat eine abge schlossene Ausbildung und verdient einen «normalen kaufmännischen Lohn» gemäss Alter und Dienstdauer. Und sie ist stolz darauf, dass sie immer gearbeitet hat – anders als ihre Mutter, die bis heute finanziell vom Vater abhängig ist, obwohl die Ehe seit Langem nur noch auf dem Papier besteht. Die Mutter hatte für die Familie ihre Karriere aufgegeben.

Früher waren sie mal reich. Besser gesagt: ihr Vater verdiente viel Geld mit halblegalen Finanzgeschäften. Aus dieser Zeit stammt auch das Haus im Süden, das Nicole Merz gemeinsam mit ihrer Mutter und der Tochter nutzt. Offiziell gehört es einer

Schweizer Suchtpolitik

Mit dem ersten Massnahmenpaket Drogen von 1991 reagierte der Bund auf die offenen Drogenszenen in verschiedenen Städten (z.B. am Zürcher Platzspitz und Letten) und entwickelte eine neue, nicht mehr ausschliesslich auf Abstinenz zielende Drogenpolitik. Er basiert auf den vier Säulen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression, die 2008 im Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (Betäubungsmittelgesetz) festgeschrieben wurden. Mit der Viersäulenpolitik sind die offenen Drogenszenen verschwunden, neue Ansätze in der Therapie und Schadensminderung wie die Heroingestützte Behandlung (HeGeBe) haben sich seither etabliert und das körperliche und soziale Leid vieler suchtkranker Menschen gelindert. Drogenabhängigkeit wurde als Krankheit anerkannt und passende Hilfsstrukturen aufgebaut. der vielen Firmen des Vaters, von dem sie nicht wissen, wo er sich gerade aufhält. Das Glück ihrer Mutter ist Merz wichtig. «Sie ist jetzt 78, sie verbringt zeitweise den Winter im Süden, damit ihr hier nicht die Decke auf den Kopf fällt.» Die Mutter leidet unter Depressionen, seit sie herausfand, dass der Vater sie über Jahre mehrfach betrogen hatte. «Er ist sogar fremdgegangen in der Nacht, in der ich auf die Welt gekommen bin, und auch danach noch», sagt Merz. «Er war eigentlich nie da.»

Nicht für die Mutter, nicht für die Kinder. Eine Zeitlang wurde der Vater sogar wegen seiner kriminellen Machenschaften gesucht. «Er ist damals aus der Schweiz ausgereist und – das war fast wie im Krimi – niemand durfte etwas wissen. Meine Mutter hockte mit uns Kindern in unserem Haus in diesem Dorf.» Ihren unguten Höhepunkt erreichte die familiäre Zwangslage, als Merz die Mutter volltrunken mit aufgeschnittenen Pulsadern zuhause fand. Damals war sie siebzehn.

Am Ende war die Sucht stärker

Es war zu dieser Zeit, dass Nicole Merz erstmals harte Drogen probiert. Jemand bot ihr Methadon an, «das fand ich ganz toll, man fühlt sich so geborgen». Bald landet sie auf dem Platzspitz in Zürich, nimmt das erste Mal Heroin. Nicole Merz mag das Zeug nicht schnupfen, das findet sie eklig, «spritzen fand ich sauber und simpel». Sie denkt, das mit der Abhängigkeit habe sie im Griff, merkt aber auch schnell irgendwo tief drinnen, dass sie sich etwas vormacht. «Ich gebe niemandem die Schuld. Es ist ein Zusammenspiel von vielem. Und die falschen Leute im falschen Moment. Die, anstatt dir ein bisschen zuzuhören, dir etwas geben und sagen, damit täte es weniger weh.»

Nach etwa zwei Jahren finden die getrenntlebenden Eltern heraus, dass Merz Heroin nimmt. Sie versuchen auf verschiedene Weise, die Sucht der Tochter in den Griff zu kriegen. Zahlreiche Therapien, verschiedene Ansätze: Immer wird Merz rückfällig. Ein Programm folgt auf das nächste, und immer wieder ein kalter Entzug. Keine der Abstinenztherapien, die Nicole Merz im Laufe ihrer Drogenkarriere durchläuft, ist erfolgreich. Dabei bereut Merz ihre Rückfälle, einmal weint sie drei Tage lang, nachdem sie aus einem Programm ausgeschlossen wird. Sie schafft es auch mal, eine Zeitlang clean zu bleiben, am Ende ist die Sucht immer stärker. Erst als sie mit Ende zwanzig ihren Job verliert, fühlt sie sich am absoluten Tiefpunkt angekommen. Sie leidet an einer unentdeckten Blutarmut und landet schliesslich mit einer Blutvergiftung im Spital. «Ich bin damals ganz knapp am Tod vorbeigeschrammt.» Kurz darauf bekommt sie einen Platz in der neu eingeführten heroingestützten Behandlung. Und beginnt ihren neuen Job, in dem sie heute noch arbeitet. Das war 1999.

Seitdem ist viel Zeit vergangen, nach der Gasse hat sich Merz nie gesehnt. Lange hat sie sich unter Druck gesetzt, ganz aussteigen zu müssen, abstinent zu werden. Vor vier Jahren hätte sie deshalb fast ein Burn-out erlitten, dazu noch die pubertierende Tochter, der Fulltime-Job. Seither nimmt sie einmal die Woche ein heisses Bad. Das versteht sie unter: sich selbst mal etwas Gutes tun. Und Merz versucht, sich weniger unter Druck zu setzen. «Aber es ist ein bisschen wie mit dem Rauchen aufzuhören. Das hab’ ich auch zweimal versucht, und wieder angefangen. Es ist irgendwie ein Prozess. Und es muss klick machen.» Ihr neues Ziel ist, nicht noch weitere zwanzig Jahre in die Abgabestelle laufen zu müssen.

«Wir verharren im Stillstand»

Behandlung Entkriminalisierung, Aufklärung und Pragmatismus würde sich auch der Suchtmediziner Philip Bruggmann im Umgang mit Drogen in der Schweiz wünschen. Wissenschaftlich spricht vieles dafür.

INTERVIEW

SARA WINTER SAYILIR

Philip Bruggmann, welche Rolle spielt Heroin heute noch?

Unter unseren Neueintritten haben wir relativ wenige junge Leute mit Heroinabhängigkeit. Schaut man sich die Zahlen an, ist heutzutage Kokain viel bedeutender. Gerade in den grossen Städten hat es sich als Party- und Leistungsdroge etabliert, die relativ einfach zugänglich ist. Heroin hat eher das Image einer Loser-Droge. Aber wir wissen nie, was kommt. Ich erinnere an die Opioid-Krise in den USA. Wir haben keine Gewissheit, dass so etwas in der Schweiz in einem kleineren Ausmass nicht auch vorkommen könnte.

Seit der Einführung der heroingestützten Behandlung mit dem Schwerpunkt auf Schadensminderung vor fast dreissig Jahren ist in der Schweiz suchtpolitisch aber nicht mehr viel Innovatives passiert. Braucht es sichtbares Elend, um vorwärtszukommen?

Die Misere und das Elend der offenen Drogenszene in den Acht ziger- und Neunzigerjahren waren entscheidend dafür, dass alle politischen Lager von einer pragmatischen Drogenpolitik überzeugt werden konnten, wie sie dann mit der heutigen Viersäulenpolitik ins Leben gerufen wurde. Derzeit ist wohl der Leidensdruck tatsächlich zu gering, um wieder innovativ zu sein. Das ist ein grosses Problem.

Inwiefern?

Lange ist die Schweiz in der Suchtpolitik führend gewesen, nun droht sie Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Weil wir Men schen mit einer Suchterkrankung so gut versorgen, fallen sie auf der Strasse nicht mehr auf. Dadurch verschwindet das Thema aus dem Sorgenbarometer der Bevölkerung und damit auch aus der Politik. Also verharren wir in einer Art Stillstand. Ein Stich wort ist der Umgang mit Cannabis. Hier wäre eine Regulierung und Legalisierung dringend angezeigt.

Warum?

Schauen wir zum Beispiel nach Portugal. Dort wurde 2001 beschlossen, den Eigenkonsum sämtlicher Rauschmittel nicht mehr zu bestrafen. So können Personen mit einem Drogenkonsum besser für medizinische und Präventionsangebote erreicht werden und laufen nicht Gefahr, sich durch einen Gesetzesverstoss nachhaltig ihr Leben zu verbauen. Das wäre auch in der Schweiz relativ einfach umsetzbar.

In Basel wurde im November ein Vorstoss lanciert, der unter anderem darauf abzielt, die Möglichkeit der Entkriminalisierung und der Einrichtung einer Substitutionstherapie für Kokainabhängige zu prüfen.

Ich kenne den Vorstoss aus Basel. Allerdings klingt er für mich ein wenig laienhaft.

Warum?

In dem Vorstoss wird die Substitution von Kokain mit Methylphenidat vorgeschlagen, vielen ist dies als Ritalin bekannt. Es gibt allerdings keine Daten, die zeigen, dass dies bei Menschen ohne ADHS funktionieren könnte. Zudem ist die Substitutions therapie oder kontrollierte Abgabe bei Opioiden inklusive Heroin ja vor allem deshalb machbar, weil die Süchtigen ab einer gewis-

sen Dosis merken, dass es genug ist. Zu hohe Dosen sind unangenehm, während es sich bei Überdosen in der Regel um Unfälle handelt. Bei Kokain, das nicht zu den Opioiden gehört, kommt es hingegen eher zu Exzessen, da die Substanz so wirkt, dass man immer mehr möchte. Kokain lässt sich schlecht auf eine bestimmte Dosis einstellen.

Solche Kokainexzesse können zu hoher Verschuldung führen, was wiederum Arbeitsplatzverlust oder Ehescheidungen nach sich ziehen kann. Schadensminderung ist also auch hier ein grosses Thema. Wie sollte sich der Staat verhalten?

Aus meiner Sicht sollte man viel mehr in Richtung Entkrimina lisierung und Entmedizinialisierung hinwirken. Gerade beim Kokain, das ja bereits jetzt breit konsumiert wird. Es ergibt keinen Sinn, dass jeder, der Kokain konsumiert und es im Griff hat, dafür zum Arzt muss. Es wäre sinnvoller, wenn das Kokain zentral an einer Stelle bezogen werden könnte, wo man dann auch eine entsprechende Beratung erhielte. Dadurch bekämen die dort arbeitenden Fachpersonen auch mit, wer möglicherweise Probleme mit dem Konsum hat, sodass diesen Risikokonsumierenden gleich eine medizinische oder psychologische Begleitung empfohlen werden könnte. Aus meiner Sicht sollte die Politik eher in diese Richtung gehen.

Kontrollierte Abgabe von Drogen für alle?

Bei Jugendlichen muss man natürlich anders vorgehen, in einem gewissen Alter werden Gefahren nicht so gesehen. Gleichzeitig ist die Illegalität, zum Beispiel bei Cannabis, ein nicht zu unterschätzender Faktor für das Interesse der Jugendlichen. Ich glaube nicht, dass man bei einer Regulierung noch mehr kiffende Jugendliche hätte, als wir jetzt schon haben. Würde man die Substanzen hingegen in der Apotheke abgeben, könnte man beim Verkauf direkt Aufklärung betreiben und Präventionsmaterial verteilen. Das gibt es jetzt beim Dealer natürlich nicht.

Wie viel Prozent der Konsumenten rutschen in die Abhängigkeit?

Bei den meisten Substanzen sind es etwa so zehn bis fünfzehn Prozent, beim Heroin etwas mehr. Auch beim legal erhältlichen Alkohol sind es etwa zehn Prozent, wobei dabei natürlich die absolute Zahl derer, die konsumieren, wesentlich höher liegt als beispielsweise beim Kokain. Das bedeutet auch, dass Alkoholabhängige für die öffentliche Gesundheit ein viel grösseres Problem darstellen.

Hat denn die Einführung der Substitution und der heroingestützten Behandlung 1994 zu einem Anstieg an Abhängigen geführt?

Nein, diese Ängste sind nachweislich unbegründet. Es gab damals im Vorfeld diese Befürchtung, sie ist aber nicht eingetroffen.

Philip Bruggmann, 49, hat in Zürich Medizin studiert. Seit 2003 arbeitet er beim Arud Zentrum für Suchtmedizin in Zürich, seit 2009 als Chefarzt Innere Medizin. Am Institut für Hausarztmedizin des Universitätsspitals Zürich hat er sich 2016 habilitiert.

7,7 Liter

Alkohol konsumierten die Schweizerinnen und Schweizer im Jahr 2018 pro Kopf, das sind 2,4 Liter weniger als 1992. 33,8%

der Schweizer Wohnbevölkerung ab 15 Jahren haben schon einmal in ihrem Leben Cannabis konsumiert. 50200

Personen in der Schweiz haben in den letzten zwölf Monaten Kokain konsumiert. 136

Menschen kamen im Jahr 2016 drogenbedingt zu Tode.

Entwicklung der Erstbehandlungen (2013–2018)

1400

1200 Alkohol

1000

800

600 Cannabis

400

200

0

2013 2014 2015 2016 2017 * Opioide: Heroin, Methadon (missbräuchlich),

Buprenorphin (missbr.), Fentanyl, andere Opioide ** Kokain: Kokain-Pulver, Crack-Kokain, anderer Kokain-Typ Kokain** Opioide*

2018

Entwicklung der Anzahl der Erstbehandlungen für Suchtprobleme, nach Hauptproblem (ausschliesslich Einrichtungen mit konstanter Datenlieferung über die Beobachtungszeit 2013–18)

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