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Sucht Vor mehr als 25 Jahren zwang die Platzspitz-Krise die Schweiz zu einer progressiven Drogenpolitik. Doch mit den Elendsbildern verschwand auch der Handlungsdruck. Nun ist der nächste Schritt längst überfällig.

Einen Schritt nach vorne wagen Kokain Entkriminalisierung, kontrollierte Abgabe und mehr Prävention - so möchten Basler

Politikerinnen und Politiker wieder Bewegung in die Schweizer Drogenpolitik bringen. TEXT  SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATIONEN  IVANO TALAMO

Im November letzten Jahres reichte eine parteiübergreifende Gruppe rund um den BastA!-Politiker Oliver Bolliger im Basler Grossen Rat einen Vorstoss ein. Er fordert die Regierung auf, die Einführung von schadensmindernden Massnahmen bei Kokain-Abhängigkeit zu prüfen. Begründet wird der Vorstoss mit dem signifikanten Anstieg des Konsums. Immer mehr Menschen würden unter den Folgen leiden: «Arbeitsplatzverlust, Verschuldung, familiäre Trennungen, Delinquenz und verbunden damit sozialer Abstieg», so heisst es im Anzugstext. Weiter aufgeführt werden gesundheitliche Folgen wie Herzinfarkte und Schädigungen von Nase und Zähnen. Der Vorstoss fordert unter anderem die Prüfung folgender Massnahmen: die weitgehende Entkriminalisierung des Konsums und Besitzes von Kokain im Rahmen des Eigenbedarfs, die Einrichtung einer Substitutionsbehandlung beispielsweise mit Ritalin und die wissenschaftliche Begleitung derselben sowie grossangelegte Sensibilisierungskampagnen. «In der Fachwelt bis hin zu Anwälten, die hochverschuldete Klienten mit Kokain-Abhängigkeit vertreten, ist man sich einig, dass längst hätte gehandelt werden müssen», sagt Oliver Bolliger im Gespräch. Doch seit die offene Drogenszene durch die Einführung der Substitutions- und heroingestützten Behandlung ab Mitte der 1990erJahre verschwunden sei, fehlten die entsprechenden Bilder, der gesellschaftliche Druck. «Damals war die Schweiz international in den Schlagzeilen. Das Elend vom Platzspitz war offensichtlich. Wir mussten handeln.» Die Dramen beim Kokain aber spielten sich, anders als damals beim Heroin, vor allem im Privaten und im Nachtleben ab. Und so gab es bisher wenig Grund für die Politik, die enorme Kluft zwischen wissenschaftlichem Kenntnisstand und politischer Umsetzung schliessen zu wollen. Wohl auch weil man «mit dem Thema Sucht keine politische Karriere» macht, so formuliert es 8

Bolliger. Der 49-Jährige hat zwanzig Jahre lang in der Suchtarbeit gearbeitet, war Leiter des Beratungszentrums der Suchthilfe Region Basel und ist damit eines der wenigen Bindeglieder zwischen Fachwelt und Politik. Längst nimmt die Schweiz im Vergleich zu Ländern wie Portugal keinen führenden Platz im progressiven Umgang mit Rauschmitteln mehr ein. Dort wurde 2001 der Besitz sämtlicher Substanzen entkriminalisiert. Die portugiesische Reform gilt als Erfolg, vor allem im europaweiten Vergleich der Zahl jugendlicher Konsumenten steht Portugal gut da: Was nicht illegal ist, hat offenbar auch weniger Reiz. Derweil ruht sich die Schweiz auf ihrer ehemaligen Vorreiterinnenrolle aus und hat seit der Bewältigung der Platzspitz-Krise neben dem Drug-Checking, also der registrierungsfreien Substanzanalyse und Aufklärung für Partydrogen-Konsumenten, nur wenige drogenpolitische Neuerungen eingeführt. Nun aber könnte Bewegung in die Sache kommen. Gerade rechtzeitig, denn die Gruppe derer, die mit einem kontrollierten Heroinkonsum oder einer Substitution leben und vom Erfolg der Schadensminderung erzählen können, wird immer älter und kleiner. Wird jetzt der Übertrag des Erfolgsmodells auf den heutigen Bedarf politisch verpasst, droht die Zusammenstreichung der existierenden Programme und damit die Gefahr neuer Elendsszenarien. Denn dass die Menschen Rauschmittel konsumieren und ein gewisser Prozentsatz dabei eine problematische Abhängigkeit entwickelt, lässt sich auch mit harschen Mitteln wie Null-Toleranz-Politik oder Prohibition nicht verhindern – das zeigt die historische Erfahrung.

Surprise Talk: Redaktorin Sara Winter Sayilir spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk Surprise 478/20


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