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Strassenmagazin Nr. 478 26. Juni bis 9. Juli 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Junge Erwachsene, die im Heim aufgewachsen sind, werden mit 18 Jahren plötzlich alleingelassen. Viele kommen damit nicht zurecht. Seite 14


BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT, Elsässerstr. 43 BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 Les Gareçons, Badischer Bahnhof | Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 Café Spalentor, Missionstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 IN BERN Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 Café MondiaL, Eymattstr. 2b | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartier­ gasse 17 | Rest. Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 Becanto, Bethlehemstr. 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG feines Kleines, Rathaus­ gasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4­Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Quai4­Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschen­ graben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstr. 2 IN MÜNCHENSTEIN Bücher­ und Musikbörse, Emil­Frey­Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Buuremärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OLTEN Bioland Olten, Tannwaldstr. 44 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn­Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstr. 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstr. 118 Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: BODARA GMBH

Editorial

Ohne Pause Es wird immer schwieriger, den Überblick zu behalten. Kaum wurden die Pandemie-Massnahmen in der Schweiz etwas gelockert, wachsen Proteste gegen Polizeigewalt in den USA zu einer internationalen Bewegung heran. Schon ist die Debatte über Rassismus auch bei uns in vollem Gange. Dazu erinnern die Frauen an den Frauenstreik von letztem Sommer, dass es auch beim Thema Gleichstellung noch viel zu tun gibt. Währenddessen schlummert in den Hinterköpfen das Wissen über den Klimawandel und die Fridays-for-Future-Demonstrationen – auch hier ist der Lockdown nur eine kurze Atempause gewesen. Noch ist die globale Erwärmung nicht aufgehalten. Und dann die Kriege, der Hunger, die Armut ... Manchmal weiss man nicht, wo anfangen, wohin schauen, wie sich noch einlassen auf die Nachrichten. Da tut es gut, den Fokus zwischendurch einmal auf konstruktive Geschichten zu setzen, wo es zwar ebenfalls dringenden Handlungsbedarf gibt, aber auch gute Lösungsansätze. Zum Beispiel bei den sogenannten Care Leavern, jungen Men-

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Der Fotobeweis

6 Verkäuferinnenkolumne

Apotheken statt Wullelädeli

7 Die Sozialzahl

Arbeitslosigkeit in der Corona-Krise

8 Sucht

Wie man Elend verhindert

schen, deren Fürsorge mit ihrem 18. Geburtstag endet und denen mit einem gut aufgestellten Folgeangebot vielleicht um einiges besser geholfen wäre. Das Angebot müsste man machen. Warum? Lesen Sie ab Seite 14. Oder im Bereich der Drogenpolitik: Hier war die Schweiz mal progressive Vorreiterin. Nun müsste man die Idee der Schadensminderung über­ tragen von den Opioiden auf andere Substanzen, unter anderem weil sich der Trend vom Heroin zum Kokain verschoben hat. Alles eine Frage des politischen Willens, der Nutzen ist längst erprobt. Mehr ab Seite 8. Heimlich, still und leise haben wir in der letzten Ausgabe ein neues Format eingeführt, das wir schon lange als Idee und Plan mit uns herumtragen und nun endlich das Heft bereichern wird: eine Kolumne geschrieben von Verkaufenden. Geniessen Sie den zweiten Text mit grandiosen Illustrationen aus der Feder von Studierenden der HSLU auf Seite 6. SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

14 Care Leaver

Plötzlich selbständig

18 Soziale Stadtrundgänge

Obdachlos in Taiwan

22 Theater

Pfannenmüller rennt raus

25 Buch

«Wir sind im Fall viele»

26 Veranstaltungen

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27 Tour de Suisse

Pörtner in Küssnacht (am Rigi)

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Internationales Verkäuferinnen-Porträt

«Auf meine Tiere kann ich mich verlassen»

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BILDER: BENJAMIN BURGESS/K STREET PHOTOGRAPHY

Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Nebenwirkungen Seit der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 sind die Black-Lives-Matter-Demonstrationen zu einer Konstante in der Innenstadt von Washington DC geworden. Obdachlose, die dort auf der Strasse und in den Parks nächtigen, sind unterschiedlich gut auf die Dauerproteste zu sprechen, denen die Polizei erneut mit massiver Gewalt und einer abendlichen Ausgangssperre entgegentritt. Einige Obdachlose seien zwischen die Fronten geraten und verletzt worden, berichten Gassen­ arbeiterinnen und das medizinische Fachpersonal von Street Sense Media. Die erhöhte Polizeipräsenz erschwert zudem die Arbeit von Gassenküchen und anderen Hilfsorganisationen. Teilweise kämen die Mitarbeitenden mit ihren Materialien gar nicht bis an ihre gewohnten Standorte, manche mussten vorübergehend geschlossen werden. Aus einigen Städten in den USA wurden zudem gezielte Angriffe auf Obdachlose gemeldet, sowohl von Seiten der Polizei als auch von gewalt­ bereiten Demonstranten.

STREET SENSE, WASHINGTON DC

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Steigende Temperaturen

Seit Beginn der Messung von Temperaturen wurden sechzehn der siebzehn wärmsten Jahre nach 2000 verzeichnet worden. So lag die Durchschnittstemperatur im Jahr 2016 im Vergleich zur Mitte des 20. Jahrhunderts bereits um ein Grad höher. Durch die steigenden Temperaturen verschieben sich u.a. auch die Blühzeitpunkte der Pflanzen, sodass sie nicht mehr mit der Flugzeit der Insekten zusammenpassen, wie Forschende der Universität Würzburg anhand zweier Bienen­ arten gezeigt haben.

TROTT-WAR, STUT TGART

Null Fahrtkosten

Buchstäblich nichts kostet ab Frühjahr 2020 in Luxemburg die Fahrt mit Bussen und Bahnen. Damit ist der Kleinstaat weltweit das erste Land, in dem Fahrgäste den ÖV kostenlos nutzen dürfen. Die Regierung wendet 41 Millionen Euro auf, um die fehlenden Ticketeinnahmen auszugleichen. Zugleich investiert sie in eine neue Strassenbahn, auch sind mehr Radwege geplant. Der Hintergrund der Massnahmen liegt darin, dass der kleine Staat mit nur 2600 Quadratkilometern Fläche im Verkehr zu ersticken droht.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Tiefe Mindestlöhne

Deutschland hat zu tiefe Mindestlöhne. Mit 9,35 Euro liegt er deutlich unter dem aller anderen westeuropäischen Eurostaaten, die 9,65 Euro als Lohnuntergrenze gesetzt haben. Im EU-Durchschnitt deckt der Mindestlohn 51 Prozent des mitt­ leren Lohns ab, in Deutschland sind das nur 46 Prozent. Als existenz­ sichernd gelten 60 Prozent.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Vor Gericht

Der Fotobeweis Die Frau sagt, sie verstehe nicht, was ihr vorgeworfen werde. Der zuständige Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich erklärt es ihr. Sie habe sich, erstens, einen fiktiven Arbeitsvertrag in einem Restaurant in Zürich besorgt, um sich eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz zu erschleichen. Zuvor sei sie, zweitens, eine Scheinehe eingegangen, um ihrem Mann aus Bangla­ desch den legalen Aufenthalt in Europa zu ermöglichen – ebenfalls unter Hinzuziehung eines fiktiven Arbeitsvertrages. Sie ist nervös. Bei der Frage nach ihrem Geburtsdatum nennt sie das ihres Mannes. Ihr Anwalt hat eine Fotodokumentation dabei, die beweisen soll, dass die beiden wirklich ein Paar sind. Bilder von einer Reise in die Heimat ihres Gatten diesen Februar. Sie erzählt von den Menschen auf den Fotos, den Neffen, der Schwägerin, der Schwiegermutter. Nächstes Foto, aufgenommen im Spital, als sie vor acht Monaten operiert wurde. Ihr Mann sei jeden Tag vorbeigekommen. Dann Fotos von Geburtstagsfeiern. Von gemeinsamen Besuchen bei ihrer Familie in Madrid. Von Winterspaziergängen in der Zürcher Agglomeration. Und natürlich von der Hochzeit in Dänemark 2015. Am 3. September, sagt sie, sie erinnere sich gerne an den Tag. Sie putzt sieben bis acht Stunden täglich in Kinos und Restaurants. Gerade verdient sie nichts, vor Corona waren es 2700– 3000 Franken brutto. «Also nur zwei Jobs», fragt der Einzelrichter, «mehr haben Sie nicht?» Nein. Hat sie nicht. Sie wird ungehalten. «Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Was ich noch tun muss, um zu zeigen, dass wir ein normales Leben führen. Ich will nur noch, dass es vorbei ist!»

Ihr Mann hat auch «bloss» zwei Jobs, in der Küche. Verdient 5000–6000 Franken im Monat. Schickt seinen Eltern in Bangla­ desch 1200 Franken. Zahlt einen Kleinkredit ab, den er aufgenommen hat, um dem Vater eine Herzoperation zu finanzieren. Auch er ist nervös. Als er bei einem Foto gefragt wird, wo das sei, sagt er bei ihm zuhause. Darauf der Richter: «Warum sagen Sie nicht bei uns daheim?» Er lacht, sorry. Als seine Befragung vorbei ist, atmet er tief durch, das Paar schaut sich tief in die Augen. Ihr Anwalt führt aus, die beiden hätten belegt, dass sie ein gemeinsames Leben führten. Was die Staatsanwaltschaft vorbringe, nämlich dass bei einem überraschenden Polizeibesuch getrennte Betten festgestellt wurden, beweise nichts. Das Ehepaar sei in der Wohnung gewesen, das allein zähle. Und er verweist auf die neue bundesrichterliche Praxis: Demnach liegt eine Scheinehe nicht bereits dann vor, wenn ausländerrechtliche Motive die Eheschliessung beeinflusst haben. Erforderlich ist vielmehr, dass der Wille zur Führung der Lebensgemeinschaft im Sinne einer auf Dauer angelegten wirtschaftlichen, körperlichen und spirituellen Verbindung zumindest bei einem der Ehepartner fehlt. Das sieht der Einzelrichter nicht als erwiesen an. Beide Eheleute werden wegen des Vorwurfs der Scheinehe freigesprochen. Anders bei den fiktiven Arbeitsverträgen. Dort sei erwiesen, dass sie nur zum Zweck der Arbeitsbewilligungen eingegangen worden seien. Die Frau wird zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 10 Franken verurteilt, der Mann zu 90 à 50 Franken, Probezeit 2 Jahre. Wenigstens ist es jetzt vorbei.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: DIMITRI GRÜNIG

Verkäuferinnenkolumne

Apotheken statt Wullelädeli Als ich an einem 15. Juli meine neue Woh-nung in A. ausserhalb der Stadt Zürich bezogen hatte, musste ich nach vier Monaten erneut in eine Klinik, um einen Alkoholentzug zu machen. Wieder zuhau­se, traute ich mich kaum mehr aus der Wohnung. Mein langjähriger Psychiater verordnete mir eine Ergotherapie. Das war der Anfang von «wider lismä». Stricken konnte ich schon früher sehr gut, so wie alles, was ich im Handarbeitsunterricht lernen durfte. Meine Tochter hat sich aus einer dieser Fachzeitschriften, «Stricken» hiess sie, ein kleines hübsches Jäckchen gewünscht. Das war vom Schwierigkeitsgrad her nicht enorm herausfordernd für mich. Als das Jäckchen fertig war, strickte ich noch acht weitere – für alle, die in der Ergotherapie-Gruppe waren. Danach begann ich, auch die 6

schwierigen Muster zu stricken. Jetzt, nach drei Jahren, wo ich wieder stark unter meiner ADHS-Krankheit (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) leide, will ich wieder mit den schwierigsten Mustern zu stricken anfangen. Die Krankheit hat man bei mir erst sehr spät diagnostiziert. Da ich die Matura gemacht habe, ist man davon ausgegangen, dass ich nichts dergleichen haben kann, weil die Krankheit mit schlechten schulischen Leistungen in Verbindung gebracht wurde. Heute weiss man zum Glück, dass es Personen gibt, die dennoch enorm viel leisten können, weil sie sich extrem auf etwas fokussieren können. Besonders auf komplexe Dinge wie komplizierte Strickmuster. Leider musste ich feststellen, dass von den drei

Wulle­lädeli in Zürich zwei aufgegeben haben. Sucht man im Internet, findet man noch wenige Raritäten. Abgesehen davon gibt es nur noch in Oerlikon das Wollgeschäft «Passat». Nun, so muss ich halt den Weg nach Zürich Sternen Oerlikon in Kauf nehmen, da ich unbedingt wieder stricken will. Mir hilft das mehr als Ritalin und andere Medikamente. Trotzdem fällt mir auf, dass es immer weniger Wollläden gibt, dafür immer mehr Apotheken. KARIN PACOZZI, 53, verkauft Surprise in Zug. Zurzeit arbeitet sie konzentriert an einem mintgrünen Sommerpullover nach einem filigranen Strickmuster und fühlt dabei eine innere Ruhe. Die Wolle hatte zwar fast 100 Franken gekostet, aber das war es wert.

Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 478/20


wird sichtbar, dass viele der exportorientierten Unternehmen in der Schweiz keine Endprodukte herstellen, sondern Vor­ produkte, Bauteile und Serviceleistungen, die andere Unternehmen irgendwo auf der Welt benötigen.

Arbeitslosigkeit in der Corona-Krise

Die beiden Sektoren der Schweizer Wirtschaft folgen der je ­eigenen Logik, welche die weitere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt prägen werden. Im Binnenmarktsektor wird es darum gehen, wie rasch die Nachfrage trotz der vorgegebenen Schutzkonzepte wieder anziehen wird. Das hängt davon ab, wie schnell die restriktiven Auflagen gelockert werden und wie lange die Kundschaft noch Vorsicht walten lässt. Im weltmarktorientierten Sektor wird es hingegen darauf ankommen, wie schnell sich die Wirtschaft in den anderen Ländern erholen wird. Hier sind die Erwartungen der Branchenvertreter getrübt.

Der Bundesrat hat im Lockdown mit einem weitreichenden Instrumentarium auf die drohende Arbeitslosigkeit reagiert. Mit der Ausweitung der Kurzarbeit konnte eine Massenarbeitslosigkeit kurzfristig verhindert werden. Trotzdem sind die ­Arbeitslosenzahlen in die Höhe geschnellt. Ende ­April waren über 153 000 Arbeitslose bei den RAV registriert, was einer ­Arbeitslosenquote von 3,3 Prozent entsprach (in Klammern sei angemerkt, dass mit diesen Zahlen nicht das ganze Ausmass der Erwerbslosigkeit erfasst ist, weil nicht alle, die erwerbslos sind, auch Anrecht auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung haben). Schaut man sich die Statistiken nach Wirtschaftszweigen an, wird deutlich, dass in der ersten Phase ab Mitte März 2020 vor allem Firmen im Binnenmarktsektor wie Landwirtschaft, Bau, Gastgewerbe und Detailhandel vom Lockdown betroffen waren. Durch das bundesrätliche Dekret wurden zahlreiche Geschäfte geschlossen. Selbst wenn dieser Schritt nicht gemacht worden wäre, hätten diese Betriebe schlechte Aussichten ­gehabt, weil mit der dringlichen Aufforderung, daheim zu bleiben, auch die Nachfrage zusammengebrochen ist.

Die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Arbeitsmarkt werden sich erst in den kommenden Monaten zeigen. Das SECO rechnet für das Jahr 2021 mit Arbeitslosenquoten, die zwischen vier und sechs Prozent liegen. In diesen Prognosen wird nur unzureichend abgebildet, dass der Lockdown auch die digitale Transformation der Schweiz und ihrer Wirtschaft massiv beschleunigt hat. Dieser technische Strukturwandel wird weitere Arbeitsplätze kosten, aber auch neue entstehen lassen. Nur werden jene, die in diesem Umbruch ihre Stelle verlieren, kaum die neuen Jobs machen können. Die strukturell bedingte Arbeitslosigkeit wird darum über die Corona-Krise hinaus stark zunehmen.

Bis anhin ist der weltmarktorientierte Sektor, darunter die Pharmaindustrie, der Maschinenbau, die Touristikbranche und das Bankenwesen vergleichsweise glimpflich davongekommen. Die Unternehmen konnten auch im Lockdown weiter produzieren und Dienstleistungen erbringen. Allerdings mehren sich die Zeichen, dass immer mehr Aufträge storniert und geplante Investitionsvorhaben redimensioniert werden. Damit

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Arbeitslosenzahlen nach Sektor und ausgewählten Wirtschaftszweigen, Ende April 2020 20 000

Binnenmarktorientierter Sektor Weltmarktorientierter Sektor

15 000

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1561

1824

Pharma/Chemie

1853

Maschinenindustrie

3480

Uhrenindustrie

4029

Metallindustrie

Bankenwesen

153 413

9645

Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen

10 310

11 368

Detailhandel

12 236

17 457

18 419

0

Baugewerbe

5000

Freiberufliche, technische und wissenschaftliche Dienstleistungen

10 000

Gesundheits- und Sozialwesent

Total Arbeitslose

Gastgewerbe

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: STAATSSEKRETARIAT FÜR WIRTSCHAFT SECO (2020): DIE LAGE AUF DEM ARBEITSMARKT. APRIL 2020. BERN.

Die Sozialzahl

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Sucht Vor mehr als 25 Jahren zwang die Platzspitz-Krise die Schweiz zu einer progressiven Drogenpolitik. Doch mit den Elendsbildern verschwand auch der Handlungsdruck. Nun ist der nächste Schritt längst überfällig.

Einen Schritt nach vorne wagen Kokain Entkriminalisierung, kontrollierte Abgabe und mehr Prävention - so möchten Basler

Politikerinnen und Politiker wieder Bewegung in die Schweizer Drogenpolitik bringen. TEXT  SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATIONEN  IVANO TALAMO

Im November letzten Jahres reichte eine parteiübergreifende Gruppe rund um den BastA!-Politiker Oliver Bolliger im Basler Grossen Rat einen Vorstoss ein. Er fordert die Regierung auf, die Einführung von schadensmindernden Massnahmen bei Kokain-Abhängigkeit zu prüfen. Begründet wird der Vorstoss mit dem signifikanten Anstieg des Konsums. Immer mehr Menschen würden unter den Folgen leiden: «Arbeitsplatzverlust, Verschuldung, familiäre Trennungen, Delinquenz und verbunden damit sozialer Abstieg», so heisst es im Anzugstext. Weiter aufgeführt werden gesundheitliche Folgen wie Herzinfarkte und Schädigungen von Nase und Zähnen. Der Vorstoss fordert unter anderem die Prüfung folgender Massnahmen: die weitgehende Entkriminalisierung des Konsums und Besitzes von Kokain im Rahmen des Eigenbedarfs, die Einrichtung einer Substitutionsbehandlung beispielsweise mit Ritalin und die wissenschaftliche Begleitung derselben sowie grossangelegte Sensibilisierungskampagnen. «In der Fachwelt bis hin zu Anwälten, die hochverschuldete Klienten mit Kokain-Abhängigkeit vertreten, ist man sich einig, dass längst hätte gehandelt werden müssen», sagt Oliver Bolliger im Gespräch. Doch seit die offene Drogenszene durch die Einführung der Substitutions- und heroingestützten Behandlung ab Mitte der 1990erJahre verschwunden sei, fehlten die entsprechenden Bilder, der gesellschaftliche Druck. «Damals war die Schweiz international in den Schlagzeilen. Das Elend vom Platzspitz war offensichtlich. Wir mussten handeln.» Die Dramen beim Kokain aber spielten sich, anders als damals beim Heroin, vor allem im Privaten und im Nachtleben ab. Und so gab es bisher wenig Grund für die Politik, die enorme Kluft zwischen wissenschaftlichem Kenntnisstand und politischer Umsetzung schliessen zu wollen. Wohl auch weil man «mit dem Thema Sucht keine politische Karriere» macht, so formuliert es 8

Bolliger. Der 49-Jährige hat zwanzig Jahre lang in der Suchtarbeit gearbeitet, war Leiter des Beratungszentrums der Suchthilfe Region Basel und ist damit eines der wenigen Bindeglieder zwischen Fachwelt und Politik. Längst nimmt die Schweiz im Vergleich zu Ländern wie Portugal keinen führenden Platz im progressiven Umgang mit Rauschmitteln mehr ein. Dort wurde 2001 der Besitz sämtlicher Substanzen entkriminalisiert. Die portugiesische Reform gilt als Erfolg, vor allem im europaweiten Vergleich der Zahl jugendlicher Konsumenten steht Portugal gut da: Was nicht illegal ist, hat offenbar auch weniger Reiz. Derweil ruht sich die Schweiz auf ihrer ehemaligen Vorreiterinnenrolle aus und hat seit der Bewältigung der Platzspitz-Krise neben dem Drug-Checking, also der registrierungsfreien Substanzanalyse und Aufklärung für Partydrogen-Konsumenten, nur wenige drogenpolitische Neuerungen eingeführt. Nun aber könnte Bewegung in die Sache kommen. Gerade rechtzeitig, denn die Gruppe derer, die mit einem kontrollierten Heroinkonsum oder einer Substitution leben und vom Erfolg der Schadensminderung erzählen können, wird immer älter und kleiner. Wird jetzt der Übertrag des Erfolgsmodells auf den heutigen Bedarf politisch verpasst, droht die Zusammenstreichung der existierenden Programme und damit die Gefahr neuer Elendsszenarien. Denn dass die Menschen Rauschmittel konsumieren und ein gewisser Prozentsatz dabei eine problematische Abhängigkeit entwickelt, lässt sich auch mit harschen Mitteln wie Null-Toleranz-Politik oder Prohibition nicht verhindern – das zeigt die historische Erfahrung.

Surprise Talk: Redaktorin Sara Winter Sayilir spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk Surprise 478/20


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Kein Junkie von der Ecke Heroin Nicole Merz ist abhängig. Die 50-Jährige ist ausserdem: voll berufstätig,

alleinerziehende Mutter und regelmässig in den Ferien. Ihr gutes Leben verdankt sie auch der einstmals mutigen Schweizer Drogenpolitik. TEXT  SARA WINTER SAYILIR

«Bei meinem Chef, denke ich, würde sich nichts verändern.» Seit über zwanzig Jahren arbeitet Nicole Merz in ihrer jetzigen Firma, die grossgewachsene Frau mit den langen Haaren fühlt sich wohl dort. Sie sind zu fünft im Team, sie und vier Männer. «Wir kennen uns schon so lange, das ist schon eine Freundschaft geworden, die uns verbindet.» Aber wenn es um ihre Gesundheit geht, möchte Merz ihren Namen und manches Detail lieber nicht gedruckt lesen. «Ich möchte einfach nicht mein Leben riskieren.» Nicole Merz ist heroinabhängig. Genauso lange, wie sie in ihrer Firma arbeitet, ist sie auch Patientin in einem Zentrum für die heroingestützte Behandlung von schwer Opioid-Abhängigen. Darüber redet sie nur in Ausnahmefällen. «Das ist eine medizinische Sache, die niemanden etwas angeht», sagt Merz. «Du sagst es den Leuten ja auch nicht, wenn du Hämorrhoiden hast.» Ein bisschen Trotz liegt in ihrer Stimme. Sie weiss wohl, dass der Vergleich hinkt: die Drogensucht und die unangenehme Darmkrankheit. Aber das Stigma nervt sie, das mit einer Suchterkrankung verbunden ist. «Ich bin ein normaler Mensch, der ein gesundheitliches Problem hat und dafür ein Medikament bekommt.» In den ganzen zwanzig Jahren ist Merz auf dem Weg zur Abgabestelle nur selten jemandem begegnet, den sie kannte. Dann sei sie einfach eine Extrarunde um den Block gelaufen. «Aber ich schaue natürlich gut, wenn ich raus- oder reingehe, wer in der Nähe ist.» Ein bisschen Angst bleibt immer. Für den Fall der Fälle hätte sie eine Ausrede parat: «Eine Freundin schafft dort oder so.» Dass sie selbst süchtig sei, würden ihr die meisten Leute aus ihrer Umgebung eh nicht unterstellen, vermutet sie. «Es ist schon eine Art Doppelleben. Aber hat nicht jeder Mensch etwas, das er nicht allen auf die Nase binden möchte?» Nur wenige wissen Bescheid Und trotzdem redet sie jetzt darüber. «Ich möchte den Leuten zeigen, dass Menschen, die mit Drogen zu tun haben, nicht nur die Junkies sind, die in der Ecke hocken.» Bis zum Lockdown ging Nicole Merz einmal am Tag in die Abgabestelle und bekam dort ihre abendliche Dosis flüssiges Diaphin, so heisst Heroin als Medikament. Für den Morgen nahm sie Tabletten mit, für maximal zweieinhalb Tage. Das dürfe nicht jede, sagt sie. Arbeit und ein stabiler Lebenswandel sind die Voraussetzung. Seit den Pandemiebestimmungen darf Merz ihre Pillen neu sogar für eine ganze Woche beziehen, 1 pro Woche. «Erst wusste ich gar nicht, was ich mit all der dazugewonnenen Zeit anfangen soll», sagt sie und lacht. Mittlerweile hofft sie, dass man ihr den gesetzlich hochregulierten Bezug von Diaphin auch dauerhaft in Wochenrationen zutraut. Sie schätzt ihre neue Freiheit. Und es macht sie sauer, wenn andere Patienten etwas aus der Abgabestelle rausschmuggeln und damit das Wohlwollen der Mitarbeitenden auf die Probe stellen. Wo sie selbst so viel Kraft und Selbstdisziplin in ihren Emanzipationsprozess gesteckt hat. 10

Solange Merz noch täglich hingehen musste, hat sie sich auf der Arbeit immer etwas einfallen lassen, warum sie abends immer genau zur gleichen Zeit ging. «Ein Glück, hatte ich seit Jahren die Aufgabe, kleine Botengänge zu machen.» Manchmal habe sie ihre Tochter vorgeschoben. Wenn es dann doch mal ein Geschäftsessen gab, bat sie am Tag zuvor um mehr Tabletten. Spontan sein konnte sie nicht. Ob sie spritze oder Tabletten schlucke, mache für sie keinen Unterschied mehr, sagt Merz. Es geht ihr nicht mehr um den Rausch, der beim oralen Konsum kaum zu spüren ist. Sie hatte auch nie Beikonsum, seit sie in der heroingestützten Behandlung ist, also keine weiteren Substanzen genommen. Abgesehen vielleicht von einem gelegentlichen Glas Wein beim Firmenessen oder mit Freunden. «Aber wenn ich keine Lust habe, fällt es mir überhaupt nicht schwer, Nein zu sagen», sagt Merz. Mit dem in der Partyszene weit verbreiteten Kokain habe sie seit 35 Jahren nichts mehr zu tun, das habe sie schon zu ihrer Zeit auf der Gasse schlecht vertragen. «Bei uns im Geschäft ist das zum Glück kein Thema. Ich hätte da aber auch viel zu viel Angst, es wieder zu nehmen.» Nur ihr engster Familienkreis weiss Bescheid: ihr Vater, ihre Mutter, der ebenfalls abhängige Vater ihrer Tochter, von dem sie getrennt lebt. Und wie steht es mit der mittlerweile zum Teenager herangereiften Tochter? «Sie weiss, dass ich und ihr Vater immer an denselben Ort müssen. Ob sie weiss, was genau wir da tun, kann ich nicht sagen. Wenn sie eines Tages nachfragt, werden wir es ihr sagen, das ist klar.» Als Mutter hat Nicole Merz mit ihrer Tochter eine Abmachung getroffen: Wenn sie sich bis 18 von Alkohol & Co. fernhält, bezahlt sie ihr den Führerschein. Und Autofahren findet ihre Tochter richtig cool. Nicole Merz auch. Allerdings wurde ihr der Führerschein schon vor langer Zeit abgenommen, das war noch zu Gassenzeiten. Damals hatte sie gedealt, um ihren Eigenkonsum zu finanzieren. «Für den Führerschein würde ich einiges tun», sagt sie heute. Solange sie in der heroingestützten Behandlung ist, kann sie diesen jedoch nicht wiedererwerben, dafür müsste sie dauerhaft auf Methadon oder ein anderes Substitut umsteigen. Zudem kostet der Führerschein viel Geld. «Bisher gab es immer irgendetwas, wofür ich das Geld dringender ausgeben musste», sagt Merz. Finanzielle Sorgen hat sie keine. Merz hat eine abgeschlossene Ausbildung und verdient einen «normalen kaufmännischen Lohn» gemäss Alter und Dienstdauer. Und sie ist stolz darauf, dass sie immer gearbeitet hat – anders als ihre Mutter, die bis heute finanziell vom Vater abhängig ist, obwohl die Ehe seit Langem nur noch auf dem Papier besteht. Die Mutter hatte für die Familie ihre Karriere aufgegeben. Früher waren sie mal reich. Besser gesagt: ihr Vater verdiente viel Geld mit halblegalen Finanzgeschäften. Aus dieser Zeit stammt auch das Haus im Süden, das Nicole Merz gemeinsam mit ihrer Mutter und der Tochter nutzt. Offiziell gehört es einer Surprise 478/20


der vielen Firmen des Vaters, von dem sie nicht wissen, wo er sich gerade aufhält. Das Glück ihrer Mutter ist Merz wichtig. «Sie ist jetzt 78, sie verbringt zeitweise den Winter im Süden, damit ihr hier nicht die Decke auf den Kopf fällt.» Die Mutter leidet unter Depressionen, seit sie herausfand, dass der Vater sie über Jahre mehrfach betrogen hatte. «Er ist sogar fremdgegangen in der Nacht, in der ich auf die Welt gekommen bin, und auch danach noch», sagt Merz. «Er war eigentlich nie da.» Nicht für die Mutter, nicht für die Kinder. Eine Zeitlang wurde der Vater sogar wegen seiner kriminellen Machenschaften gesucht. «Er ist damals aus der Schweiz ausgereist und – das war fast wie im Krimi – niemand durfte etwas wissen. Meine Mutter hockte mit uns Kindern in unserem Haus in diesem Dorf.» Ihren unguten Höhepunkt erreichte die familiäre Zwangslage, als Merz die Mutter volltrunken mit aufgeschnittenen Pulsadern zuhause fand. Damals war sie siebzehn.

Schweizer Suchtpolitik Mit dem ersten Massnahmenpaket Drogen von 1991 reagierte der Bund auf die offenen Drogenszenen in verschiedenen Städten (z.B. am Zürcher Platzspitz und Letten) und entwickelte eine neue, nicht mehr ausschliesslich auf Abstinenz zielende Drogenpolitik. Er basiert auf den vier Säulen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression, die 2008 im Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (Betäubungsmittelgesetz) festgeschrieben wurden. Mit der Viersäulenpolitik sind die offenen Drogenszenen verschwunden, neue Ansätze in der Therapie und Schadensminderung wie die Heroingestützte Behandlung (HeGeBe) haben sich seither etabliert und das körperliche und soziale Leid vieler suchtkranker Menschen gelindert. Drogenabhängigkeit wurde als Krankheit anerkannt und passende Hilfsstrukturen aufgebaut.

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Am Ende war die Sucht stärker Es war zu dieser Zeit, dass Nicole Merz erstmals harte Drogen probiert. Jemand bot ihr Methadon an, «das fand ich ganz toll, man fühlt sich so geborgen». Bald landet sie auf dem Platzspitz in Zürich, nimmt das erste Mal Heroin. Nicole Merz mag das Zeug nicht schnupfen, das findet sie eklig, «spritzen fand ich sauber und simpel». Sie denkt, das mit der Abhängigkeit habe sie im Griff, merkt aber auch schnell irgendwo tief drinnen, dass sie sich etwas vormacht. «Ich gebe niemandem die Schuld. Es ist ein Zusammenspiel von vielem. Und die falschen Leute im falschen Moment. Die, anstatt dir ein bisschen zuzuhören, dir etwas geben und sagen, damit täte es weniger weh.» Nach etwa zwei Jahren finden die getrenntlebenden Eltern heraus, dass Merz Heroin nimmt. Sie versuchen auf verschiedene Weise, die Sucht der Tochter in den Griff zu kriegen. Zahlreiche Therapien, verschiedene Ansätze: Immer wird Merz rückfällig. Ein Programm folgt auf das nächste, und immer wieder ein kalter Entzug. Keine der Abstinenztherapien, die Nicole Merz im Laufe ihrer Drogenkarriere durchläuft, ist erfolgreich. Dabei bereut Merz ihre Rückfälle, einmal weint sie drei Tage lang, nachdem sie aus einem Programm ausgeschlossen wird. Sie schafft es auch mal, eine Zeitlang clean zu bleiben, am Ende ist die Sucht immer stärker. Erst als sie mit Ende zwanzig ihren Job verliert, fühlt sie sich am absoluten Tiefpunkt angekommen. Sie leidet an einer unentdeckten Blutarmut und landet schliesslich mit einer Blutvergiftung im Spital. «Ich bin damals ganz knapp am Tod vorbeigeschrammt.» Kurz darauf bekommt sie einen Platz in der neu eingeführten heroingestützten Behandlung. Und beginnt ihren neuen Job, in dem sie heute noch arbeitet. Das war 1999. Seitdem ist viel Zeit vergangen, nach der Gasse hat sich Merz nie gesehnt. Lange hat sie sich unter Druck gesetzt, ganz aussteigen zu müssen, abstinent zu werden. Vor vier Jahren hätte sie deshalb fast ein Burn-out erlitten, dazu noch die pubertierende Tochter, der Fulltime-Job. Seither nimmt sie einmal die Woche ein heisses Bad. Das versteht sie unter: sich selbst mal etwas Gutes tun. Und Merz versucht, sich weniger unter Druck zu setzen. «Aber es ist ein bisschen wie mit dem Rauchen aufzuhören. Das hab’ ich auch zweimal versucht, und wieder angefangen. Es ist irgendwie ein Prozess. Und es muss klick machen.» Ihr neues Ziel ist, nicht noch weitere zwanzig Jahre in die Abgabestelle laufen zu müssen. 11


«Wir verharren im Stillstand» Behandlung Entkriminalisierung, Aufklärung und Pragmatismus würde

sich auch der Suchtmediziner Philip Bruggmann im Umgang mit Drogen in der Schweiz wünschen. Wissenschaftlich spricht vieles dafür. INTERVIEW  SARA WINTER SAYILIR

Philip Bruggmann, welche Rolle spielt Heroin heute noch? Unter unseren Neueintritten haben wir relativ wenige junge Leute mit Heroinabhängigkeit. Schaut man sich die Zahlen an, ist heutzutage Kokain viel bedeutender. Gerade in den grossen Städten hat es sich als Party- und Leistungsdroge etabliert, die relativ einfach zugänglich ist. Heroin hat eher das Image einer Loser-Droge. Aber wir wissen nie, was kommt. Ich erinnere an die Opioid-Krise in den USA. Wir haben keine Gewissheit, dass so etwas in der Schweiz in einem kleineren Ausmass nicht auch vorkommen könnte. Seit der Einführung der heroingestützten Behandlung mit dem Schwerpunkt auf Schadensminderung vor fast dreissig Jahren ist in der Schweiz suchtpolitisch aber nicht mehr viel Innovatives passiert. Braucht es sichtbares Elend, um vorwärtszukommen? Die Misere und das Elend der offenen Drogenszene in den Achtziger- und Neunzigerjahren waren entscheidend dafür, dass alle politischen Lager von einer pragmatischen Drogenpolitik überzeugt werden konnten, wie sie dann mit der heutigen Viersäulenpolitik ins Leben gerufen wurde. Derzeit ist wohl der Leidensdruck tatsächlich zu gering, um wieder innovativ zu sein. Das ist ein grosses Problem. Inwiefern? Lange ist die Schweiz in der Suchtpolitik führend gewesen, nun droht sie Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Weil wir Menschen mit einer Suchterkrankung so gut versorgen, fallen sie auf der Strasse nicht mehr auf. Dadurch verschwindet das Thema 12

aus dem Sorgenbarometer der Bevölkerung und damit auch aus der Politik. Also verharren wir in einer Art Stillstand. Ein Stichwort ist der Umgang mit Cannabis. Hier wäre eine Regulierung und Legalisierung dringend angezeigt. Warum? Schauen wir zum Beispiel nach Portugal. Dort wurde 2001 beschlossen, den Eigenkonsum sämtlicher Rauschmittel nicht mehr zu bestrafen. So können Personen mit einem Drogenkonsum besser für medizinische und Präventionsangebote erreicht werden und laufen nicht Gefahr, sich durch einen Gesetzesverstoss nachhaltig ihr Leben zu verbauen. Das wäre auch in der Schweiz relativ einfach umsetzbar. In Basel wurde im November ein Vorstoss lanciert, der unter anderem darauf abzielt, die Möglichkeit der Entkriminali­ sierung und der Einrichtung einer Substitutionstherapie für Kokainabhängige zu prüfen. Ich kenne den Vorstoss aus Basel. Allerdings klingt er für mich ein wenig laienhaft. Warum? In dem Vorstoss wird die Substitution von Kokain mit Methylphenidat vorgeschlagen, vielen ist dies als Ritalin bekannt. Es gibt allerdings keine Daten, die zeigen, dass dies bei Menschen ohne ADHS funktionieren könnte. Zudem ist die Substitutionstherapie oder kontrollierte Abgabe bei Opioiden inklusive Heroin ja vor allem deshalb machbar, weil die Süchtigen ab einer gewisSurprise 478/20


Solche Kokainexzesse können zu hoher Verschuldung führen, was wiederum Arbeitsplatzverlust oder Ehescheidungen nach sich ziehen kann. Schadensminderung ist also auch hier ein grosses Thema. Wie sollte sich der Staat verhalten? Aus meiner Sicht sollte man viel mehr in Richtung Entkriminalisierung und Entmedizinialisierung hinwirken. Gerade beim Kokain, das ja bereits jetzt breit konsumiert wird. Es ergibt keinen Sinn, dass jeder, der Kokain konsumiert und es im Griff hat, dafür zum Arzt muss. Es wäre sinnvoller, wenn das Kokain zentral an einer Stelle bezogen werden könnte, wo man dann auch eine entsprechende Beratung erhielte. Dadurch bekämen die dort arbeitenden Fachpersonen auch mit, wer möglicherweise Probleme mit dem Konsum hat, sodass diesen Risikokonsumierenden gleich eine medizinische oder psychologische Begleitung empfohlen werden könnte. Aus meiner Sicht sollte die Politik eher in diese Richtung gehen. Kontrollierte Abgabe von Drogen für alle? Bei Jugendlichen muss man natürlich anders vorgehen, in einem gewissen Alter werden Gefahren nicht so gesehen. Gleichzeitig ist die Illegalität, zum Beispiel bei Cannabis, ein nicht zu unterschätzender Faktor für das Interesse der Jugendlichen. Ich glaube nicht, dass man bei einer Regulierung noch mehr kiffende Jugendliche hätte, als wir jetzt schon haben. Würde man die Substanzen hingegen in der Apotheke abgeben, könnte man beim Verkauf direkt Aufklärung betreiben und Präventionsmaterial verteilen. Das gibt es jetzt beim Dealer natürlich nicht. Wie viel Prozent der Konsumenten rutschen in die Abhängigkeit? Bei den meisten Substanzen sind es etwa so zehn bis fünfzehn Prozent, beim Heroin etwas mehr. Auch beim legal erhältlichen Alkohol sind es etwa zehn Prozent, wobei dabei natürlich die absolute Zahl derer, die konsumieren, wesentlich höher liegt als beispielsweise beim Kokain. Das bedeutet auch, dass Alkoholabhängige für die öffentliche Gesundheit ein viel grösseres Problem darstellen.

7,7 Liter 33,8% 50 200 136

Alkohol konsumierten die Schweizerinnen und Schweizer im Jahr 2018 pro Kopf, das sind 2,4 Liter weniger als 1992.

der Schweizer Wohnbevölkerung ab 15 Jahren haben schon einmal in ihrem Leben Cannabis konsumiert.

Personen in der Schweiz haben in den letzten zwölf Monaten Kokain konsumiert.

Menschen kamen im Jahr 2016 drogenbedingt zu Tode.

Entwicklung der Erstbehandlungen (2013–2018) 1400 Alkohol

1200 1000 800

Hat denn die Einführung der Substitution und der heroin­ gestützten Behandlung 1994 zu einem Anstieg an Abhängigen geführt? Nein, diese Ängste sind nachweislich unbegründet. Es gab damals im Vorfeld diese Befürchtung, sie ist aber nicht eingetroffen. FOTO: ZVG

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Cannabis

600 400 Kokain**

200 0

Philip Bruggmann, 49, hat in Zürich Medizin studiert. Seit 2003 arbeitet er beim Arud Zentrum für Suchtmedizin in Zürich, seit 2009 als Chefarzt Innere Medizin. Am Institut für Hausarztmedizin des Universitätsspitals Zürich hat er sich 2016 habilitiert.

QUELLE: SUCHTMONITORING.CH

sen Dosis merken, dass es genug ist. Zu hohe Dosen sind unangenehm, während es sich bei Überdosen in der Regel um Unfälle handelt. Bei Kokain, das nicht zu den Opioiden gehört, kommt es hingegen eher zu Exzessen, da die Substanz so wirkt, dass man immer mehr möchte. Kokain lässt sich schlecht auf eine bestimmte Dosis einstellen.

Opioide* 2013

2014

2015

2016

2017

2018

* Opioide: Heroin, Methadon (missbräuchlich), Buprenorphin (missbr.), Fentanyl, andere Opioide ** Kokain: Kokain-Pulver, Crack-Kokain, anderer Kokain-Typ

Entwicklung der Anzahl der Erstbehandlungen für Suchtpro­ ble­me, nach Hauptproblem (ausschliesslich Einrichtungen mit konstanter Datenlieferung über die Beobachtungszeit 2013–18)

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Alleingelassen Care Leaver Jugendliche, die in der Schweiz im Heim oder in Pflegefamilien aufwachsen, müssen

nach dem 18. Geburtstag oft alleine für sich sorgen. Viele landen direkt in der Armut. TEXT  SIMON JÄGGI

In einer Ecke des Kindergartens soll Gael Plo gestanden und bis zur Erschöpfung geschrien haben. So hat man es ihm später erzählt. Immer wieder sei er aufgefallen, habe andere Kinder geschlagen, immer wieder Schreikrämpfe gehabt. Knapp drei Jahre zuvor war der Vater mit ihm und seinem älteren Bruder aus der Elfenbeinküste in die Schweiz gekommen, die Mutter blieb zurück. Hier angekommen, war der Vater überwiegend abwesend und vom Leben überfordert. Der Bruder war vom Bürgerkrieg in der Heimat traumatisiert und gewalttätig, er schlug seinen kleinen Bruder. Mit sechs brachten die Behörden Gael Plo in ein Kinderheim. In den folgenden zwölf Jahren lebte er in über einem Dutzend verschiedenen Heimen und Familien. Seine Geschichte erzählt Gael Plo in einem Kaffee in Kleinbasel. Mit den breiten Schultern, dem massigen Körper und der ruhigen Stimme wirkt er deutlich älter als seine zwanzig Jahre. «Das hör ich oft», sagt er und lächelt. In all den Jahren in Heimen und wechselnden Familien wurde Gael Plo zu einem Meister der Anpassung. Immer und immer wieder wechselten die Betreuerinnen und Pädagogen, und mit ihnen die Regeln und Anforderungen. Er lernte, sich zu tarnen: Möglichst keine Emotionen zeigen, die eigenen Bedürfnisse ignorieren, freundlich bleiben. Er akzeptierte, dass meistens andere für ihn entschieden. Über die nächste Umplatzierung, über Besuchsrechte, die Ausbildung. Eine Strategie, die funktionierte – bis er volljährig wurde und das Heim verlassen sollte. Plötzlich musste er tun, was er davor kaum gelernt hatte. Surprise 478/20

Selbständig entscheiden, Verantwortung übernehmen, für sich selber schauen. «Dabei hatte ich keine Ahnung, wer ich überhaupt bin. Die jahrelange Anpassung in den Heimen hatte dazu geführt, dass ich mich selber nie wirklich kennengelernt habe.» Gael Plo war überfordert. Er fand keine Arbeit, verschuldete sich in wenigen Monaten, weil er die Rechnungen der Krankenkasse nicht bezahlen konnte und nicht wusste, dass er Prämienverbilligung beantragen könnte. Schliesslich beantragte er Sozialhilfe. «All diese Jahre im Heim waren nicht einfach», sagt er. «Doch die grösste Krise kam, als ich plötzlich auf mich allein gestellt war.» Gael Plo ist kein Einzelfall, viele sogenannte «Care Leaver» haben ähnliche Probleme. Mit «Care Leaver» werden in der Fachwelt junge Erwachsene bezeichnet, die in Heimen oder bei Pflegefamilien aufwachsen und mit dem 18. Geburtstag unvermittelt auf eigenen Beinen stehen müssen. In der Schweiz endet die Kinder- und Jugendhilfe in der Regel mit Erreichen der Volljährigkeit. Beistände legen ihre Mandate nieder, die Finanzierung für den Platz im Heim oder in der Pflegefamilie endet, die Beziehungen zu Bezugspersonen brechen ab. Die Jugendlichen sind von nun an allein verantwortlich – für ihr Konto, ihren Alltag, ihr Leben. Beatrice Knecht Krüger leitet das Kompetenzzentrum für Leaving Care in Bern. «Zuerst investiert der Staat viel Geld in die Unterbringung der Kinder und Jugendlichen, dann lässt er sie ab der Volljährigkeit alleine. Das ist eigentlich ein Skandal», sagt

sie. Das Zentrum wurde im vergangenen Jahr gegründet und setzt sich schweizweit für die Verbesserung der Situation dieser jungen Erwachsenen ein. Erst langsam wächst in der Schweiz das Bewusstsein für das, was der Heimaustritt bei vielen Betroffenen auslöst. Kinder, die fremdplatziert aufwachsen, sind oft bereits vor dem formellen Erwachsenwerden benachteiligt. «Dadurch, dass sie mit 18 Jahren plötzlich auf sich allein gestellt sind, wird die Chancenungleichheit weiter verstärkt.» Viele befinden sich nach dem Austritt in prekären Verhältnissen, sind mit der Ausbildung in Verzug oder haben keinen Abschluss – und landen oft bei der Sozialhilfe. Einige erben zudem Krankenkassenschulden. Wenn Eltern die Rechnungen nicht bezahlen, gehen die Schulden in vielen Gemeinden direkt auf die Kinder über. Statistisch nicht erfasst Wie viele junge Erwachsene in der Schweiz jedes Jahr aus einem Heim oder einer Pflegefamilie austreten, dazu gibt es keine genauen Zahlen. Die Anlaufstelle Pflege- und Adoptivkinder Schweiz erstellte 2017 eine Schätzung und kam auf rund 20 000 Kinder- und Jugendliche, die in der Schweiz in Pflegefamilien und Heimen aufwachsen. Aktuell befindet sich eine nationale Statistik im Aufbau. Untersuchungen aus anderen europäischen Ländern zeigen: Care Leaver zählen zu den am meisten von sozialer Ausgrenzung bedrohten Personenkreisen. Als Gael Plo seinen 18. Geburtstag feierte, wohnte er in einer betreuten Aussenwohnung seines letzten Heims in Ba15


sel-Stadt. Ein paar Kollegen kamen zu Besuch, Freunde aus dem Heim und seinem American-Football-Team. Kurz zuvor hatte Plo die Lehre als Elektriker abgeschlossen. Er freute sich auf die nahende Freiheit, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Mit der Volljährigkeit begann die Uhr zu ticken. Er brauchte möglichst bald eine eigene Wohnung und eine Anstellung. Fast jeden Tag landeten Schreiben von Ämtern in seinem Briefkasten, um die sich bis dahin sein Beistand gekümmert hatte. Weil Gael Plo keine Arbeit fand, meldete er sich bei der Sozialhilfe an. Dort verlangten die Beamten Steuerunterlagen von seinen Eltern, dabei hatte Plo zu seinem Vater kaum noch Kontakt. «Ich war nicht in der Lage, diese Dokumente zu liefern, das machte alles noch komplizierter.» Nach einigen Wochen fand er ein Zimmer in einer WG, doch Ruhe fand er keine. Finanziell geriet er immer stärker unter Druck, die Rechnungen sammelten sich an, der Stress nahm zu, er konnte kaum mehr schlafen. In wenigen Monaten wollte er mit der Berufsmatur beginnen, die Zulassungsprüfung rückte näher. Gael Plo entschied sich fürs Lernen. Er liess die Mahnungen und Betreibungen ungeöffnet liegen und verliess die Wohnung nur noch zum Einkaufen. Als seine Mitbewohner von seinen finanziellen Problemen erfuhren, kündigten sie ihm das Zimmer, sie wollten keinen Mieter mit laufenden Betreibungen. «Ich dachte, ich bin am Arsch.» Dorothee Schaffner ist Professorin für Soziale Arbeit an der FHNW, Kinder- und Jugendhilfe gehört zu ihren Forschungsschwerpunkten. «Es fehlt vielen Care Leavern an grundlegendem Wissen», sagt Schaffner. «Welche rechtlichen Ansprüche habe ich? Welches Amt unterstützt mich? Wie kann ich Stipendien oder Prämienverbilligungen? Wie rechne ich mit der Krankenkasse ab?» Sie schliesst in diesen Wochen ein partizipatives Forschungsprojekt ab, an dem Care Leaver mitgearbeitet haben. Ausgehend von der Studie zeichnet sich ab: Die Erfahrungen im Heim sind entscheidend dafür, wie der Übergang in ein selbstbestimmtes Leben gelingt. «Es braucht bereits im Heim Gelegenheiten für


eigene Erfahrungen und das Lernen von Selbstverantwortung und Mitbestimmung». Doch das allein reiche nicht, viele Care Leaver benötigten nach dem Austritt weitere Unterstützungsangebote. «Dafür ist von allen Beteiligten im System mehr Sensibilität für diesen schwierigen Übergang gefordert: von den Heimen, den kantonalen Jugendhilfen und den involvierten Ämtern.» Ausgehend von internationaler Forschung wird das Thema Leaving Care in der Schweiz zunehmend beforscht. Nebst der FHNW führen derzeit auch die Universitären Psychiatrischen Kliniken UPK Basel, sowie die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW verschiedene Studien zum Thema durch. Viele Länder haben in den vergangenen Jahren bereits politisch auf das Problem reagiert. In Norwegen können Care Leaver bis zum 23. Lebensjahr finanzielle Hilfe beziehen und werden darüber hinaus begleitet, wenn sie das möchten. In Grossbritannien unterstützt der Staat Care Leaver bis Mitte zwanzig mit verschiedenen Angeboten. In Kanada existiert unter anderem ein Programm, das ehemals Fremdplatzierten den Zugang zu Stipendien vereinfacht. In der Deutschschweiz haben bisher einzig die Kantone Basel-Stadt und Baselland das Gesetz so angepasst, dass auch junge Erwachsene unterstützt werden können. In Zürich und Bern sind ähnliche Gesetzesänderungen geplant. Ob junge Erwachsene nach dem Austritt aus dem Heim Unterstützung erhalten oder durch die Maschen fallen, bleibt so häufig Zufall. Abhängig vom Wohnort, dem Heim oder privater Hilfe. Auch für Nora Mettler bedeutete der Austritt aus dem Heim einen harten Bruch. Ihren richtigen Namen möchte sie hier nicht lesen. Wie viele andere Care Leaverinnen empfindet sie ihre Vergangenheit als Stigma, will nicht, dass man sie darauf reduziert. Ihre Geschichte erzählt sie in einem Zürcher Café. Eine junge Frau mit funkelndem Blick, dunklen Locken und dichten Augenbrauen. Zum Gespräch musste sie sich überwinden, Nora Mettler schaut lieber nach vorne als zurück. Die heute 23-Jährige hatte bis zu ihrem 18. GeSurprise 478/20

burtstag in über 20 Heimen und Pflegefamilien gelebt. Sie galt als Systemsprengerin: «Hat mir etwas nicht gepasst, bin ich ausgerastet», sagt sie. Am Ende gab es kaum ein Heim mehr, das sie aufnehmen wollte. Über die Gründe ihrer Wut wurde nur wenig gesprochen. Stattdessen stellten sie die Betreuungspersonen immer wieder mit Medikamenten ruhig. «Dabei war der Auslöser immer derselbe: Hat man über meinen Kopf hinweg entschieden, bin ich ausgetickt.» Und das passierte oft. Umplatzierungen, Besuchsrechte, Disziplinarmassnahmen – das meiste wurde hinter verschlossenen Türen entschieden. Zu wenig vorbereitet Als sie 18 wurde, konnte Nora Mettler zu einer Bekannten ziehen, der ehemaligen Pflegemutter ihrer Schwester. «Das fühlte sich an wie eine unendlich grosse Befreiung. Endlich konnte ich tun, was ich wollte!» Nora Mettler ging zwei Jahre lang «chronisch» in den Ausgang, wie sie sagt. Lernte ihren ersten Freund kennen und stellte alle drei Monate ihr Zimmer um. «Das Letzte, was wir Care Leaver wollen, ist Mitleid!», sagt sie. «Die Karten, die ich in die Hand bekommen habe, sind nicht so gut wie bei anderen, und es läuft immer noch sehr vieles schief. Aber was man daraus macht, ist nicht in Stein gemeisselt!» Nach dem Austritt geriet Nora Mettler in eine Krise. Weil sie vom Lehrlingslohn als Kleinkinderzieherin nicht leben konnte, musste sie Sozialhilfe beantragen. «Das war so etwas von ent­wür­digend.» Daneben jobbte sie in Bars und Clubs, doch auch so reichte das Geld immer nur knapp. Von der SBB erhielt sie Rechnungen über 1000 Franken für Bussen wegen Schwarzfahrens, die sich seit ihrer Kindheit angesammelt hatten. Auch die Krankenkasse mahnte bald eine Summe von 1500 Franken an, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlt hatte. «Da dachte ich, mir fällt die Welt auf den Kopf.» Auf die Herausforderungen eines selbständigen Lebens hatte sie keines der über 20 Heime vorbereitet. Alexandra Wälti ist Sozialarbeiterin und hat selber mehrere Jahre in einem Kinderheim gearbeitet. Sie sagt: «Es geht

um die Frage, welche Ziele die Heime verfolgen. Sollen Kinder einfach untergebracht werden oder vielmehr ihr Potential entfalten und auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden?» Wälti moderiert seit zwei Jahren das Care-Leaver-Netzwerk Basel. Eine Gruppe, die vor zwei Jahren aus einer Initiative der Fachhochschule Nordwestschweiz heraus entstanden ist. Hier sollen die jungen Erwachsenen unkompliziert Hilfe finden und sich gegenseitig unterstützen. Ein ähnliches Netzwerk ist vergangenes Jahr auf Initiative der ZHAW auch im Raum Zürich entstanden. «Ich hole die jungen Erwachsenen als Expertinnen und Experten ab. Die haben alle genug davon, sich als Problem behandeln zu lassen», sagt Wälti. Viele merkten erst im Austausch, dass sie mit ihren Schwierigkeiten nicht alleine sind. «Das kann sehr ermächtigend wirken», so Wälti. Rückblickend würde sie selbst heute als Sozialarbeiterin auch vieles anders machen, sagt sie: Die Jugendlichen besser vorbereiten, mehr Freiräume schaffen. Im Leben von Gael Plo und Nora Mettler ist mittlerweile etwas Ruhe eingekehrt. Gael Plo hat vor wenigen Wochen die Berufsmatur erfolgreich beendet. Im Herbst beginnt er ein Praktikum in einer Personalabteilung, kommendes Jahr möchte er ein Wirtschaftsstudium anfangen. Nora Mettler schliesst gerade ihre zweite Ausbildung als Kaufmännische Angestellte ab und plant eine Weiterbildung an der KV Business School. Beide gehören zu jenen, die noch Glück hatten. Das sagen sie selber über sich. In ihren Fällen war es die Hilfe von einzelnen Menschen, die sie vor einem tieferen Sturz bewahrte. Nora Mettlers ehemalige Beiständin unterstützte sie privat lange über den 18. Geburtstag hinaus. Zudem fand sie bei der ehemaligen Pflegemutter ihrer Schwester ein gutes Zuhause. Bei Gael Plo war es unter anderen ein ehemaliger Sozialarbeiter, der ihm von seinem Privatkonto Geld vorschoss, um die dringendsten Rechnungen zu begleichen. Beide beteiligen sich zudem am Aufbau der Care-Leaver-Netzwerke, wo sie auch selber Unterstützung finden. 17


Oben: Stadtführer Jia Xi-yah leitet durch das «verborgene Taipei». Unten: In der Nähe des Hauptbahnhofes. 18

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FOTO(1): ZVG/HIDDENTAIPEI.ORG, FOTO(2): CHING-WEI LIN

Im Verborgenen Soziale Stadtrundgänge In Taiwan ist Armut ein grosses Tabu.

Nun erzählen Menschen ohne Obdach ihre Geschichten und sprechen über Scham. Ein Rundgang durch «Hidden Taipei». TEXT  ALICE GRÜNFELDER

Taipeh

TAIWAN

Zuerst geht es durch ödlange Gänge. Die Rollläden in der Einkaufspassage sind noch heruntergelassen. In einer Ecke stehen Massagestühle, eine Frau und zwei Männer in weissen Kitteln warten auf Kunden. Der Treffpunkt für den Rundgang mit einem Obdachlosen ist ein kleiner Platz hinter dem Bahnhof. Jia Xi-yah sitzt auf einer Bank und lässt seine wachen Augen über die Gesichter jener gleiten, die per Rolltreppe ans Tageslicht hochfahren, als schätze er ab, wer an diesem Samstagmorgen an seiner Tour teilnehmen wird. Dreizehn sind es heute. Die Begrüssung fällt knapp aus. Er erzählt von sich, wie er als Matrose in Japan an Meningitis erkrankte, ein Jahr im Krankenhaus lag und die Ärzte ihn schon aufgegeben hatten. Wie er danach sein linkes Bein und die linke Hand nicht mehr richtig bewegen konnte, dass er vieles vergessen hatte und von da an keinen Fuss mehr auf den Boden bekam. Jahre lebte er am Hauptbahnhof von Taipei. Seine Augen flitzen beim Erzählen hin und her, er streut historische Fakten über das Viertel ein, durch das wir gehen, immer wieder auch aus der Perspektive der Obdachlosen. Dass zum Beispiel im kleinen Tempel hinter dem Bahnhof jedes Jahr zu bestimmten Zeiten Essen verteilt wird. Darin nehmen die Tempel auf Taiwan eine vergleichbare Funktion ein wie in anderen Ländern Asiens, wo vor Tempeln und Klöstern Bettler sitzen und von den Gläubigen Almosen bekommen, die sich dadurch wiederum ein besseres Karma erhoffen, ein besseres Schicksal im nächsten Leben. Und Surprise 478/20

wo Klöster – ähnlich wie früher in Europa – Armenspeisungen anbieten. Deshalb sieht man viele Obdachlose nicht nur am Hauptbahnhof, sondern auch in Wanhua in der Nähe des Longshan-Tempels. Gegenüber im Bankga-Park – das Land gehörte einst dem Tempel, der dort die Armen verköstigte – sitzen tagsüber die Armen der Stadt, halten Prostituierte nach Freiern Ausschau, führt ein Mann sein Schwein mit einem Glücksanhänger spazieren, werden Schachsteine über Pappbretter geschoben und Wetten abgerechnet. Wanhua ist eines der ältesten Quartiere der Stadt, früher Umschlagplatz für Güter, die von jenseits des Meeres kamen und ins Hinterland weiterverkauft wurden. Die Geschäfte sind mittlerweile Richtung Osten gezogen, wo die Luxus-Shopping-Malls die Wolken kratzen und das fünfthöchste Gebäude der Welt, der «101 Tower», als Symbol der geballten Wirtschaftsmacht des Landes steht. Die Armen sind in Wanhua geblieben, weil sie sich anderswo die Mieten ohnehin nicht leisten könnten. Wer das Gesicht verliert Im Jahr 2018 wurden 645 Obdachlose in der Stadt registriert, davon 97 Frauen, doch die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Die Zahl scheint tatsächlich zu niedrig angesichts der knapp drei Millionen Einwohner von Taipei. Das hat mehrere Gründe. Gezählt wird nur, wer sich registriert. Nicht jeder bringt aber die notwendigen Papiere zusammen, und die Büro-

kratie ist gnadenlos. Sowohl Jia Xia-yah als auch die Sozialarbeiterin Yan Man-Ju von Hidden Taipei – der NGO, die diese Stadtführungen organisiert – erklären, dass die Registrierung einem ungeheuren Gesichtsverlust gleichkomme. «Lieber auf der Stras­­se von Almosen leben und mühsam ums Überleben kämpfen, als sich zu registrieren.» Die Behörden würden Fragen stellen und nachforschen, warum die eigene Familie einen nicht unterstütze. Nicht nur in Taiwan, sondern auch in anderen Ländern Asiens ist die Familie als kleinste Zelle für die soziale Absicherung der Familienmitglieder verantwortlich – trotz der Sozialversicherungen, die in Taiwan jedoch nicht wirklich oder nur knapp zum Überleben reichen. Und wenn die Familie erfährt, dass man in Taipei auf der Strasse lebt, erfahren es auch ihre Nachbarn, und die Scham, die damit gleichsam über die Familie kommt, lasse einen buchstäblich in den Boden versinken. Wer jedoch von der Familie verstossen wurde – wegen Gewalttätigkeit oder Suchtproblemen etwa –, muss zuerst das Problem lösen, bevor der Staat Geld fliessen lässt. In einem Fall war der Sohn aus finanziellen Gründen schlicht nicht in der Lage, seinen Vater zu unterstützen, der dann zwei Jahre warten musste, bis er Sozialhilfe bekam. Wie hoch die Dunkelziffer also wirklich ist, darauf will sich niemand festlegen. Für die vielen hundert Obdachlosen gibt es gerade mal 175 Betten, zum Teil in Häusern mit strengen Vorschriften, wo man sich zwischen 8 und 16 Uhr nicht in der Unter19


Erzählen statt klagen Gründe, das Dach über dem Kopf zu verlieren, gibt es so viele, wie es Obdachlose gibt. Die einen haben ihre Arbeit verloren, weil die Firma ihre Produktionsstätte in die Volksrepublik China oder nach Südostasien verlagerte. Oder sie sind krank geworden und wurden flugs ersetzt. Und von Fortbildung zur Verbesserung ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt können die allermeisten nur träumen, dafür fehlen ihnen die nötigen Schulabschlüsse und Zeugnisse. Das ist insbesondere bei der dritten Gruppe der Fall: Das sind jene über 50, die keine Familie haben. Diese Gruppe wird grösser werden angesichts der Überalterung der Gesellschaft und des massiven Geburtenrückgangs, fürchtet Sozialwissenschaftler Lin Thung-Hong im Gespräch mit Channel News Asia. Denn wer kinder20

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los ist, hat keine Nachkommen, die sich im Alter um ihn kümmern könnten. In Taiwan – mit einer der niedrigsten Geburtenraten weltweit – ist dies nicht nur für Obdachlose ein Problem. Zudem reichen die Löhne oft nicht aus, um die rasanten Mietsteigerungen aufzufangen, denn Taiwan – neben Singapur, Hongkong, Südkorea einer der vier sogenannten Tigerstaaten –, legte in den letzten Jahren einen fulminanten Wirtschaftsaufschwung hin. «Die Armen haben die Stadt aufgebaut, aber ihre Geschichte will niemand hören», sagt Jia Xi-yah. Dabei beklagt er während der zweitstündigen Stadtführung keineswegs sein Schicksal, drückt nicht auf die Tränendrüse, sondern es ist ihm ein ernsthaftes Anliegen, dass die Teilnehmenden verstehen, wie Obdachlose leben. Hier springt Hidden Taipei ein. Neben den Rundgängen organisiert die NGO auch die Living Library, wo Obdachlose aus ihrem Leben erzählen, organisiert Ausstel-

1 Jia Xi-yah informiert über den Pujin-Tempel. 2 Alles Hab und Gut aufs Velo verstaut. 3 Die Gruppe hört Jia Xi-yah aufmerksam zu. 4 Am Bahnhof können regis­trierte Obdachlose ihre Habseligkeiten lagern.

FOTO(1): ALICE GRÜNFELDER, FOTOS(2+4): ZVG/HIDDENTAIPEI.ORG, FOTO(3): CHING-WEI LIN

kunft aufhalten darf. «Wohin sollen die Kranken gehen?», fragt Yan Man-Ju von der Organisation Hidden Taipei, die selbst 25 Betten ohne solche strengen Regelungen anbietet. Also werden sie beim den Hauptbahnhof geduldet, solange sie nicht betteln, und sie dürfen unten im Parkhaus schlafen, wenn sie bis 8 Uhr wieder draus­ sen sind. «Jede Nacht so um die 300 Leute», sagt Jia Xi-yah. Danach verstreuen sie sich in der Stadt, arbeiten als Werbeträger für Plakate, fegen die Parkanlagen, helfen bei religiösen Veranstaltungen. Jia Xi-yah war zeitweise auch Verkäufer von The Big Issue Taiwan, dem taiwanischen Pendant zu Surprise, doch aus gesundheitlichen Gründen konnte er irgendwann nicht mehr so lange an einem Ort stehen. Weil die Obdachlosen ihre Habseligkeiten tagsüber beim Bahnhof liessen, hatte man sie für Abfall gehalten und entsorgt. Dann kam das Sozialdepartment auf die Idee, schwarze Säcke zu verteilen, und stolz hält Jia Xi-yah einen hoch: «Darauf schreibt man seinen Namen, stellt ihn vor den Bahnhof und holt ihn abends wieder ab.» Und ja, das klappt – aber nur wer registriert ist, bekommt einen solchen Sack und überhaupt Sozialhilfe. Das sei eben die Krux, meint die Sozialarbeiterin Yan Man-Ju. Viele wollen sich nicht registrieren lassen, doch dann erhalten sie keine Unterstützung bei der Wohnungssuche, bekommen keine Sozialhilfe und fallen durch alle Raster. Suchen sie Arbeit, brauchen sie eine Adresse. Für eine Wohnung aber brauchen sie einen Arbeitsnachweis – ein Teufelskreis.


«Wir führen diese Touren durch, damit wir gemeinsam überlegen können, wie sich die Situation der Obdachlosen verbessern lässt.» YAN MAN-JU

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lungen und bietet Unterrichtsmaterial an. Ziel sei es unter anderem, Vorurteile abzubauen: Entgegen weit verbreiteter Annahme arbeiten 70 Prozent der Obdachlosen, auch wenn 80 Prozent von ihnen damit weniger als 5000 Yuan (165 Schweizer Franken bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 1200 Franken) verdienen. Oft sind sie unverschuldet in eine Notlage geraten und auf der Strasse gelandet. Yan Man-Ju von Hidden Taipei hofft denn auch, dass durch die Rundgänge und direkten Begegnungen mit Obdachlosen aus der Einsicht in das Leben dieser Menschen engagierte Empathie wird. Wem geben die Obdachlosen und die Armen der Stadt die Schuld für ihr Schicksal? Der eigenen Familie, den Chefs, der Regierung oder dem Karma? Keiner weiss eine Antwort auf die Frage, alle schütteln den Kopf und schweigen. Nur einer ruft: «Wir sind es selbst, wir selbst», und seine Stimme wird dabei immer lauter. «Was bringt es denn, anderen die Schuld für unser Scheitern in die Schuhe zu schieben? Nichts bringt es, nichts.» Dass es das Karma sein soll, lehnt die Sozialarbeiterin ab. «Wir führen diese Touren durch, damit die Menschen sehen, wie die Obdachlosen leben, damit sie verstehen, was in ihnen vorgeht, welche Probleme sie haben. Und damit wir gemeinsam überlegen können, wie wir ihre Situation verbessern können. Karma», sie schüttelt den Kopf, «damit macht man es sich zu einfach. Das würde bedeuten, dass der Einzelne und auch die Gesellschaft nichts tun können, um die jetzigen Lebensumstände zu verbessern, sondern dass man sich auf ein besseres Leben im nächsten vertröstet.» www.hiddentaipei.org

Soziale Stadtrundgänge Surprise hat die Sozialen Stadtrundgänge in Basel, Bern und Zürich mit einem umfassenden Schutzkonzept wieder aufgenommen. Nach drei Monaten im Corona-Lockdown können sich nun die 13 Stadtführerinnen und Stadtführer wieder ein eigenes Einkommen erwirtschaften und Interessierten ihre Stadt aus der Perspektive von Armutsbetroffenen und weniger Privilegierten zeigen. Buchen Sie einen Sozialen Stadtrundgang direkt hier: surprise.ngo/stadtrundgang A JA

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Abstandsregeln? In «Very Important» kommt uns der Schauspieler ganz nah – am Bildschirm.

Lesung im Plexiglaskasten: Brandy Butler im «Performance Supermarket» des Theater Neumarkt.

Pfannenmüller rennt raus Theater Abstandsregeln sind eine schwierige Sache, wenn

Nähe und Distanz Mittel des Ausdrucks sind. TEXT  DIANA FREI

Meinen Jeton habe ich eingeworfen, lang­ sam ruckelt ein Vorhang auf. Im Plexi­ glaskasten vor mir sitzt Brandy Butler, Soul-Sängerin, Performerin, Aktivistin, Afro­amerikanerin, Ensemblemitglied am Theater Neumarkt. Wir sind drei, die in der Lesung sitzen, aber wir sind je allein in un­ serem Raum, abgeschirmt von den ande­ ren. Mir gegenüber, ich sehe ihn durch den Plexiglaskasten hindurch, sitzt ein älterer Herr. Brandy Butler liest «Invisible Man» des afroamerikanischen Autors und Jazz-­ Musikers Ralph Ellison. Draussen im rea­ len Leben wird gegen Rassismus demons­ triert. Der «unsichtbare Mann» im Buch ist ein schwarzer Mann – sozial unsichtbar, weil er von den Weissen nicht wahrgenom­ men wird. Ein intimer Moment. Die Schau­ spielerin, diese Geschichte und ich. Gegen­ über der Mann. Was er sich wohl überlegt? 22

Folgt er der Geschichte? Was hält er von den Demos draussen? Meine Wahrnehmung stapelt sich in drei Schichten. Ich wühle hypothetisch im Hirn des älteren Herrn herum und verstri­ cke mich dabei in eigenen Vorurteilen (Ist das jetzt ein weisser alter Mann?), versuche mich auf das Englisch der Lesung zu kon­ zentrieren und bin – ganz bei mir – mit der Absurdität beschäftigt, auf Anraten des Kassenpersonals eine Maske zu tragen, ob­ wohl ich alleine hier sitze. Ich spiegle mich links und rechts, ich möchte ein Selfie schiessen und tue es nicht, weil ich mich schäme vor dem alten Mann, der mich ge­ nauso beobachten kann wie ich ihn. Und Brandy Butler? Brandy Butler ist eine Wucht. Nach 15 Minuten schliesst sich der Vorhang, obwohl die Lesung noch nicht zu Ende ist. Die Vorstellung geht ohne mich

weiter – was für ein Gefühl. Das war die erste Vorstellung des «Performance Super­ market» im Theater Neumarkt. «Der ‹Supermarket› ist eine mögliche Antwort darauf, wie wir unter Schutzkon­ zepten wieder zusammenkommen kön­ nen. Der Lockdown war zwar ein Schock, aber auch eine sehr produktive Phase», sagt Tine Milz, mit Hayat Erdoğan und Ju­ lia Reichert eine der drei Co-Leiterinnen des Theater Neumarkt in Zürich. Norma­ lerweise reden ein paar Schaupielerinnen und Schauspieler zu oder vor einem Pub­ likum von vielleicht 50, vielleicht 500 Leu­ ten – einer Masse, die schweigt und dann irgendwann applaudiert. Der Raum ist im Theater ein zentrales Element. Er definiert die Beziehung von Spielenden und Publi­ kum. Nähe und Distanz sind inhaltliche Kategorien, auf der Bühne wie im Zuschau­ Surprise 478/20


«Wir können mit den Schutzmassnahmen spielen», sagt Tine Milz (rechts) vom Direktorinnen-Trio des Theater Neumarkt (links und Mitte: Hayat Erdoğan und Julia Reichert).

BILD(1): PHILIP FROWEIN, BILD(2): VEIT MERNITZ, BILD(3): FLAVIO KARRER

erraum. Nun ist da plötzlich ein Virus, das Abstandsregeln definiert und Raumkon­ zepte vorschreibt. Wie geht ein Theater damit um? Ei­ gentlich ist das eine spannende Ausgangs­ lage. Tine Milz sieht das genauso. «Das Neumarkt hat keinen klassischen Theater­ raum, in dem Bühne und Zuschauerraum fix sind. Wir können mit den Schutzmass­ nahmen spielen», sagt sie. Das Virus als Brandbeschleuniger Wenn nun so etwas wie ein Corona-Thea­ ter am Entstehen ist, gehört auch die Neu­ entdeckung der digitalen Bühne dazu. Die Online-Produktion «Very Important: This is About Theatre» ist in Zusammenarbeit des Theater Neumarkt mit dem Theater­ haus Jena entstanden. Der Schauspieler Leon Pfannenmüller und der Videokünst­ ler Thomas Taube haben ein dreiteiliges Projekt entwickelt, das eigentlich trockene Bühnentheorie verhandelt – aber anschau­ lich und temporeich. Pfannenmüller zeigt, dass der Raum in der Beziehung zu einem Baby auf dem Arm ein anderer ist als die zwanzig Meter bis zur Zuschauerin in der hintersten Reihe, die sich auch noch ange­ sprochen fühlen will. Und wenn der Schau­ spieler dann ganz nah zur Kamera kommt und mir ins eigene Wohnzimmer blickt, spüre ich plötzlich jeden einzelnen Zenti­ meter zwischen Bildschirm und mir auf dem Sofa. Dann reisst Pfannenmüller aus Surprise 478/20

dem Theaterraum aus, er schlägt die Tür des Hintereingangs auf und rennt, über den Theaterraum referierend, hinein in die Stadt, während die Passanten ab und an ihre eigene Meinung zur Problematik der Guckkastenbühne hineinrufen oder ein of­ feneres Theater fordern. Pfannenmüller rennt raus aus der Blackbox, raus aus der abgeschirmten Denkblase, raus aus alten Hierarchieverhältnissen. «Es ist an der Zeit, die Schwellen abzubauen, die das Theater für viele immer noch hat», sagt Tine Milz. Gerade jetzt hat das Coronavirus eini­ ges an die Oberfläche gespült, mit dem sich Theater grundsätzlich beschäftigt – gesell­ schaftliche Themen wie Gerechtigkeit, So­ lidarität, gesellschaftliche Teilhabe. Eigent­ lich ist Theater eine ständige Wertediskussion. Dass Antirassismus oder auch die Geschlechterfrage intensiver diskutiert werden als auch schon, ist kein Zufall. Das Gespür dafür, dass sich gesellschaftliche Bedingungen auf verschiedene Gruppen unterschiedlich auswirken, ist in der Co­ rona-Krise in vielen Köpfen angekommen. «Spannend ist jetzt, sich zu fragen, was die Themen sind, die das Virus noch mehr of­ fengelegt hat. Es ist eine Art Brandbe­ schleuniger, der auf alle bestehenden Kon­ flikte draufgekippt wurde», sagt Milz. «Wir wollen versuchen, die Aufmerksamkeit jetzt wieder auf die Konflikte an sich zu lenken. Die Antirassismus-Proteste zeigen,

wie problematisch bereits die Normalität war. Wir wollen gar nicht zurück in die ge­ sellschaftliche Normalität vor der Coro­ na-Krise.» Leinwände, die miteinander sprechen Auch formal ist jetzt die Zeit, etwas auszu­ probieren. Das fänden auch viele freie Gruppen, mit denen er zusammenarbeite, sagt Manuel Bürgin, Leiter des Zürcher Theater Winkelwiese. Mischformen aus analogem Vorstellungsbetrieb und Verla­ gerung ins Netz werden ausprobiert. Das kann ein Stück sein, das einerseits auf ei­ nem Youtube-Kanal in Form von Mi­ ni-Clips stattfindet, die wiederum auf eine Live-Situation im Theaterraum verweisen. Aber auch ein klassisches Stück unter Co­ rona-Bedingungen umzusetzen, bedarf neuer, grundsätzlicher Überlegungen. Ma­ nuel Bürgin will im Juni einen Test für eine eigene Regiearbeit machen: «Ein Projekt, das eigentlich analog angedacht war und für das wir jetzt eine Umsetzung mit Video testen wollen.» Das Equipment und den Proberaum stellt das Theater Neumarkt zur Verfügung. Auch das ist eine Neuerung, die die Krise gebracht hat: Die Zürcher Thea­terszene ist näher zusammengerückt. In einer gemeinsamen Zoom-Sitzung – vom Schauspielhaus bis zum Kleintheater waren alle dabei – hat man sich ausge­ tauscht: über Ängste, Ideen, Organisatori­ sches und praktische Hilfestellungen. 23


Theater im Gang statt auf der Bühne: Mit dem Raum spielte die Winkelwiese schon immer.

«Theater wird in zehn Jahren nicht mehr gleich aussehen.» MANUEL BÜRGIN, LEITER THEATER WINKELWIESE

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Bürgin und fügt an: «Ich interessiere mich sehr dafür, wie Präsenz im Theaterraum neu verhandelt werden kann. Ich glaube nicht, dass Theater in zehn Jahren noch so aussehen wird wie jetzt. Es gibt viel Poten­ zial, das noch irgendwo schlummert und entdeckt werden will.» Der Autor auf dem Sprungbrett Vor zwanzig Jahren hätten wahrscheinlich auch Online-Vorstellungen noch nicht so ausgesehen wie heute: Im Digitalpro­ gramm des Zürcher Theater Gessnerallee hielt die britische Gruppe Heart of Glass «A slow conference for a fast evolving cri­ sis» ab – eine langsame Konferenz über eine sich schnell entwickelnde Krise. Es ging darum, was mit marginalisierten Gruppen in der Krise passiert. Die On­ line-Gäste bewegten sich mit ihrer Arbeit in einem Bereich, in dem sich Kunst und

Sozialarbeit vermengen. In der Seitenleiste bekam ich laufend weiterführendes Mate­ rial zum Geschehen: Buchtitel, Essays der Gesprächsteilnehmenden, Links zu ihren Instagram-Accounts, www-Adressen. Ich wurde Teil einer Interessengruppe, die sich für ein ganz bestimmtes Thema engagiert. Auch die Kaserne Basel nutzte die Zeit für Lecture Performances: In einem Projekt der argentinischen Künstlerin Lola Arias präsentierten internationale Künstlerin­ nen und Künstler ihre Recherche- und Ar­ beitsmaterialien und stellten ihre Metho­ den zur Diskussion. Ich hätte mich über Zoom live mit den Künstlerinnen austau­ schen können. Und wäre damit Teil der Performance geworden. Was auffällt: Online werden nicht nur Geschichten erzählt – natürlich gab es auch die integrale «Wozzeck»-Inszenie­ rung am Opernhaus –, sondern spieleri­ sche Theorie mit relativ hohem Abstrakti­ onsgrad und politischer Haltung wird vermittelt. Es sind künstlerische Formen von Aktivismus. Mit Corona hat diese Tendenz hin zum Aktivistischen vordergründig nicht viel zu tun. Sie kam schon vor mehreren Jahren in der freien Szene auf und findet seither im­ mer stärker auch in den Institutionen ihren Platz. Trotzdem wird sie zurzeit verstärkt sichtbar: Die Formate, die den Diskurs per se in den Vordergrund stellen, sind relativ leicht ins Digitale übersetzbar. Aber noch­ mals: Ist das noch Theater? Ja, findet Win­ kelwiese-Leiter Manuel Bürgin. «Das The­ ater ist nicht nur ein Ort der Vorstellung und des Unterhaltungsmoments, sondern auch ein Ort der Versammlung und der Öf­ fentlichkeit. Ein Ort, wo man Stellung be­ zieht. Das Theater unternahm schon in der Antike den Versuch, seinen Bürgern poli­ tische Themen näherzubringen.» Vielleicht senkt das Internet die Zu­ gangsschwelle, vielleicht definiert die be­ schränkte Platzzahl die Beziehung zwi­ schen Spielenden und Publikum neu. Vielleicht wird das Theater in den kom­ menden Monaten stärker zu einem öffent­ lichen Raum. So stellt auch der Regisseur Samuel Schwarz in Zusammenarbeit mit etlichen Kulturhäusern ab Juli die «Coro­ na-Stage Max Frisch Badi» auf die Beine. Im Zürcher Freibad Letzigraben, erbaut von Max Frisch, werden Bade- und Thea­ tergäste verschiedensten Inszenierungen begegnen. Kann sein, dass in diesem Som­ mer also ab und zu mal ein Autor auf dem Sprungbrett steht und eine Lesung abhält. Surprise 478/20

BILD(1): GÉRALDINE ZOSSO, BILD(2): ANDREAS LEHNER

Die Produktion, der Bürgin eine neue Form geben will, ist ein Dialogstück zwischen zwei Figuren auf einem Kreuzfahrtschiff. «Wir haben uns gefragt, ob es möglich wäre, dieses Stück komplett ohne physi­ sche Präsenz der Darstellenden umzuset­ zen. Sondern nur über zwei Screens, über die die Figuren miteinander im Dialog sind. Aber mit dem ganzen Theaterapparat, Nebel, Licht, Musik, und dem Publikum zwischen diesen Leinwänden.» Die Test­ aufnahmen sollen Fragen klären, die bei digitalen Formaten immer eine Rolle spie­ len: Was für eine Wirkung haben die Schauspieler auf der Leinwand? Macht es Sinn, dass ich dafür ins Theater gehe, oder könnte ich es auch am Fernsehen angu­ cken? Und letzten Endes: Wie kann man den Ort Theater neu definieren? «Vielleicht findet ein klassisches Theaterpublikum: Ist das überhaupt noch Theater?», meint


«Wir sind im Fall viele» Buch «Wir – Fotografinnen am Frauen*streik» heisst ein Bildband, der die Frauenanliegen

in ihrer ganzen Bandbreite zeigt. Ein Kollektiv von 32 Fotografinnen hat ihn realisiert.

Die Idee kam an einem Vorbereitungstreffen für den Frauenstreik 2019 auf: Die Berner Fotografin Yoshiko Kusano war von einer Redaktion hingeschickt worden. Es waren etwa 300 Frauen da – und nebst Kusano ein paar Fotografen und ein Kameramann. «Ich fand es total schade, dass man als Redaktion Männer an ei­ nen Anlass schickt, der allein von den Frauen lebt», sagt die Fo­ tografin. Also machte sie einen Aufruf an die Berufskolleginnen: Ob sie dabei wären, den Frauenstreik gemeinsam zu dokumen­ tieren? 32 Fotografinnen waren es zum Schluss, die sich auf un­ terschiedliche Ecken der Schweiz verteilten. «Ich fand aber, es wäre ein falsches Signal, wenn wir das gratis machen würden.» Also boten sie einen professionellen Dienst an. «Wir dachten, Redaktionen würden sich vielleicht solidarisch zeigen und nur Bilder drucken, die von Frauen gemacht wurden.» Dem war nicht so. Die Bilder wurden nicht sehr breit genutzt. Als sich die Foto­ grafinnen darauf zum ersten Mal als Kollektiv trafen, entstand die Idee für das Buch. Denn das Anliegen, diesen Frauenstreik in seiner Vielfalt sichtbar zu machen, bestand nach wie vor. Uhrenarbeiterinnen im Vallée de Joux «Nicht jede Frau war aus dem gleichen Grund an diesem Streik», sagt Kusano. «Gerade bei jungen Frauen spielte die Körperlich­ keit eine grosse Rolle. Die MeToo-Debatte und die Frage der Gen­ deridentität waren beim ersten Frauenstreik 1991 noch nicht in der Form vorhanden.» Genauso wurde aber auch die kostenlose Betreuungs- und Hausarbeit angeprangert, das patriarchale Sys­ tem im Ganzen. Die Fotos zeigen die ganze Bandbreite an For­ derungen, sie zeigen die ganze Diversität der Teilnehmerinnen – und werden damit beinahe zu einer Art historischem Abriss von Frauenanliegen: Da sind die älteren Frauen, die fast ein ganzes Surprise 478/20

Erwachsenenleben lang ohne Stimmrecht verbrachten, und da sind die jüngeren, die sich Vagina oder Uterus auf die Haut ma­ len. «Mich hat beeindruckt, dass es kulturelle Unterschiede gibt», sagt Kusano. «In der Romandie gab es wahnsinnig viele barbu­ sige Frauen, das hatten wir in der Deutschschweiz nicht.» Sie selbst machte sich an dem Tag zu den Uhrenarbeiterinnen im Vallée de Joux auf. «Das Vallée ist sehr abgelegen. Ich hatte ältere Frauen erwartet, die ein Leben in der Fabrik gearbeitet hatten.» Tatsächlich traf sie dann aber auf viele in der Uhrenin­ dustrie beschäftigte junge Migrantinnen, die stolz auf ihren Job sind. Trotzdem ähnelte der Anlass mehr einem Gewerkschaftsund Bratwurstfest. Dagegen fährt in Zürich auch mal eine über­ dimensionale Klitoris auf einem Wagen mit, oder es prescht ein beflaggter Traktor die Langstrasse entlang. Kostümierungen und Inszenierungen spielen mit Absurditäten. Auch mit der absurden Situation, dass Frauen nach Jahrzehnten noch die immer gleichen Forderungen stellen müssen. «Wir» heisst nun also das Buch. Wir – die Frauen, könnte man meinen. Doch darunter steht: «Fotografinnen am Frauen*streik». «Wir», die Fotografinnen also? Durchaus. «Es ging nicht nur da­ rum, den Streik zu dokumentieren», sagt Kusano. «Sondern auch darum, ein Zeichen zu setzen und zu sagen: Wir sind im Fall viele Fotografinnen – wenn du also das nächste Mal einen Job vergibst, könntest du dir überlegen, ob du eine Frau anfragen willst.» FOTO: ZVG

BILD(1): DANIELLE LINIGER, BILD(2): CAROLINE MINJOLLE, BILD(3): CHRISTINE STRUB

TEXT  DIANA FREI

Yoshiko Kusano, Caroline Minjolle, Francesca Palazzi (Hg.): «Wir – Fotografinnen am Frauen*streik», Christoph Merian Verlag 2020, 34 CHF.

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Fribourg «Peter Aerschmann – I MISS YOU», Ausstellung, Di bis So 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, bis So, 20. September, Musée d’art et d’histoire Fribourg, Rue de Morat 12 / Murtengasse 12. mahf.ch

Peter Aerschmann gehört zu den profilierten Medienkünstlern der Schweiz. Seine am Computer generierten Filme beruhen auf eigenen Videos oder Fotos, mit denen er auf Strassen und Plätzen, mitten im Leben, den Alltag einfängt. Daraus baut er dann digital eine neue Wirklichkeit, eine Art digital animierte Standbilder, archetypische Szenen unserer Zeit. In der Fribourger Ausstellung erkundet er den (realen und digitalen) Reisenden, der sich gleichzeitig an verschiedenen Orten aufhält und dennoch viele Dinge verpasst – nicht zuletzt sich selbst. Aerschmanns Projektionen lassen es zu, in eine Welt fesselnder und suggestiver Bilder einzutauchen und stellen dabei doch bewusst die Frage nach der Verortung des Menschen in der Welt. DIF

Muttenz/Basel «Christoph Oertli – Sensing Bodies», Ausstellung, bis So, 5. Juli; «Lena Eriksson – Tag und Nacht freihalten», Jahresaussenprojekt, bis Do, 31. Dez., Di bis So 11 bis 17 Uhr, Kunsthaus Baselland, St. Jakob-Strasse 170. kunsthausbaselland.ch

Christoph Oertli (auch er wie Aerschmann ein bekannter Schweizer Film- und Videokünstler) zeigt in seinen Arbeiten, wie der Mensch seine Identität zu fassen versucht. In langen, teils aufwendigen Inszenierungen baut er die Drehorte selbst, fast wie in einer Bühneninszenierung. Die Personen, die darin auftreten, sind aber die, denen Oertli auf seinen teils mehrmonatigen Reisen ganz real begegnet. Er interessiert sich für Details,

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die kulturell bedeutend sind: So sei etwa «Sensing Bodies» kein Film über Japan, sondern aus dem Interesse am Gebrauch unserer Körper in hochentwickelten Gesellschaften heraus entstanden. Und wenn wir schon beim Reisen sind: Auch die Künstlerin Lena Eriksson ist eine Abenteuerreisende, eine Einladende und Gastgeberin, eine Gesprächspartnerin – mit wachem Blick reist die Walliserin durch die Welt. Am liebsten an Orte, die weder das Reisen noch den Reisenden kennen, die Zeit fordern und Entschleunigung verlangen. Ihre Werke wirken wie Skizzen aus dem gelebten Leben – sie bespielt damit die Aussenwand des Kunsthaus Baselland. DIF

Hilterfingen (BE) «Kochen gegen Armut und Trunksucht – Zur Geschichte der Wanderküchen», Ausstellung, ab So, 28. Juni (Saisonende So, 18. Oktober), Di bis Sa 14 bis 17 Uhr, So 11 bis 17 Uhr, Stiftung Schloss Hünegg, Staatsstrasse 52. schlosshuenegg.ch Frauenvereine und Gemeinnützige Gesellschaften haben sich früh mit der Ernährung der ärmeren Bevölkerung befasst. Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie darauf aufmerksam, dass Mangel- und Fehlernährung sowie Armut und Alkoholismus einen Zusammenhang hatten. Und sie wurden ak-

tiv – indem sie in sogenannten Wanderkursen auf dem Land angehende Hausfrauen im Kochen und in der Haushaltführung unterrichteten. Im Schloss Hünegg ist nicht nur eine der typischen Wanderküchen zu sehen, auch die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Gesundheit und Schichtzu­ gehörigkeit werden aufgezeigt. Thema sind dabei auch die gleichzeitig entstandenen Hauswirtschaftsschulen – und damit die Geschichte der Kochbücher. DIF

Nyon «Sentiments, signes, passions. À propos du livre d’image», Ausstellung von Jean-Luc Godard, bis So, 13. September, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Château de Nyon. chateaudenyon.ch

«Livre d’image» (2018) heisst JeanLuc Godards neuster Film. Er zeigt Bilder aus der Filmgeschichte, angeordnet zu einem politischen filmischen Gedicht. Mit Godards unverkennbarer Stimme und allem, was man von ihm sonst so kennt: sich überlagernde Töne, Texte, Mu-

sik und übersättigte Farben. Die Ausstellung dazu hat der französisch-schweizerische Regisseur in Zusammenarbeit mit dem Filmfestival Visions du Réel und seinem langjährigen Kameramann und Mitarbeiter Fabrice Aragno umgesetzt. Sie greift das Drehbuch des Films auf und fragmentiert jeden Teil des Werks noch weiter: Die bildliche wie die akustische Ebene werden aufgebrochen, die Elemente neu assoziiert. Das lineare Format des Films wird aufgelöst. Dafür entsteht eine neue Sprache, die die Betrachterin für sich selbst darin finden kann. Die Teile des Films werden so neu erfunden – und in den Sälen des Château de Nyon neu zusammengesetzt. DIF

Rapperswil «When the Sick Rule the World», Ausstellung, bis So, 5. Juli, Mi 12 bis 18 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, Fabrik Rapperswil, Klaus-GebertStrasse 5. alte-fabrik.ch

Was ist «gesund» und was «krank»? Die Gruppenausstellung in Rapperswil hinterfragt normative Kategorien. Der Titel «When the Sick Rule the World» entstammt einem Essay aus der gleichnamigen Prosasammlung der Autorin Dodie Bellamy aus dem Jahr 2015. Der Text zelebriert all diejenigen als Hoffnungsträger, die oft als krank, schwach, ineffizient und damit auch als weniger wert eingestuft werden. Krankheit sei eine dehnbare und sozial konstruierte Kategorie, sagt das Kuratorenduo. Sie trage als Konzept dazu bei, dass Einzelnen oder bestimmten Gruppen körperliche Autonomie und Handlungsfähigkeit abgesprochen werde. Inspiriert von Dodie Bellamy stellen sich 14 Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung eine Gesellschaft vor, die aus dem Blickwinkel all derjenigen geformt wird, die oft als schwach oder abnorm behandelt werden. DIF

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BILD(1): PETER AERSCHMANN, BILD(2): LENA ERIKSSON/GINA FOLLY, BILD(3): VISIONS DU RÉEL/JULIEN GREMAUD, BILD(4): NIKLAS GOLDBACH

Veranstaltungen


nahezu verlotterten Zustand, was durch­ aus seinen Charme hat, man kann zwi­ schen ihnen hindurchgehen, über Kies­ wege und -plätze. Zahlreich und international sind die Take-­aways. Vier dieser Mietvelos, die einst in Paris Furore machten, dann in fast allen grösseren Städten zu finden waren und jetzt von Limebikes und Elektro­scootern abgelöst wurden, warten auf Benutzerinnen. Aufgeben musste ­leider der Haushaltwarenladen, der neben Tabak und Spirituosen auch Spiegel und Bilderrahmen anbot, wie an der Mar­ kise zu lesen ist. Kurzum, der Everything Store, der alles führte, was man zum ­Leben brauchte. Bis Amazon kam. Noch nicht aufgegeben hat das Theater Duo Fischbach, das mit einem bunten Plakat aus dem Grau sticht. Bleibt zu hoffen, dass es noch lange gegen Netflix, Amazon Prime und das Glitzern der Grossstadt bestehen wird.

Tour de Suisse

Pörtner in Küssnacht (am Rigi) Surprise-Standorte: Bahnhof und Coop Einwohnerinnen und Einwohner: 13 087 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 21,6 Sozialhilfequote in Prozent: 3,9 Namenszusatz bis 2003: am Rigi

Der Bahnhof Küssnacht am Rigi ist ver­ lassen. Es gibt ein Musiklokal (geschlos­ sen), einen uniformierten Bahnhofs­ vorstand (Schaufensterpuppe), einen Bus (leer), einen Selecta-Automaten (in Be­ trieb) und zwei Sitzbänke (frei). Einzig im Warteraum drängt sich eine Gruppe Halbwüchsiger. Was es gibt, ist eine Aus­ sicht. Auf den See, der Küssnachtersee heisst – einer der weniger bekannten Seitenarme des Vierwaldstättersees – und natürlich auf die Rigi, laut Eigenwer­ bung die Königin der Berge. Womit sich die Frage stellt, warum die Haltestelle nicht Küssnacht an der Rigi heisst. Der Ort selbst hat sich des Problems erledigt, indem er sich nur noch Küssnacht nennt. Laut Duden ist Rigi ein Sub­ stantiv, maskulin oder ein Substantiv, fe­ minin. Handelt es sich also um den ers­ ten Transgenderberg, der korrekt Rig*i Surprise 478/20

heissen müsste? Wenn ein berühmter Ausflugsberg das Geschlecht und eine Gemeinde in der konservativen Innerschweiz den Namen wechseln können, so ist ­wenig stichhaltig, warum Süssigkeiten ihre althergebrachten Bezeichnungen beibehalten sollten. Ein Stück stadteinwärts findet sich das Hotel/Restaurant Bahnhof, das aber auch nicht viel belebter wirkt. Die Stras­ sen­schilder weisen an historische Stätten wie die Hohle Gasse oder die Gessler­ burg, und sogar eine Grand Tour ist aus­ geschildert. Auch eine Bahn auf die Rigi gibt es, allerdings ist dieser Touristen­ magnet besser von der anderen Seite er­ schlossen. Busse und Reisegruppen sind keine zu sehen. Dabei gäbe es schon et­ was zu sehen, alte bis sehr alte Gebäude, stattlich oder verwinkelt, teils in einem

Die überdimensionierte Betontreppe in der kleinen Fussgängerzone vor dem Coop lädt nicht zum Verweilen ein. Und doch stehen hier drei Frauen, die un­ beeindruckt von der kühlen Witterung und der eher dünnen Kleidung der einen lange beisammenstehen und re­ den. Ihr Lunch besteht aus Zigaretten und Red Bull. Im Café füllt die Tochter der Mutter das Kreuzworträtsel aus und lässt sie nicht zu Wort kommen. Es ist, als würde sie ihr eine lästige Aufgabe abnehmen. Lotta rennt, oder wie hiess der Film noch mal? Bald ist das Rätsel gelöst, noch nie haben sie von einem Zürcher Stadtviertel namens Riesbach gehört. Dabei läge auch das an einem See, mit Blick auf ei­ nen Ausflugsberg.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

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Eine von vielen Geschichten 01 Dietke Becker, Physiomovimento, Männedorf 02 Stefan Westermann Immo DL, Lützelflüh 03 Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern 04 Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti 05 Gemeinnütziger Frauenverein Nidau 06 Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden 07 Brother (Schweiz) AG, Dättwil 08 Senn Chemicals AG, Dielsdorf 09 Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur 10 Scherrer & Partner GmbH, Basel 11

TopPharm Apotheke Paradeplatz

12 Coop Genossenschaft, Basel 13 Gemeinnützige Frauen Aarau 14 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 15 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich 16 Yogaloft, Rapperswil 17 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 18 Zubi Carosserie, Allschwil 19 Kaiser Software GmbH, Bern

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

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20 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern 21 RLC Architekten AG, Winterthur 22 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 23 Neue Schule für Gestaltung, Bern 24 SpringSteps GmbH, Bülach 25 Steuerexperte Peter von Burg, Zürich Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

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Wir alle sind Surprise #476: Überleben im Niemandsland

#474: «Ich stehe ganz am Anfang»

«Ganz grosses Kino»

«Sehr berührt»

Schon lange habe ich mich gefragt, was eigentlich abgeht in der Ukraine. Und jetzt kriege ich im Beitrag von Klaus Petrus das volle Programm: spannende Reportage, informatives Interview mit einem grossartigen Autor, Analyse und Kommentar: ganz grosses Kino! Vielen Dank für Ihre super Arbeit.

Liebe Sandra Brühlmann, danke, dass Sie Ihre Geschichte hier teilen. Sie hat mich sehr berührt. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für die Ausbildung zur Peer-Arbeiterin.

S. HOFER,  Bern

1 Meerschweinchen darf man nicht halten.

Soeben lese ich das Surprise und lande bei Pörtner in Stäfa. Danke für die klare Wahrnehmung des Standortes bei der Migros. Bei «Möglicherweise ein neuer Beruf ...» musste ich schmunzeln – gute Ideen. Dazu fällt mir unser Dorfaltersheimleiter ein: In einem Brief an die Angehörigen nennt er den «Tropfenzähler» Schleusenwärter. Mit dieser Wahl des Wortes konfrontiert, schrieb ich ihm menschenkonformere Ideen. Seine Antwort lautete: Einer kommt rein – einer geht raus – bei Schleusen sei das nicht anders ... Er macht seine Arbeit ansonsten sehr gut, die Wortwahl aber war sehr unglücklich, da es sich um Menschen handelt und nicht um Schiffe oder sonst was.

P. HUBELI,  Facebook

M. ERIKSSON,  Hünibach am Thunersee

#475: «Kaufen Sie sich ein Meerschweinchen!»

P. THOMA,  Facebook

#476: Pörtner in Stäfa

«Gute Ideen»

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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Alice Grünfelder, Dimitri Grünig, Andreas Hauch, Christina Repolust, Ivano Talamo Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

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FOTO: ANDREAS HAUCH

Internationales Verkäuferinnen-Porträt

«Auf meine Tiere kann ich mich verlassen» Es ist nicht leicht, mit Sonja Stockhammer Schritt zu halten. Sie geht zügig und steuert zielstrebig auf jenes Hotel zu, in dem wir uns verabredet haben. «Du darfst mich alles fragen, was du willst, ich sag dir dann schon, ob mir eine Frage zu privat ist», lädt mich Sonja ein, den Gesprächsfaden zwischen Distanz und Nähe, Vertrauen und Rückzug möglichst locker und unverkrampft auszurollen. Sonja erzählt von ihren Pferden, Hunden und Katzen, sie weiss, dass sie sich auf all ihre Tiere verlassen kann. Bestimmt legt sie fest, worüber sie reden möchte und worüber nicht: «Ich habe viel erlebt, manches war echt hart. Aber lassen wir das und reden wir von etwas anderem.» Seit zwanzig Jahren verkauft die schlanke, sportliche Frau die Salzburger Strassenzeitung Apropos. Wenn sie donnerstags am Mirabellplatz das Magazin verkauft, kommen ihre Stammkundinnen und -kunden. «Klar ergeben sich da etliche Gespräche, meine Leute kennen mich schon gut, sie wissen, wann ich reden will oder wann es besser ist, mich in Ruhe zu lassen.» Dann bleibt Sonja zwar freundlich, ist aber nicht zum Plaudern aufgelegt: «Man muss ja nicht dauernd reden, manchmal passt es einfach besser, den Mund zu halten.» Neben Sonja lässt es sich gut schweigen, sie nippt am Cola, ich am Tee und wir denken, jede für sich, über das Gesagte und Gehörte nach. «Ich wohne auf dem Land, da ist es sehr ruhig, ich geh aus der Tür und bin mitten in der Natur.» Wie ihr erstes Pferd geheissen hat? «Nabucco, ein Warmbluttraber. Schon als Kind war ich jeden Tag auf dem Reiterhof, habe dort mitgeholfen und bin auch ausgeritten.» Bevor ich mir die kleine Sonja auf einem gutmütigen Pony irgendwo auf einer Weide zwischen Salzburg und Oberösterreich vorstellen kann, grinst sie: «Ein Pony? Ich bin gleich auf ein richtiges Pferd gestiegen, das hat immer gut gepasst.» So endet also meine Pony-Sonja-Phantasie sehr abrupt. Sonja hat recht, sie hätte wohl nie auf ein Pony gepasst. Oder besser gesagt, sie hat immer viel von sich gefordert, sie musste rauf aufs grosse Pferd und rein in die für ein junges, zartes Mädchen körperlich harte Arbeitswelt. Gleich nach der Schule hat Sonja im Gastgewerbe zu arbeiten begonnen: «Ich war mir für keine Arbeit zu schade, wir haben damals wirklich richtig rackern müssen.» Wenn sie von dieser Lebensphase erzählt, wird ihr Redefluss noch schneller, als er ohnehin schon ist. 30

Sonja Stockhammer, 43, verkauft in Salzburg das Strassenmagazin Apropos und hat einen besonderen Draht zu ihrem Pferd Nabucco.

Freiheit ist Sonja wichtig. «Drinnen fühl ich mich schnell eingesperrt. Kaum gehe ich hinaus, spüre ich, dass ich freier atme – die Natur ist mein Freiraum.» Und wieder kommt Sonja auf ihre Tiere zu sprechen und auf Verlässlichkeit und Treue. Bei solchen Themen wird sie ganz ernst. «In meinem Leben haben mich meine Tiere nie enttäuscht. Tiere sind ehrlicher als manche Menschen, die einem etwas vorspielen. Ich habe viel Zeit damit ­verbracht, die Sprache der Tiere zu verstehen, denn es ist wirklich eine eigene Sprache. Mit Worten kann man ­andere kränken, in die Irre führen oder sogar belügen. Die Tiere und ich sprechen eine ganz andere, gemeinsame Sprache.» Die wilde Sonja auf ihrem wilden Nabucco, das ist ein Bild, das wir beide teilen können. «Wenn ich aufsteige, weiss das Pferd sofort, wie ich drauf bin, und umgekehrt. Da braucht man nicht viele Worte, es geht ums Spüren und darum, dass man einander vertraut.» Sonja hat alles erzählt, was sie von sich preis­ geben will, sie möchte weiter. «Ich muss zum Zug, will nach Hause und dann vielleicht noch eine kleine Runde spazieren gehen.»

Aufgezeichnet von CHRISTINA REPOLUST Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von APROPOS Surprise 478/20


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