FOTO: ASPHALT/SVEA KOHL
Internationales Verkäufer*innen-Porträt
«Lieber Mond, bitte mach, dass sie mich hier rausholen» Seit fünf Jahren verkaufe ich in Celle das Strassenmagazin Asphalt. Es tut gut, mit anderen Leuten ins Gespräch zu kommen, sonst habe ich nämlich nicht so viel Kontakt. Ich lebe mit Jacko und Charly zusammen, meinen Wellensittichen. Sie zwitschern immer so schön. Sie mögen es nur nicht, wenn ich ihnen beim Schnäbeln zugucke. Dann lege ich ein Laken über ihren Käfig – für ihre Privatsphäre. Letzthin haben sie geschimpft, weil ich den Käfig nicht schnell genug abgedeckt habe. In meiner Freizeit mache ich Hörspiele zu Filmen wie «Jurassic Park», «In einem Land vor unserer Zeit» oder «Titanic». Für letzteren habe ich Jahre gebraucht, das war sehr aufwendig. Inzwischen habe ich auch eine eigene Website, sie heisst «Hörspiele mit Herz». Der Witz dabei ist, dass ich die Filme einfach frei nach Schnauze nachspreche, und zwar mit allen Charakteren. Manchmal mache ich Hörspiele ohne Vorlage und denke mir was ganz Neues aus. Derzeit plane ich etwas mit jemandem, den ich übers Internet kennengelernt habe. Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich, denn normalerweise mache ich immer alles alleine. Mit den Hörspielen fing ich an, als ich im Kinderheim war, da war ich zwölf Jahre alt. Ich hatte einen Kas settenrekorder in die Hände bekommen und gemerkt, dass man damit nicht nur Sachen abspielen, sondern auch etwas aufnehmen kann. So habe ich begonnen, Geschichten mit verschiedenen Stimmen nachzusprechen und Geräusche nachzuahmen. Meine Kindheit ist ein dunkles Kapitel. Ich hatte bei der Geburt einen Sauerstoffmangel, deshalb habe ich Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCD). Als Kind war ich sehr aufgewühlt und hyperaktiv, wie man das heute nennt – ein richtiges Biest. Schlimm wurde es mit neun Jahren, als ich in die Psychiatrie kam. Ich fühlte mich wie ein Gefangener. Erst war ich auf der offenen, dann auf der geschlossenen Station. Ich weiss noch genau, wie ich damals am Fenster stand und sagte: «Lieber Mond, bitte mach, dass mich meine Eltern endlich hier rausholen!» Und dann haben sie mich tatsächlich geholt, ich war so froh, das war wie im Kino. Nach der Psychiatrie kam ich ins Kinderheim. Ich wollte gerne unter Kindern sein, weil ich zuhause keine Freunde hatte. Dort hat es mir gut gefallen, in der Nähe hatte es einen Bauernhof mit einer Scheune und einen Spielplatz. Ungefähr zu jener Zeit trennten sich meine Eltern. Deshalb musste ich mich nach dem Kinderheim entscheiden, bei wem ich wohnen will. 30
Sascha, 39, verkauft in Celle das Asphalt und produziert seine eigenen Hörspiele.
Ich bin zu meinem Vater und seiner neuen Lebens gefährtin gezogen – was mein schlimmster Fehler war. Diese Frau schlug mich und machte meine Hörspiel bänder kaputt. Mein Vater stand zwischen ihr und mir. Richtig beschützt hat er mich nicht. So ging das nicht weiter, und ich wurde in eine Einrichtung für Jugendliche geschickt. Damals habe ich an gefangen, an meinem «Titanic»-Hörspiel zu arbeiten. Das fanden die anderen Jugendlichen nicht so cool. Sie haben mich fertiggemacht. Irgendwann bin ich da rausgekommen und in eine eigene Wohnung gezogen. Das ging leider nicht gut. Ich habe eine schizophrene Angstpsychose bekommen und musste zurück in die Psychiatrie. Danach war ich in verschiedenen Heimen. Seit gut sechs Jahren aber habe ich endlich wieder eine eigene Wohnung. Jetzt ist alles besser, auch wenn es manchmal schwer ist – so ganz ohne Freundin und Freunde. Aber: Ohne Fleiss und Flair findet man eben keine Frau. Das habe ich aus dem Film «Hitch – der Date Doktor» gelernt.
Aufgezeichnet von SVEA KOHL Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von ASPHALT/INSP.NGO
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