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«Die EU verstösst gegen Menschenrechte» Die Abschreckungspolitik der EU gegenüber Geflüchteten sei nicht nur moralisch inakzeptabel, sondern auch politisch ineffizient, sagt der Genfer Soziologe Jean Ziegler im Gespräch. INTERVIEW  KLAUS PETRUS

Herr Ziegler, im August 2015 sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts der Flüchtlingskrise die berühmten Worte «Wir schaffen das!» Was ging ihnen damals durch den Kopf? Ich dachte: Diese Frau zeigt Herz, sie findet die richtige Sprache, wendet die richtige Politik an. Ich war begeistert. Und doch hat diese Politik die Gesellschaft gespalten. Das Argument der xenophoben, rassistischen Regierungen, Geflüchtete würden eine Bedrohung für unsere Gesellschaft darstellen, wird durch die Tatsachen widerlegt. Beispiel Deutschland: Von den 1,3 Millionen Menschen, die das Land seit 2015 aufgenommen hat, sind 78 Prozent integriert, sie sprechen Deutsch, gehen in eine Schule, haben Arbeit. Allein dieses Faktum gibt Merkels Politik recht. Rechte Strömungen und Parteien erleben in den letzten Jahren einen massiven Aufschwung, auch das ist ein Fakt. Richtig: AfD, Rassemblement National, Orbán oder Salvini, sie alle legen mit ihrer Sündenbocktheorie bei jeder neuen Wahl an Stimmen zu. Sie geben den Geflüchteten für alles Mögliche die Schuld – für die Arbeitslosigkeit im eigenen Land, den maroden Sozialstaat usw. –, und die Menschen glauben ihnen. Das Schlimmste aber: Sogar die EU kuscht vor diesen Rassisten. Inwiefern? Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, glaubt, sie kön14

ne diese rassistischen Strömungen stoppen, indem sie die Zahl der Geflüchteten niedrig hält. Das aber ist ein fataler historischer Irrtum. Man konnte noch nie mit Rassisten verhandeln. Sie sind Feinde der Menschheit, Punkt. Man muss sie mit allen demokratischen und konstitutionellen Mitteln bekämpfen. Ursula von der Leyen aber will ihnen mit Konzessionen entgegenkommen und glaubt allen Ernstes, sie würden dadurch weniger rassistisch. Deshalb verfolgt sie diese grausame Abschreckungspolitik und will die Flüchtlingszahlen mit allen – auch illegalen – Mitteln runterdrücken. Mit illegalen Mitteln? Die EU verstösst gegen die Menschenrechte, ihre Präsidentin Ursula von der Leyen gehört vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Erklären Sie das. Das Asylrecht besagt: Wer in seinem Heimatland bombardiert, gefoltert oder verfolgt wird, hat das Recht, in einem anderen Land um Schutz nachzusuchen. Schliesst man die Grenzen, verunmöglicht man einem Menschen, sein Asylgesuch zu deponieren – ob es dann wirklich angenommen wird, ist eine andere Frage. Genau das tut die EU: Sie schliesst die Grenzen und schickt Menschen, die übers Meer kommen oder es über die Grenze schaffen, oft mit Gewalt zurück. Und sie toleriert wissentlich Tragödien, wie sie sich zuletzt im abgebrannten Lager Moria abgespielt haben, wo tausende Geflüchtete unter absolut

menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht werden. Ich habe dies mit eigenen Augen gesehen und in meinem neuen Buch «Die Schande Europas» ausführlich beschrieben. Soll das alles nicht der Abschreckung dienen – und ist diese Strategie inzwischen nicht doch aufgegangen? Erstens ist die Abschreckungspolitik politisch völlig ineffizient. Wer aus Idlib im Nordwesten Syriens, wo der Massenmörder Putin Wohnquartiere, Spitäler und Schulen bombiert, fliehen muss, wird nach Europa kommen, egal wie schlimm die Zustände in den Lagern auf Lesbos sind. Und zweitens tritt diese Abschreckungspolitik das Asylrecht mit Füssen. Damit zerstört die EU das Fundament, auf dem sie 1957 errichtet wurde, und verliert ihre Glaubwürdigkeit. Was müsste von der Leyen tun? Seit 2016 gibt es einen Verteilungsplan für Geflüchtete, der für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich ist. Doch die osteuropäischen Länder – darunter xenophobe, rassistische Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien – verweigern kategorisch jegliche Aufnahme von Geflüchteten. Von der Leyen müsste als Erstes diese Regierungen sanktionieren. Konkret? Die Länder Osteuropas profitieren massiv vom Kohäsionsfonds der EU. In den letzten fünf Jahren hat dieser Fonds 64,5 Milliarden Euro ausgeschüttet. Würde man jenen Staaten, die keine Geflüchteten aufnehmen Surprise 486/20


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