vereinbar». Benachteiligt würden jene, die ohnehin schon Gefahr liefen, medizinisch unterversorgt zu sein: Schlechtverdienende, Menschen mit Suchterkrankungen, Sans-Papiers oder Menschen mit Migrationsgeschichte. Besonders problematisch: Wer einmal auf der Liste steht, ist oft ein Leben lang benachteiligt. Gemäss Gerichtsurteilen reicht es nicht, wieder regelmässig Prämien zu bezahlen, um von der schwarzen Liste gestrichen zu werden. Dafür müssten sämtliche, auch über Jahre zurückliegende Rechnungen mit teils hohen Beträgen nachbezahlt werden. Aus der Schuldenspirale herauszukommen, ist für viele ein Ding der Unmöglichkeit.
«Soll ich warten, bis mich der Schlaganfall ereilt? Oder kann mir jemand das Medikament bringen? Jetzt?» LEONHARD FRIT ZE
Kein Geld, keine Medikamente – womöglich naht das Ende dieser ethisch fragwürdigen Praxis tatsächlich. Denn Artikel 64a wird derzeit überarbeitet, und der neue Gesetzestext sieht keine schwarzen Listen mehr vor. Letzter verbliebener Verfechter des umstrittenen Instruments ist der Kanton Thurgau. Dieser hatte die Listen quasi erfunden. 2007 wurde ein «Datenpool, der Personen mit Leistungsaufschub erfasst», geschaffen. Heute bezeichnet der Thurgauer Regierungsrat Urs Martin die schwarzen Listen in Bern stolz als «Thurgauer Erfolgsprodukt». Bis vor Kurzem führte der Kanton sogar Kinder auf der Liste. Erst auf Druck des Bundesrats – die Praxis verstosse gegen die UNO-Kinderrechtskonvention – mussten Minderjährige von der Liste gestrichen werden. Neue Fehlanreize Die Thurgauer Regierung behauptet, die Liste würde funktionieren. Man könne so «wirksam Prämienrückstände eintreiben». Dass dies in keinem anderen Kanton der Fall ist, ändert nichts an dieser Überzeugung. Die anderen würden das Instrument eben nicht verstehen, argumentiert der Kanton. Die schwarze Liste sei Teil eines Fallmanagements und diene als Frühwarnsystem. «Oft haben die Betroffenen nicht nur Prämienausstände, sondern eine ganze Reihe anderer Probleme und Schulden», sagte eine Vertreterin des Gesundheitsamts dem Tages-Anzeiger. Solche individuelle Hilfe sei zwar begrüssenswert, entgegnete die SAMW. Dafür brauche es keine schwarzen 20
Listen und erst recht keine Leistungsstopps; eine Meldung der Versicherungen an die kantonalen Sozialbehörden würde genügen. Diese könnten den Betroffenen wenn nötig Prämienverbilligungen oder Sozialhilfe anbieten. Doch selbst wenn die schwarzen Listen bald der Vergangenheit angehören sollten, ist nach wie vor nicht ausgeschlossen, dass Armutsbetroffene in Gesundheitsfragen benachteiligt werden. Denn als Ersatz schlägt die Gesundheitskommission des Ständerates vor, dass die Behörden den Schuldner*innen die freie Arzt- und Spitalwahl verwehren können, indem sie diese in günstigeren, alternativen Modellen wie z.B. dem Hausarztmodell versichern. Der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) befürchtet in einer Stellungnahme, dass dies neue Fehlanreize schaffen könnte. Die Versicherungen könnten beispielsweise dazu verleitet werden, die Leistungen bei solchen Modellen zu reduzieren oder gar neue Alternativmodelle für die Schuldner*innen zu schaffen. Demnächst wird das Parlament über Artikel 64a beraten. Auch wenn das Geschäft sperrig und technokratisch wirkt: Für verschuldete Menschen hat der Gesetzestext reale Konsequenzen. So wie beim Schaffhauser Leonhard Fritze, der sich vor einigen Wochen in einer Flut von E-Mails an Behörden, Ärzt*innen und Medien wandte, als ihm das blutdrucksenkende Medikament Olmesartan ausging. Fritzes Name steht auf der schwarzen Liste des Kantons Schaffhausen. Ärzt*innen verweigerten ihm darum die Tabletten. «Soll ich warten, bis mich der Schlaganfall ereilt? Oder kann mir jemand das Medikament bringen? Jetzt?», schrieb Fritze verzweifelt. So weit wie seinerzeit beim Aidskranken in Graubünden kam es bei ihm zum Glück nicht. Nachdem er die letzte Tablette geschluckt hatte, fuhr Fritze direkt auf den Notfall im Kantonsspital, wo man ihm ein Rezept ausstellte. Bezahlen musste Fritze in der Apotheke daraufhin selbst. Das Geld lieh er sich bei einem Freund.
«Unsolidarisches Gesundheitswesen» Krankenkassenprämien sind einer der wichtigsten Gründe für Überschuldung. Rund jede dritte der jährlich 421 000 Betreibungen in der Schweiz erfolgt wegen unbezahlter Rechnungen der Krankenkasse. Der SGB sieht das Problem tief im System verankert. «Das Schweizer Gesundheitswesen ist falsch und unsolidarisch finanziert», schreibt er. Weil Krankenkassenprämien hierzulande hauptsächlich durch Kopfprämien getragen und nicht vom Einkommen abhängig sind wie in Nachbarländern. Dies schaffe «beste Voraussetzungen dafür, dass Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen in die Zahlungsunfähigkeit getrieben werden». Ein Ausweg wäre die Prämienentlastungsinitiative der SP. Sie verlangt, dass Krankenkassenprämien maximal 10 Prozent des verfügbaren Einkommens betragen dürfen. Der Bundesrat hat die Initiative abgelehnt und einen Gegenvorschlag erarbeitet, der vor allem mehr Prämienverbilligungen zur Verfügung stellen will. Die Initiative wird bald im Parlament beraten und kommt danach vorausEBA sichtlich vors Volk.
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