Kommentar
Lieber Herr Berset Ich hoffe, Sie sind gesund. Das ist das Wichtigste. So banal das klingen mag, es lohnt sich, das zu sagen, gerade in diesen Zeiten. Bestimmt haben Sie wenig Zeit, darum komme ich gleich zur Sache. Es geht um die Invalidenversicherung, für die Sie als Bundesrat zuständig sind. Stopp! Bitte nicht weglegen. Klar, Sie hatten bereits eine Untersuchung im zuständigen Bundesamt für Sozialversicherungen angeordnet. Und die Politik hat einige sinnvolle Massnahmen beschlossen. Doch das wird nicht reichen. Die Probleme werden zu Ihnen zurückkommen wie ein Bumerang, in einem, in zwei, vielleicht auch erst in fünf Jahren. Denn der Fehler, der sich nun schon seit beinahe zwei Jahrzehnten im System der IV befindet, ist nach wie vor nicht behoben. Doch dazu später mehr. Das ist die eine Seite, die politische. Die andere ist die menschliche. Stellen Sie sich vor, Sie werden krank und verlieren Ihren Job. Dann sagt ein Arzt zu Ihnen: Herr Berset, Ihnen fehlt nichts, Sie können arbeiten. Das wünschen Sie sich ja auch, also bemühen Sie sich um eine Stelle. Aber Sie finden keine oder es geht einfach nicht, die Belastung ist zu hoch. Können Sie sich vorstellen, wie zerrissen und wertlos sich diese Menschen fühlen? Natürlich, bei der IV geht es um Geld, um Renten, auch um Eingliederung. Aber vergessen Sie bitte nicht, dass es noch um etwas anderes geht: um Würde.
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Denn das ist eine der Ideen, warum der Staat uns sozial absichert. Und dass er das tut, macht das Leben für uns alle besser, ohne Frage. Ob Altersvorsorge, Arbeitslosenkasse, Unfall- und Invalidenversicherung oder auch die Sozialhilfe: Das alles sind grosse Errungenschaften im Sinne der Menschenwürde – allerdings aus dem letzten Jahrhundert. Manche halten das System als Ganzes für überholt. Der Zürcher Menschenrechtsanwalt Philip Stolkin etwa fordert eine Allgemeinversicherung. Am Beispiel der IV zeigen sich die Probleme sehr klar: Kranke Menschen, die abgelehnt werden, landen in der Sozialhilfe. «Was bringt es, wenn die Menschen von einem Kässeli ins andere geschoben werden?», fragte mich Ihre Parteikollegin und Nationalrätin Yvonne Feri kürzlich am Telefon. Sie fand, wir sollten nicht nur über die Finanzen reden, sondern vor allem über die Menschen. Ich hatte darauf keine Antwort. Sie? Darum geht es mir in diesem Brief. Führen Sie sich bitte noch einmal konkret vor Augen, welche Missstände bei der IV ans Licht gekommen sind: Ärzt*innen wie Dr. K., die eine halbe Million Franken pro Jahr allein von der IV verdienen und praktisch jede*n gesundschreiben; die Millionenfirma ABI, die mit Tricks versucht, das Zufallsprinzip bei der Vergabe der Gutachten auszuhebeln, um an mehr Aufträge zu kommen; pauschal bezahlte Ärzt*innen, die manchmal aus dem Ausland einfliegen, psychiatrisches Speeddating betreiben, Gutachten mithilfe von Copy-and-paste verfassen oder fragwürdige Simulationstests durchführen; IV-Beamt*innen, die un-
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