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Corona
Corona In loser Folge erinnern wir an Menschen, die ihr Leben an Covid-19 verloren haben. Es sind individuelle Begegnungen mit der Trauer - durch die Augen und Erzählungen von Hinterbliebenen.
«Wo ich hingehe, brauche ich das nicht mehr»
René Egger ist 56 Jahre alt geworden. Am 10. November starb er an den Folgen einer Covid-19-Infektion. Seine letzten Momente verbrachte er allein auf der Intensivstation eines Spitals, ohne dass ihn jemand besuchen durfte. Auch seine Frau Sylvia nicht.
TEXT SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATION SARAH WEISHAUPT
«Highway to Hell» von AC/DC – das war der Song, den Sylvia Egger-Hölzel ihrem Mann mit auf den Weg gab. Dann stellten sie die Maschinen ab.
Das war am 10. November 2020.
Jetzt wartet Sylvia in einer kleinen Seitenstrasse auf mich, sie trägt einen Mantel und eine Mütze auf den blondgefärbten Haaren. Sie ist sorgfältig geschminkt. «Ich hab die Gelegenheit genutzt, um mich ein wenig schick zu machen», sagt sie. Ihre Stimme ist tief und rauchig wie die der Staatsanwältin im Münsteraner Tatort.
Es ist ein kleiner Ort im Zürcher Unterland, die Wohnung, zu der sie mich führt, liegt im zweiten Stock eines hellen Mehrfamilienhauses. An der Wohnungstür hängt eine Stickerei mit ihren Namen sowie das Hochzeitsdatum: 28. Mai 2018. Drinnen, an einer Wand im Flur, hängt ein Bild des Brautpaares, Leinwand auf Holzrahmen. Mit zwanzig Kilogramm weniger sieht Sylvia heute ganz anders aus: Beine, Arme und Hüften sind schmaler, sie wirkt maskuliner als auf dem Bild. Die klassische Braut im weissen Kleid mit hochgesteckten Haaren bildet einen gewissen Kontrast zu der gesprächigen Ex-Barkeeperin, mit einer Tätowierung im Blusenausschnitt.
Ihr verstorbener Ehemann René hingegen erinnert auch auf dem Bild an einen herausgeputzten Rocker mit seinem langen Bart, den er als Zopf trägt. «Den hab ich noch», sagt Sylvia und geht durch den Flur ins Wohnzimmer. Sie nimmt eine Holzschatulle vom Beistelltisch und zeigt ein Büschel Haare in einer Plastikhülle. Renés Bart, eine Reliquie. Sie packt das Tütchen zurück in die Schatulle. «Und da steht er.» Eine weisse Urne neben einer Orchidee, auf dem Boden zwei Buddha-Statuen. «René war früher oft in Ostasien.» Eine Lichterkette taucht die Ecke in Goldglanz.
Am 19. Oktober 2020, einem Montag, war René Egger wegen einer Routineuntersuchung im Spital gewesen. Dort wurde er auch auf Covid-19 getestet: negativ. Zwei Tage später bekam er hohes Fieber, er musste zurück ins Spital. Sylvia wollte ihm eine Tasche packen, doch er wiegelte ab. «Wo ich jetzt hingehe, Schatz, brauche ich das alles nicht mehr.» Am Tag danach schickte René seiner Frau ein Video, das ihn allein in einem Spitalbett zeigt. «Das ist mein Quarantäne-Zimmer im Unispital Zürich, wo ich liege, weil ich Corona aufgelesen habe, von irgendjemandem, an irgendeinem Ort», sagt er in die Handykamera. Es sind die letzten Bilder von René. Wenig später wurde er ins künstliche Koma versetzt.
Alle drei infiziert
Auf das Spital und die Begleitung durch das Personal lässt Sylvia nichts kommen. Tag und Nacht habe sie anrufen dürfen, man habe all ihre Fragen beantwortet und sich bemüht, menschlich mit der Situation umzugehen. Auch Sylvia und ihre Tochter hatten sich mit dem Virus infiziert. Sylvia hat sich oft gefragt, ob sie es selbst war, die das Virus in die Familie eingeschleppt
hatte. Vom Einkaufen oder so. Eine schreckliche Vorstellung. Bis heute hat die 39-Jährige ihren Geschmackssinn nicht zurück, über vier Monate ist das nun her. «Ich koche jetzt immer mit wenig Gewürz und stelle lieber Salz und Pfeffer zusätzlich auf den Tisch, wenn Besuch da ist», sagt Sylvia.
Tochter Lisbeth lauscht aufmerksam den Worten ihrer Mutter. Sie sitzt auf dem grauen Sofa, das die Sitzecke vor dem grossen Flachbildschirm einnimmt. Ob ihr Geschmackssinn ebenfalls beeinträchtigt ist, kann man nur schwer herausfinden. Das 15-jährige Mädchen kann nicht sprechen. Sie wurde mit dem Mowat-Wilson-Syndrom geboren, einer Erbkrankheit, die unter anderem mit beschränkter Mobilität und epileptischen Anfällen einhergeht. Lisbeth ähnelt einer Ballerina mit ihren zarten Gesichtszügen, dem hellblonden Zopf und der stylischen Ray-Ban-Brille. Sie macht ein paar Töne. «Jetzt willst du auch was sagen, was Lisbeth?», sagt Sylvia und stellt der Tochter ihre Lieblingsserie an – «Hubert und Staller», zwei Polizisten in Bayern. «Diese Serie ist ihr ein und alles», sagt Sylvia. Und nach einer kurzen Pause: «Sie leidet sehr darunter, dass René nicht mehr da ist.» Während das Mädchen fernsieht, zeigt Sylvia Videos von René und Lisbeth, Szenen eines Vaters mit seiner Tochter. Verschwörerisch, albern, liebevoll, umsorgend – das ganze Paket. Dass René nicht Lisbeths leiblicher Vater war, spielte keine Rolle. Mehr noch: die Patchwork-Konstellation mit Lisbeths Papa, der das Kind regelmässig zu sich holt, funktionierte gut, seit Sylvia mit René zusammen war. «Vorher haben wir uns viel gestritten, Lisbeths Vater und ich», erinnert sie sich. Auch um Renés deutlich ältere Exfrau hätten sie sich gemeinsam gekümmert, als sie Hilfe benötigte. «Das ist doch selbstverständlich.»
Bevor sie sich kennenlernten, war René übergewichtig gewesen. Damals spielte er mit dem Gedanken, sich ein Magenband einsetzen zu lassen. Stattdessen bot man ihm die Teilnahme an einer Studie mit hochdosiertem Insulin an. Innerhalb kurzer Zeit verlor er die Hälfte seines Körpergewichtes. Als er Sylvia kennenlernte, wog er nur noch 80 Kilo. Während der Untersuchungen für die Insulin-Studie fand man zufällig heraus, dass René an einer Lungenfibrose litt, einer tödlichen Krankheit, bei der das Lungengewebe nach und nach vernarbt. Dass er über kurz oder lang eine Lungentransplantation brauchen würde, hatte er Sylvia schon gesagt, als sie sich das erste Mal sahen. 2017 war das. Kennengelernt hatten sie sich über eine Datingplattform. «Am 28.5., 18 Uhr, haben wir uns vor der Post getroffen», Sylvia erinnert Daten sehr genau. Damals arbeitete René als Heizungsbauer, was aufgrund der Gesundheit nicht mehr so gut ging. Später sattelte er auf Immobilienmakler um: weniger körperliche Anstrengung. Sylvia dachte zunächst, er wolle sie wohl als Geliebte haben, so geschäftsmässig und glattrasiert, wie er da im Anzug auf sie wartete. Doch sie täuschte sich. Ihm ging es nicht um schnellen Sex oder ein bisschen Spass.
Nachdem er ihr von seiner Lunge berichtet hatte, erzählte sie ihm von Lisbeth. Bis zur Hochzeit dauerte es nur ein Jahr. Den Heiratsantrag hat er ihr in Verona gemacht, unter dem Balkon der Julia.
Gemeinsam bauten sie sich einen Freundeskreis auf, die einen brachte sie, die anderen er mit. Sylvia begleitete ihn in seinen Sportschützenverein, er schoss leidenschaftlich gern Kleinkaliber und 300 Meter. Das Vereinsleben bedeutete René viel, und es fiel Sylvia schwer, für die Beisetzung auf eine Einladung an die
Zu wissen, dass die beiden Menschen, die man am meisten liebt, vor einem sterben werden. Dass man am Schluss allein übrigbleibt.
Schütz*innen zu verzichten. «Wegen der Corona-Auflagen hätten nicht alle kommen dürfen – und dann die einen ja und die anderen nicht? Das geht doch nicht!» Aber eine Abdankung mit dem Verein soll noch stattfinden, mit Fahnenschwingen und allem Drum und Dran. Sylvia steht auf und holt zwei kleine Koffer, darin liegen Plastik-Pistolen und Gehörschutz. «Die hat er für Lisbeth besorgt, damit sie auch mal mitkommen kann.»
In die Ferien fuhren sie gern zu dritt an den Starnberger See, besuchten Lisbeth zuliebe die Drehorte von «Hubert und Staller». Andere Reisen waren selten bis gar nicht möglich: Lisbeths und Renés Gesundheit waren zu instabil. Ständig musste Sylvia damit rechnen, es passiere unterwegs ein Notfall. So blieb es bei Ausflügen, Picknicks im Wald. Die Freunde ahnten kaum, wie gross die Last war, die auf der Familie lag. «Niemand wusste, wie schlecht es René teilweise ging.» Kurz vor der Transplantation brauchte er regelmässig Sauerstoff, hing an einem mobilen Gerät. Schon bevor Covid-19 ein Thema wurde, mussten sie ständig aufpassen, dass er sich keine Atemwegsinfektion holte.
Ein kurzes Hoch
Im März 2019 kam der ersehnte Anruf vom Spital: Man habe eine Spenderlunge gefunden, René solle sich sofort auf den Weg machen. «Also habe ich seine Tasche gepackt, wir waren ja darauf gefasst», erinnert sich Sylvia. Ersatzkleider, iPad-Ladekabel, Necessaire – dieselbe Tasche, die er ihr anderthalb Jahre später nicht mehr zu packen erlaubt. Die Situation war furchtbar: Nicht nur machte ihnen der massive Eingriff Angst, auch war bis zuletzt unklar, ob René schliesslich wirklich operiert werden würde. Er war nur einer von drei aufgebotenen Kandidaten, erst im letzten Moment wurde vor Ort entschieden, wer der aussichtsreichste von ihnen wäre. René hatte Glück.
Bald nach der OP stellte sich das Gefühl ein, nun gehe es bergauf. Es ging René deutlich besser, er war fröhlich und lebenslustig. Doch das Hoch hielt nicht lange an. Täglich musste er einen Cocktail an Medikamenten zu sich nehmen, 30 Tabletten am Tag: Immununterdrücker, damit der Körper das fremde Organ nicht wieder abstiess, Blutverdünner, Cortison. Sylvia wachte darüber mit Argusaugen. Und die Medikamente hatten ihre Nebenwirkungen. Renés Sexualität war gehemmt. Er litt darunter, dass er Sylvia kein vollwertiger Partner mehr sein konnte. «Dabei habe ich ihm das nie vorgeworfen», sagt sie. Doch der Mangel an körperlicher Intimität, physischem Austausch hinterliess Spuren. Sein Selbstwertgefühl nahm immer weiter ab. Es gab Zeiten, da sass er nur noch auf dem Sofa und behauptete, Sylvia eine Last zu sein.
Sie sah das anders. «Ich hatte ihn geheiratet, da gehört das doch dazu.» Doch die Doppelbelastung – chronisch kranker Mann, beeinträchtigtes Kind – ging auch an Sylvia nicht spurlos vorbei. Rund um die Uhr war sie Mutter, Partnerin und beider Pflegefachkraft. Ich versuchte mir auszumalen, was es bedeutet zu wissen, dass die beiden Menschen, die man am meisten liebt und für die man sich selbst täglich hintenanstellt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor einem sterben werden. Dass man am Schluss allein übrigbleibt. Sylvia raucht Kette, meist am Fenster oder draussen, und sie trinkt. Nicht exzessiv, sie ist Pegeltrinkerin. Man merkt es ihr kaum an, vielleicht sieht man es ein bisschen an der Gesichtshaut. «Frau Egger-Hölzel führt ein Rockstar-Leben», schrieb ihr Hausarzt einmal halb im Scherz. Durch die Trauer hat sie nun auch Schwierigkeiten mit dem Essen. «Mir wird immer schlecht.»
Zuhause ist nichts vom Rockstar zu spüren: Die Wohnung ist picobello aufgeräumt, kleine Dekoelemente stehen herum, fast ein bisschen wie im Schöner-Wohnen-Katalog. Und obwohl sie nicht essen mag, spricht Sylvia viel vom Kochen, lässt mich ihr neues Zwiebelchutney probieren, das exzellent ist, auch wenn sie nicht abschmecken kann. Als René noch da war, erzählt sie, und sie mal wieder «nichts anzuziehen» hatte, nahm er den Autoschlüssel und fragte sie liebevoll: «In welche Boutique möchtest du denn, Schatz?» Und dann fuhr er seine Herzdame dorthin, wo sie etwas zu finden glaubte. Er blieb solange im Auto sitzen.
Heute stehen die Fahrzeuge der Familie, der grosse Van und der kleine CabrioZweisitzer, nutzlos herum. Sylvia hat keinen Führerschein. «Wenn ich Lebensmittel einkaufen muss, rufe ich den Fahrer vom Roten Kreuz an, er ist mittlerweile schon fast ein Freund der Familie.» Sylvia hat sich auch psychologische Hilfe geholt. René wusste, dass sie trinkt, und machte sich Sorgen. «Er hat gepanscht», erzählt sie. Hat nachts ihre Wodkaflasche halb geleert und mit Wasser aufgefüllt. Heute denkt sie darüber nach, mit derselben Technik ihren Pegel herunterzufahren. Und irgendwann doch noch den Führerschein zu machen.
Hintergründe im Podcast:
Die Autorin Sara Winter Sayilir im Gespräch mit Simon Berginz: surprise.ngo/talk