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Fotografie
Ausstellung Während sechs Jahrzehnten bereiste Pia Zanetti als eine der ersten Schweizer Fotoreporterinnen die Welt. Sie fing Momente ein, in denen Menschen nach einem würdigen Leben streben.
TEXT MONIKA BETTSCHEN
1963 in den USA. Frauen fordern immer lauter ihre Rechte ein. Ebenso die afroamerikanische Bevölkerung. Mittendrin: Pia Zanetti. In einer New Yorker Einkaufsstrasse richtet die damals zwanzigjährige Fotografin aus Basel ihre Kamera auf eine junge schwarze Frau. Hinter ihr gehen zwei Nonnen im Habit, so als wollten sie den stolz voranschreitenden Wandel etwas bremsen. Doch das wird ihnen nicht gelingen: Im Bildhintergrund flanieren auch andere Frauen bereits ganz selbstverständlich in kurzen Röcken. Fasziniert von der Diversität in dieser Grossstadt, drückt Zanetti auf den Auslöser. Es entsteht eine zeitlose Fotografie, die fast 60 Jahre später sowohl durch MeToo als auch Black Lives Matter aktueller kaum sein könnte.
Es ist genau dieser Zugang, der so kennzeichnend ist für das Gesamtwerk von Pia Zanetti: Respektvoll und empathisch legt sie die Auswirkungen von Unterdrückung, Umbruch und Unrecht in der Mimik und Gestik einzelner Menschen frei. So auch in den verhärmten Gesichtern von Fischern in Kapstadt 1968 während der Apartheid.
Zanetti richtete ihr Hauptaugenmerk von Anfang an auf den Alltag, die Arbeits- und Lebensbedingungen in sozialen Brennpunkten und Krisengebieten. Als Tochter einer geschiedenen Frau in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen, war sie vertraut mit den Sorgen jener Leute, denen sie den Raum gab, sich zu zeigen. Sie verstand es, ihnen subtil in ihrem Streben nach einem Einkommen, Freiheit oder etwas Zerstreuung Würde zu verleihen. Da der zierlichen Pia Zanetti niemand den von Männern dominierten Fotografenberuf zutraute, absolvierte sie die Lehre bei ihrem älteren Bruder, einem Werbefotografen. Bald darauf lernte sie ihren späteren Mann, den Journalisten Gerardo Zanetti, kennen, mit dem sie neben zwei Söhnen auch eine Adoptivtochter aus Vietnam grosszog. Gemeinsam entwickelte das Paar für Publikationen wie Die Woche, DU oder Das Magazin Ideen für Reportagen. Später arbeitete Zanetti auch für Hilfswerke wie die Caritas.
Mit ihrem Gespür für gesellschaftliche Umbrüche und mit ihrem ausgeprägten humanistischen, sozialen und politischen Anspruch rief sie Missstände wie etwa die prekären Arbeitsbedingungen von Näherinnen in Kenia ins Bewusstsein. Oder das Verschwinden des Aralsees in Zentralasien als Folge der Baumwoll-Monokultur. Eine Umweltkatastrophe, welche die Fischerei in Usbekistan ihrer Existenzgrundlage beraubte und schlimme Sandstürme über das Land brachte.
Pia Zanetti ist seit sechs Jahrzehnten eine engagierte und neugierige Zeitzeugin. Was sie antreibt, erzählte die 77-jährige Fotografin im Telefongespräch.
Pia Zanetti, Sie haben als Fotoreporterin viel Leid gesehen. Besonders geprägt haben Sie Ihre Reisen in den 60er-Jahren nach Südafrika während der Apartheid.
Als ich als junge Frau nach Südafrika reiste, wusste ich zwar, dass es die Apartheid gab, aber mit eigenen Augen zu sehen, wie sich diese Schikanen gegen die schwarze Bevölkerung durch alle Lebensbereiche zogen, hat mich erschüttert. In den Metzgereien von Kapstadt gab es für die vielen Hausangestellten, die Nannys, Gärtner oder das Putzpersonal, nur sogenanntes Boy’s Meat, minderwertiges Fleisch, das man bei uns keinem Tier vorgesetzt hätte.
Ich erinnere mich auch an einen Biergarten in den Townships von Soweto. Dort wurde bloss Bantu-Bier ausgeschenkt, ein Gebräu mit sehr tiefem Alkoholgehalt. Es war den Menschen nicht einmal vergönnt, in ihrer spärlichen Freizeit etwas abzuschalten. Mit meinen schwarzen Berufskolleg*innen konnte ich wegen der strikten Rassentrennung keinen Kaffee trinken gehen. Ob am Strand oder im Spital: Die Trennlinie zwischen Schwarz und Weiss war überall präsent. Bestürzt war ich auch über den Umgang mit dem schwarzen Hotelpersonal. Nach britischer Tradition wurde morgens der Early Morning Tea serviert. Uns Gästen hatte man eingeschärft, dass wir diesen Leuten keine Beachtung schenken sollten. Es sei völlig egal, ob wir gerade nackt seien, wenn sie ins Zimmer kämen. Man gab uns zu verstehen, dass Schwarze keine Gefühle hätten. Diese totale Entmenschlichung unter dem Apartheid-Regime hat mich schockiert und sich mir tief eingebrannt.
Bei Pressefotografien geht man in besonderer Weise davon aus, dass sie die Wahrheit abbilden. Wie sind Sie bei dieser Suche nach der Wahrheit jeweils vorgegangen?
Wahrheit ist ein sehr grosses Wort. Es ist menschlich, dass einen anspricht, was auch etwas mit einem selbst zu tun hat. Als Fotografin habe ich deshalb den Anspruch, jene Wahrheit zu zeigen, die mich beeindruckt. Authentische Pressefotografie bedeutet ja, nicht bloss zu dokumentieren, sondern etwas Eigenes zu zeigen, die eigene Interpretation. Als ich mit dieser Arbeit begann, erlebte der Journalismus eine Blütezeit. Die Medienhäuser ermöglichten aufwendige Fotoreportagen und liessen sich diese auch etwas kosten. Heute herrscht Spar- und Zeitdruck, was es Fotograf*innen erschwert, sich gründlich ein Bild zu machen, bevor ein Foto entsteht. Oft wird einem ein fixes Bild vorgeschrieben. So heisst es etwa: Mach ein Foto von Person X, wie sie am Esstisch sitzt. Aber vor Ort trifft man häufig eine andere Situation an. Zwei Beispiele: Einmal bekam ich den Auftrag, im Sudan ein Mädchen und einen Jungen zu fotografieren, die sich in einer Wasseroberfläche spiegeln. Das liess sich aber nicht so umsetzen. Das Wasser war dafür viel zu trüb und die Kinder trugen aus Hygienegründen das Haar sehr kurz. Es war kaum möglich, Mädchen und Jungen zu unterscheiden. Ein anderes Mal sollte ich auf Haiti fotografieren, wie Menschen aus Hunger auch Erde essen. Doch vor Ort erfuhr ich, dass ein Missverständnis vorlag: Nur Schwan-
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PIA ZANETTI
gere würden ab und zu Erde essen. Nicht aus Hunger, sondern wegen der darin enthaltenen Mineralien. Wahrheit zeigt sich oft erst, wenn man sich auf ein Thema einlässt. Ein gutes Foto lässt sich nicht erzwingen. Als Fotograf*in gehört es zum Beruf, sich in den Redaktionen für die eigene Sichtweise stark zu machen und der inneren Stimme zu folgen.
Nicht nur die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Fotoreportagen haben sich verändert, sondern durch neue Technologien auch die Sehgewohnheiten. Wie haben Sie in Ihrer Arbeit darauf reagiert?
Die Digitalisierung der Fotografie führte dazu, dass man heute nicht mehr zuerst etwas sieht und dann abdrückt, sondern eine Abfolge von Bildern erstellt, wovon man später eines auswählt. Ob dadurch die Beobachtungsgabe geschwächt wird, darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich will nicht jammern! Man ist immer auch Teil der Zeit, in der man lebt, und muss lernen, sich in ihr zurechtzufinden. Ich war zum Beispiel nie ein Fan von der Arbeit in der Dunkelkammer. Die Digitalisierung hat mir da Erleichterung gebracht. Mit der Digitalisierung hat auch die Geschwindigkeit, mit der Bilder gezeigt werden, stark zugenommen. Heute werden Fotos rasant durchgeklickt und ich staune, dass junge Menschen, die damit aufwachsen, in der Lage sind, deren Inhalte zu erfassen. Ich merke aber gleichzeitig, dass viele Menschen eine Sehnsucht nach Ruhe haben und sich auch ohne Zeitdruck auf Fotografien einlassen wollen.
«Pia Zanetti, Fotografin», Ausstellung, bis Mo, 24. Mai, Di bis So 11 bis 18 Uhr, Mi bis 20 Uhr, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, Winterthur. www.fotostiftung.ch