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Jugendarmut

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Musik

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Vor sechs Jahren gingen Manuel und ich ein Jahr lang in die gleiche Schulklasse. Damals sagte uns die Lehrerin, dass er in einer besonderen Situation lebe. Was genau sie damit meinte, wussten meine Klassenkamerad*innen und ich nicht und genauso wenig, unter welch prekären Umständen unser Mitschüler damals gelebt hat. Als ich nun über die Sozialen Netzwerke nach potenziellen Gesprächspartner*innen zum Thema Jugendarmut in der Schweiz suchte, fand ich ihn wieder. Wir haben uns zum ersten Mal wieder getroffen, seit sich unsere Wege vor fünf Jahren getrennt hatten.

Manuel ist mittelgross, er hat schwarze Haare und braune Augen, ist unauffällig gekleidet, grauer Hoodie und graue Jacke, an den Füssen neue Rennschuhe. Er wirkt klar und aufgeräumt. Der heute 20-Jährige wuchs in Basel nahe der deutschen Grenze auf. Mit seiner Mutter lebte er in einer einfachen Mietwohnung, die Grossmutter wohnte gleich gegenüber. Es war eine friedliche Nachbarschaft im Grünen, mit vielen Kindern und Spielplätzen. Dort besuchte er den Kindergarten und die Primarschule. Doch es war in mehrfacher Hinsicht keine familiäre Idylle: Sein Vater war von Anfang an abwesend, zahlte keine Alimente, für ihn war der Sohn wohl eine «einmalige Angelegenheit», wie Manuel sagt. Nach vielen erfolglosen Versuchen, dem Vater näherzukommen, entschied Manuel sich mit dreizehn Jahren, den Kontakt abzubrechen.

Manuel ist bereits früh viel allein. Schon als er acht ist, sind sowohl seine Mutter als auch seine Grossmutter immer wieder weg. Er muss zuhause allein zurechtkommen. Auch später habe er sich praktisch selbst erzogen, erzählt er, denn seine Mutter arbeitet im Kino, macht dort Nachtschichten und ist kaum da. Und wenn sie zuhause ist, ist die Stimmung nicht gut. «Sie hat mich früh an sich gebunden und emotional abhängig gemacht. Sie redete mir ein, dass meine Klassenkolleg*innen, nein, die ganze Welt Schlechtes für mich wollten, und sie nur das Beste. Gleichzeitig schob sie mir die Schuld für ihre Misserfolge zu», erzählt Manuel.

Als er ungefähr zwölf Jahre alt ist, wird die Mutter arbeitslos. Sie werden aus ihrer Wohnung geworfen und ziehen in eine Sozialwohnung, die etwas näher an der Stadt liegt. Diese ist Teil einer kleinen Siedlung aus drei bungalow-ähnlichen zweistöckigen Häuschen. Manuels Taschengeld beträgt damals 150 Franken im Monat. Das musste für alles reichen, auch fürs Essen: «Das waren rund fünf Franken pro Tag. Damit kommt man in dieser teuren Stadt nicht weit. Deshalb habe ich auch in den Mittagspausen immer überall rumgefragt, ob ich dies und jenes noch essen könnte.» In dieser Zeit kommt er in meine Schulklasse. «Ich erinnere mich daran, wie wir im Haushaltsunterricht in der Vorweihnachtszeit einmal gebacken haben – für Bedürftige. Ich wollte die Kekse natürlich lieber selbst essen, doch die Lehrerin sagte, dass wir diese für jene zubereiteten, die es wirklich bräuchten.» Später habe sie sich bei ihm entschuldigt.

Sein Vater war von Anfang an abwesend, zahlte keine Alimente, für ihn war der Sohn wohl eine «einmalige Angelegenheit», wie Manuel sagt.

Ungefähr anderthalb Jahre lang leben sie in der Sozialwohnung. «Acht Monate davon hatten wir keine Elektrizität», sagt Manuel, «und das im Winter. Heizen und Kochen ging nicht, also haben wir auf offenem Feuer gebraten. Es gab oft günstiges Fleisch, was selten wirklich durch war. Viel zu oft kam ich heim und es gab nichts zu essen.» Seine Nintendo DS und sein Handy lädt er bei einem älteren, in Manuels Erinnerung etwas verschrobenen Ehepaar auf, das über ihnen lebt. «Gezockt habe ich viel, Monster Hunter IV zum Beispiel. In der Zeit ohne Strom habe ich mit dem Lesen begonnen.» Seine Liebe für Mangas hält bis heute an.

Er fühlte sich wie ein Alien

«Ich blieb tagsüber so lange wie möglich in der Schule, da war es warm, da gab es andere Leute und Internet. Klar, für die Schule gemacht habe ich nicht viel, aber ich war immer da. Vor allem die Naturwissenschaften haben mich fasziniert», erzählt Manuel. «Für andere ist vielleicht das Privatleben Ausgleich zur Schule, für mich war es umgekehrt.» Denn die Stimmung zuhause ist schrecklich: «Ich weiss nicht, was meine Mutter damals den ganzen Tag lang gemacht hat. Gesprochen haben wir kaum miteinander, und wenn ich heimkam, ging ich direkt in mein Zimmer.»

Als Manuel vierzehn wird, wird die Situation noch prekärer. Nach einem Zerwürfnis mit der zuständigen Sozialarbeiterin sagt seine Mutter, er solle alle Sachen, die ihm wichtig sind, in einen Rucksack und zwei Kisten packen, sie würden gehen. In einer Hals-über-Kopf-Aktion irren sie mitten in der Nacht durch die Stadt, auf der Suche nach einer Unterkunft. Sie finden ein leeres Zimmer in einem heruntergekommenen Hotel bei der Messe, das mittlerweile abgerissen wurde. Die Mutter schafft es irgendwie, das Zimmer als Notunterkunft bei der zuständigen Sozialhilfe zu melden, so vermutet Manuel heute. Hier leben sie auf engstem Raum für die nächsten sechs Monate.

Auch in dieser Zeit geht er weiterhin in die Schule. Es gelingt ihm, seine Lage so zu verheimlichen, dass niemand etwas mitbekommt. «Mit den Klassenkamerad*innen kann und will man darüber nicht reden, auch wenn du nichts dafür kannst. Die beschweren sich darüber, dass sie einen Fleck auf ihren Yeezies haben, und ich war froh, wenn meine Kleider heute nicht ganz so vergammelt stanken.» Damals hatte er kaum Bezug zu seiner Altersgruppe. Er habe sich manchmal gefühlt wie ein Alien: «Die Probleme der anderen hatten für mich einfach keine Gültigkeit. Wenn jemand über Schwierigkeiten mit den Eltern erzählte, wurde ich wütend: Immerhin hast du welche und musst dich nicht darum sorgen, wo du am nächsten Tag schlafen wirst! Heute verstehe ich aber, dass die Sorgen und Nöte subjektiv und nicht unbedingt vergleichbar sind.»

Dann kommt die weltgrösste Uhrenmesse. Tausende internationale Gäste strömen in die Stadt, alle Hotels sind Monate im Voraus ausgebucht. Manuel und seine Mutter müssen ihre Bleibe räumen. Sie werden obdachlos. Drei Tage und drei Nächte irren sie von Bahnhof zu Bahnhof. «Es ist schon komisch, wenn dich frühmorgens die ganzen Pendler anschauen.» Nachdem er drei Nächte auf der Strasse und ohne Schlaf auskommt und den letzten Rest Energie mobilisiert hat, hält Manuel es nicht mehr aus. Er nimmt eine Lehrerin beiseite, erzählt ihr alles und bricht zusammen. Sie alarmiert die Schulleitung und den Schulpsychologischen Dienst, und die klingeln beim städtischen Jugend- und Kinderheim, wo er noch am selben Abend hingehen kann. Dort bleibt er für zwei Wochen und kommt anschliessend in einer betreuten Wohngruppe unter.

Damit soll erstmal ein gewisser Alltag etabliert werden, er soll sich «stabilisieren», wie es die Sozialarbeiter*innen nennen. Nach und nach durchläuft Manuel weitere Wohngruppen, die mehr und mehr die Form von WGs annehmen und mit höherem Alter mehr Freiheiten, beispielsweise im Ausgang, zulassen. Heute lebt er immer noch in einer Wohngemeinschaft.

«Das Tollste, was mir passiert ist»

Die gesamte Zeit über gerät Manuel niemals in die Kriminalität, er nimmt und vertickt keine Drogen. Auch wenn es teilweise sehr einfach gewesen wäre, wie er selbst sagt. Was hat ihn davor bewahrt? «Einerseits war da sicherlich der Kampfsport, Taekwondo, mit dem ich in der Primarschule begonnen hatte. Aber ich hatte keine Vorbilder, die mir vorgelebt hätten, was gut ist und was schlecht. Ich muss von innen heraus irgendeinen moralischen Kompass entwickelt haben.»

Nach einiger Zeit im Heim beginnt er sich zu öffnen. «Nach der ersten Regenerationsphase im Heim habe ich mir eingestanden, dass ich Hilfe brauche. Meine Betreuer waren sehr offen und haben nie Druck gemacht, sondern gewartet, bis ich zu ihnen kam. Und glücklicherweise war die Dynamik in meiner Gruppe recht positiv. Wir haben alle vergleichbare Erfahrungen gemacht, untereinander geredet und uns ausgetauscht.» Ein Höhepunkt dieses Heilungsprozesses ist, als er seine Lehre als Chemielaborant beim grössten Pharmaunternehmen der Stadt antreten darf. «Die Zusage war das Tollste, was mir bis dahin passiert war. Es war das Erste, was ich komplett aus eigener Kraft erreicht hatte. Das Datum werd ich nie vergessen: 12. Dezember 2017.»

Diesen Sommer wird Manuel seine Lehre beenden. Ob er danach weiterhin in der Chemie arbeiten will, weiss er noch nicht, denn das würde fünf Jahre Studium erfordern: «Mich interessiert am meisten der Bereich der Synthese, in dem werden neue Stoffe entdeckt und entwickelt. Der Wettbewerb da ist aber streng, weshalb es wirklich eine gute Ausbildung braucht.» Deshalb möchte er ab Sommer noch etwas anderes ausprobieren. Was genau, das weiss er noch nicht, vielleicht etwas in Richtung Fitness und Bewegung. «Ich könnte dort meine Liebe zum Sport und meinen Helferdrang kombinieren. Ich möchte andere Leute unterstützen, die sich sportlich betätigen oder verbessern wollen. Der Kontakt zu und das Wohlwollen für andere Menschen ist mir wichtig.»

Ist er verbittert über die verlorene Kindheit und Jugend? «Nein», sagt Manuel, als wir fünf Jahre nach unserer gemeinsamen Schulzeit Döner essend am Rhein sitzen. «Die kann mir eh niemand zurückgeben. Ich bin durch meine Vergangenheit zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Doch gerade am Anfang ist es natürlich schmerzhaft, das alles nicht zu verdrängen und zu verleugnen, sondern zu akzeptieren. Die Frage, was wäre, wenn alles anders gelaufen wäre, kann dich kaputt machen. Mir hilft es immer noch, den Dingen gedanklich eine Form zu geben. Einen Nebel kann ich nicht verjagen, aber kleine Sandkörner kann ich nach und nach abtragen.»

«Für andere ist das Privatleben Ausgleich zur Schule. Für mich war es umgekehrt.»

Manuel schliesst bald seine Lehre als Chemielaborant ab. Die Materie interessiert ihn, aber eine Karriere in der Chemie würde ein Studium erfordern.

«Eine ungewöhnliche Anpassungsleistung»

Kinder und Jugendliche, die in Heimen unterkommen, leiden oft unter verschiedenen Formen der Verwahrlosung, sagt Sozialarbeiter Samuel Scharowski, der Manuel Borner zwei Jahre lang begleitet hat.

INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR

Erleben Sie viele Fälle wie den von Manuel Borner?

Das ist schwer zu sagen. Bei Manuel kamen verschiedene Problemlagen zusammen, wie emotionale und physische Verwahrlosung sowie die Überforderung einer alleinerziehenden Mutter. Verwahrlosung im Allgemeinen begegnet uns immer wieder. Sie zeigt sich in ganz unterschiedlichen Facetten. Bei Manuel war es erheblich, auch weil er lange nicht aufgefallen ist. Häufiger erleben wir bei Kindern und Jugendlichen die Folgen emotionaler Verwahrlosung.

Was heisst das?

Das Kind wird nicht ausreichend wahrgenommen und bekommt nicht die Liebe und Zuwendung, die es braucht, um gewisse Entwicklungsschritte zu vollziehen. Das kann zu den unterschiedlichsten Formen von Bindungsstörungen führen. Wir erleben das immer wieder. Die einen leiden stärker darunter, weil sie über einen längeren Zeitraum vernachlässigt wurden, die anderen weniger, weil es doch noch funktionierende Familienelemente gab, die etwas auffangen konnten.

Hat es bei Manuel ungewöhnlich lang gedauert, bis er aus seiner Situation herausgeholt wurde?

Ja. Manuel lebte sehr isoliert. Ausserhalb des Kampfsportes, der Schule und seinen Grosseltern hatte er wenig Kontakt zu anderen Menschen. Er ist ein Beispiel dafür, wie ein Kind über eine lange Zeit eine ungewöhnliche Anpassungsleistung zeigen kann – bis es irgendwann überfordert war und das Konstrukt einer heilen Welt nicht mehr aufrechterhalten konnte. Doch bis dahin war die Verwahrlosung schon weit fortgeschritten. Manuel hat eine Zeit lang auf der Strasse gelebt und konnte sich nicht mehr ausreichend erholen. Ein Kind passt sich den Gegebenheiten an und nimmt diese als normal war. Deshalb ist es für Aussenstehende auch schwer zu erkennen.

Kommen denn die meisten Gefährdungsmeldungen über den Familien- und Bekanntenkreis?

Das ist eine gute Frage, die ich so nicht beantworten kann. Ich weiss aber, dass viel auch über den Lehrkörper und folglich über die Schulsozialarbeit läuft. Diese machen sich ein genaueres Bild der Situation und leiten den Fall an die KESB weiter. Es gibt auch Heimplatzierungen auf freiwilliger Basis, welche in Kooperation von Eltern und Kind erfolgen.

«Ein Kind passt sich den Gegebenheiten an und nimmt diese als normal war.»

Samuel Scharowski, 33, ist Sozialarbeiter im Bürgerlichen Waisenhaus Basel.

Manuel hat seine Lehrerin von sich aus angesprochen. Kommt es häufig vor, dass Kinder oder Jugendliche selbst um Hilfe fragen?

Ja, das gibt es immer wieder. Wir haben im Waisenhaus auch eine Wohngruppe, die eine Durchgangs- und Abklärungsstation ist. Dorthin können Jugendliche gehen, wenn es daheim nicht mehr geht. Oft kennen sie andere Jugendliche, die bei uns leben oder wissen, dass es uns gibt und dass sie hierherkommen können. Manche kommen auch aus einer konkreten Notsituation heraus, wenn sie beispielsweise Gewalt erfahren haben. Es gibt auch Situationen, in denen Jugendliche in einer anderen Familie bemerkt haben, dass das Familien- und Zusammenleben bei ihnen zuhause doch nicht so normal ist. Kinder- und Jugendliche nehmen ihr Zuhause grundsätzlich als normal wahr.

Wie wägt man ab zwischen dem Schutz der Kinder vor den Eltern und dem Einbezug der Eltern in den Stabilisierungsprozess?

Für mich und meine Arbeit ist die Meinung von Jugendlichen immer zentraler Punkt der Zusammenarbeit. Unser Ziel ist es dennoch, die Elternteile miteinzubeziehen und eine gelingende Kooperation mit dem gesamten System zu erreichen. Aber diese Zusammenarbeit ist manchmal leider schwierig. Auch bei Manuel war das ähnlich. Die Zusammenarbeit mit Manuels Mutter stellte sich als herausfordernd dar. Ihr fiel es schwer, auf Manuels Wünsche sowie seine aktuelle Situation einzugehen. Als Manuel volljährig wurde, konnte er dann selbst entscheiden, ob er sie weiterhin dabeihaben möchte oder nicht.

Bei Manuel spielt ja auch Armut eine Rolle. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Aufwachsen mit Armut und der Ausbildung eines guten Selbstwertgefühls?

Schwer zu sagen. Vernachlässigung kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor. Und bei der Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls spielen so viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Wenn man beispielsweise verhältnismässig wenig Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung von den Eltern erhält, ist die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls erschwert. Vielleicht ist Armut eher indirekt relevant: Weil die Eltern in schwierigen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen leben, mehr arbeiten müssen, um durchzukommen, haben sie dadurch weniger Zeit und Kraft für ihre Kinder. Folglich fühlen sich die Kinder gegebenenfalls auch weniger gesehen und wertgeschätzt, was wiederum Einfluss auf die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls hat. So gesehen ist ein Einfluss schon gegeben.

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