Surprise 503/21

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Rock mit Remo TEXT EVA ROTH

Remo reiht sich ein in den Strom zum Eingang West. Er will die Gitarrenriffs fühlen, wie früher, und vor allem will er an Melanie zurückdenken, und an Christina und Lorena. Und auch an Jaro und Michael, klar. Remo will auf das Vordach zurück, wo sie mit dem Ghettoblaster in der Sonne gesessen, geraucht, sich über irgendwelches Zeug unterhalten und dabei immer ans Küssen gedacht hatten. Besonders ans Küssen mit Melanie, und immer war schönes Wetter gewesen auf dem Vordach. Über dem Stadion braut sich etwas zusammen. Den Schirm muss Remo abgeben, daran hat er nicht gedacht, zum Glück hat seine Jacke eine Kapuze. Der Rockstar ist alt geworden, aber um Remo herum sind alle etwa mittel: Mittelalt, mittelschön und vom Mittelland hergereist wie er. Remo fragt sich, wie es wäre, seine Freunde von damals zu sehen, und doch ist er froh, dass sie nicht hier sind. Melanie hätte gefehlt. Remo steht ungefähr in der Mitte des Zuschauerraums, und das Konzert ist fast ausverkauft. Der Rockstar ist gut, der ist immer noch gut. Nur tanzen, das will Remo nicht. Dafür ist ihm der Rockstar zu weit weg. Remo tanzt nicht mit jemandem, der so weit weg steht,

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dass er sein Gesicht nicht erkennt und der ihm, beziehungsweise der Masse, über Bildschirme mitteilt, man solle gleichzeitig mit ihm die Arme hochreissen. Remo würde nur tanzen, wenn jemand dabei wäre, mit dem er die Rückkehr in die Zeit des Vordachs teilen könnte, als alles noch offen war, alles noch vor ihnen lag und Melanie noch da war, aber er ist ja allein. Oder, überlegt Remo, er würde mittanzen, wenn er einen Biertank auf dem Rücken hätte und als mobile Verkaufsstation Fröhlichkeit auf die Leute übertragen müsste, damit sie mehr Lust auf Bier hätten, wenn schon die Sonne nicht scheint. Nur das Bier und der Beat würden zählen, und es wäre egal, dass die Bildübertragung eine Zehntelsekunde hinterherhinkt und dass man vom Text kein Wort versteht. Das Konzert wäre anders, denkt Remo, wenn er etwas zu tun hätte und nicht so herumstehen würde. Er wartet auf das nächste alte Lied. Rund um Remo herum wird munter getanzt, bestimmt sieht es von der Bühne toll aus: all die Hände. Der alte Mann auf der Bühne hält durch ohne Pause, der ist topfit! Ist ja klar, denkt Remo, wenn man im Leben nichts anderes gemacht hat, als Rockstar zu sein. Remo denkt ans Vordach zurück, als es noch keine Massenbegeisterung brauchte, um das Prinzip Hoffnung aufrechtzuerhalten, aber hier, in diesem Stadion, sitzt noch allen die Pandemie in den Knochen, die Gegenbewegung dazu ist diese schon fast gewagte Heiterkeit. Es beginnt zu regnen, aber die Leute sind dafür ausgerüstet, sie haben in Outdoorläden eingekauft. Das ist teuer und praktisch, aber nicht unbedingt schön. Klar, denkt Remo, entweder hässlich oder man wird nass. Seine eigene Jacke liegt etwa dazwischen, aber wenigstens kann er jetzt die Kapuze hochziehen. Surprise 503/21


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