Die Waschanlage TEXT SIMONA PFISTER
«Ist hier noch frei?», fragt Herr Huber und nickt kurz freundlich in Richtung des Sitzes schräg gegenüber von Herrn Habegger. Nur wenige Minuten zuvor hat Herr Habegger den Zug betreten, dieses leere Abteil für sich entdeckt und sich dort eingerichtet, wie er es mag und wie er es jeden Montag durchzuziehen versucht, wenn er von Zürich nach Basel fährt: Die Aktentasche auf den Sitzen gegenüber platzieren, den Mantel auf den Platz nebenan legen, das Tischchen mit einer Zeitung bedecken, die Beine lang ausstrecken, alles besetzen. Allein bleiben. Herrn Hubers Frage führt daher zu einer mit Ärger gemischten Enttäuschung bei Herrn Habegger. Wieder nicht geschafft. Immerhin hat der fremde Störling diesmal gefragt, denkt Herr Habegger. Sonst setzen sich die Leute ja einfach hin, wo es ihnen gerade passt. Während er über diese ihm lästige Angewohnheit der Menschen nachdenkt, scheint es ihm auf einmal möglich, mit dem Fremden zu sprechen. Das tut er sonst nie; er spricht nicht mit Leuten, die er nicht kennt. Und er hasst es, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Warteschlangen angesprochen zu werden. Schon das Wort «plaudern» verabscheut er. Aber weil der andere so freundlich gefragt hat, denkt er auf einmal, er wolle antworten. Ja, es drängt ihn geradezu. Während sich der Zug langsam in Bewegung setzt, antwortet er also mit einer ihn selbst überraschenden Leichtigkeit in der Stimme: «Ja, natürlich, bitte!», und weist auf den Platz schräg gegenüber. Er zieht sogar den Mantel auf dem Sitz nebenan näher zu sich heran und rückt die Aktentasche in Richtung Fenster. Von dieser Offenheit in Übermut geraten, lobt Herr Habegger dann auch noch Herrn Hubers Aktentasche. Ein in der Tat elegantes Exemplar aus rostbraunem Leder, das Herr Huber von seiner Frau zum siebzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hat. Zwar hat Herr Huber in seinen Zeiten als Rezeptionist nie eine Tasche für Akten gebraucht, da er – was ihm immer sehr wichtig gewesen ist – mehr mit Menschen als mit ihren Akten zu tun gehabt hat. Aber seine Frau weiss, dass er auf seinen Bahnfahrten gerne Kriminalromane liest, und zwar wenn möglich gleich mehrere, und wollte ihm deshalb eine hübsche Tragemöglichkeit dafür schenken. Das ist ihr gelungen. Nun trägt Herr Huber seine Kriminalromane nicht mehr in einer Plastiktasche mit sich herum, sondern in dieser Ledertasche, die Herr Habegger in eine für ihn unübliche Schwärmerei versetzt: «Was für ein aussergewöhnlich weiches Leder! Und dieser Farbton!» Herr Huber strahlt, sodass sich sein hageres Gesicht mit unzähligen Fältchen überzieht. Er glaubt, alle Menschen grundsätzlich zu mögen, und trotzdem gibt es solche, die er ganz be12
sonders mag, zum Beispiel jetzt sein Gegenüber im Zug. Denn der hat mit dem Lob der Tasche indirekt auch die Frau gelobt, welche die Tasche ausgewählt hat, und das macht Herrn Huber stolz auf seine gut geführte Ehe. Ausserdem findet er dickliche Menschen sympathisch. «Oh, herzlichen Dank! Die hat mir meine Frau zum siebzigsten Geburtstag geschenkt, für meine Krimis.» Er öffnet die Deckellasche, um Herrn Habegger einen Blick auf die Bücher zu gewähren. In seinen Jahren im Hotel hat Herr Huber ein aussergewöhnliches Geschick entwickelt, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Er kann bereits in den ersten Sätzen beiläufig so viele Gesprächspunkte aufwerfen, dass sein Gegenüber nachfragen könnte, falls es an einem der Gesprächspunkte interessiert wäre, sich aber dennoch nicht über ein höfliches Mass hinaus informiert fühlt. So geht es jetzt auch Herrn Habegger, der bei seinem Blick auf die Kriminalromane an einem der Buchrücken hängengeblieben ist: ein Krimi, der im Glarnerland spielt. «Ah, Sie lesen Stauffacher!», sagt Herr Habegger. Stauffacher ist nicht der Name des Autors, sondern des Kommissars. Der Autor hat schon mehrere Romane mit ihm als dem Protagonisten verfasst: Kommissar Stauffacher vom Morddezernat Glarus. «Ja, genau. Sie auch? Der ist grandios, nicht wahr? Das ist schon der dritte, den ich lese, und ich kann gar nicht mehr aufhören!» Herr Habegger nickt. «Ja, wirklich. Ich dachte, ich hätte alle durch, aber diesen kenne ich noch nicht.» Herr Habegger legt den Kopf schräg, um den Titel des Romans auf dem Buchrücken besser lesen zu können. Herr Huber, der dies bemerkt, greift nach dem Buch und streckt es Herrn Habegger entgegen. «‹Die Tote in der Waschanlage›, gerade erst erschienen. Schauen Sie es sich nur gern an!» Herr Habegger dankt und beginnt, in dem Buch zu blättern, ohne wirklich hineinzusehen, weil er das Gespräch weiterführt. «Den kenne ich tatsächlich noch nicht, danke für den Tipp!», sagt er. «Stauffacher ist wirklich eine grossartige Figur. Und sein Hund, wie heisst er noch gleich?» «Toni», ruft Herr Huber. «Ein Jack Russell!» «Ja, genau, Toni! Also, den mag ich am liebsten», meint Herr Habegger. «Ja, Toni. Der kommt hier auch wieder vor, ist sogar sehr wichtig, aber mehr verrate ich noch nicht», sagt Herr Huber in gespielt verschwörerischem Tonfall. «Ja, dann muss ich das Buch ja kaufen!», antwortet Herr Habegger und lässt sich, vermutlich wegen Toni, der ihn an den Hund erinnert, den er sich als Kind gewünscht hat, zu einem AugenSurprise 503/21