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Solothurner Filmtage Letztes Jahr kam zuerst Corona, dann eine Leitungskrise. Die Werkschau des Schweizer Films soll nun mit neuem Mut als Ausgabe vor Ort stattfinden. Umschwenken auf Online-Angebote kann man im Notfall.
Denkanstösse für die Mitte der Gesellschaft Mit dem Programmpunkt «Grenzgängerinnen» würdigen die Solothurner Filmtage fünf Regisseurinnen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren mutig Neuland betraten. TEXT MONIKA BETTSCHEN
Die junge Tschechin Miléna reist Ende der 1970er-Jahre mit einem Seesack voller verbotener Texte, Filme und Musik für drei Wochen von Prag nach Paris, um Informationen über die politische Situation in ihrem Land zu verteilen. Während ihres Aufenthalts bewahrt sie sich ihre Unabhängigkeit und auch eine gewisse Unnahbarkeit, um ihren eigenen Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu gehen. Denn in der französischen Hauptstadt erlebt sie Neugier und Aufgeschlossenheit, aber auch Vorurteile und verschiedene Annäherungsversuche von Männern. Der Spielfilm «La fille de Prague avec un sac très lourd» von der Westschweizer Regisseurin Danielle Jaeggi aus dem Jahr 1978 wird getragen von der Aufbruchsstimmung jener Zeit. In Filmen wie diesem spiegelt sich das Selbstbewusstsein der Filmemacherinnen wider, die, inspiriert von der erstarkenden Frauenbewegung, ihren Platz in dieser Branche nicht mehr länger nur suchten, sondern aktiv zu behaupten begannen. Der Programmpunkt «Grenzgängerinnen» an den diesjährigen Solothurner Filmtagen verweist mit Filmen der Regisseurinnen Danielle Jaeggi, Cristina Perincioli, Anne-Marie Miéville, Loretta Verna sowie der Trickfilmpionierin Gisèle Ansorge auf diese wegweisende Zeit, in der sich immer mehr weibliche Filmschaffende aufmachten, Grenzen auszuloten und zu verschieben, 22
sei dies geografisch, formal oder auch politisch. «Die Arbeiten dieser Frauen machen deutlich, dass es beim Film keinen Platz gibt für nationale Besitzansprüche. Filme gehören vielen, sie sind das Ergebnis von Karrieren, die oft ins Ausland führten, und von transnationaler Zusammenarbeit», sagt Alexandra Schneider, Professorin für Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. «Cristina Perincioli zum Beispiel ging für ihre Ausbildung an die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin DFFB, wurde dort Teil der Frauenbewegung und des deutschen Filmschaffens. Und Danielle Jaeggi studierte am Institut des Hautes Études Cinématographiques in Paris und prägte das dortige feministische Filmschaffen mit.» Schneider ist Mitautorin der 1995 erschienenen Publikation «Cut – Film- und Videomacherinnen Schweiz von den Anfängen bis 1994 – eine Bestandsaufnahme». «Für Frauen war der Einstieg in die Filmbranche von Beginn an voller Hürden», sagt sie. «Vielen gelang es nur über eine Partnerschaft oder über Umwege, langsam Fuss zu fassen. Ihnen wurde es kaum zugetraut, sich die erforderlichen Techniken anzueignen, geschweige denn mit einem grossen Budget für einen Spielfilm umzugehen. Ausserdem gab es damals in der Schweiz keine einheitliche Ausbildung, sodass es viele über die Grenze zog, nach Berlin, London, Paris Surprise 516/22