Surprise 530/22

Page 22

Der Kurde, der Gehörlose und Monsieur La Chaux-de-Fonds TEXT BEAT STERCHI

Das Bein ist in einer Schiene. Kann mich nicht auf die Seite drehen. Das Bein ist das Bein, welches jetzt mit einem Titanteil in meinem linken Hüftgelenk steckt. Und Monsieur La Chaux-deFonds schnarcht. Aber ich, ich kann nicht wieder einschlafen. Wo ist die Urinflasche? Es ist kurz vor drei. Jemand hat doch gesagt: Weisst du, das tut nicht weh. Wer war das schon wieder? Und alle seien froh, dass sie es gemacht haben, bereuten lediglich, dass sie sich nicht früher zu der Operation entschlossen hätten. Wenn es nur mit etwas weniger Entbehrungen jeder Art gehen würde. Dieses Nichtschlafen-Können. Auch der immer wieder ganz plötzliche Harndrang ist in der Bewältigung so was von erniedrigend und schmerzhaft. Schon im Aufwachraum wurde ich gefragt: Heit dir Schmärze? Wie würdet dr se iischtuefe uf ere Skala vo null bis zäh? Null isch kenni Schmärze u Zäh isch unerträglech? Und noch gestern hatte jemand gefragt: Wenn chunsch unger ds Mässer? So ein blöder Spruch. Ich wurde zwar sehr wohl aufgeschnitten, die Narbe hier links fiel nicht vom Himmel, zugange war man aber vor allem mit einer Knochenfräse und einem Hammer. Das habe ich gesehen. Jetzt hat Monsieur La Chaux-de-Fonds aufgehört zu schnarchen. Er stöhnt. Er schreit unverständliches Zeug. Aber wozu musste er mich mit seinem blöden Telefon so abrupt aus dem Tablettenschlaf reissen! Noch nie was gehört von Handy ausschalten? Dieses endlose Drambambalambambampallampalaver. Klar, dann machte ich mit dem Bein auch noch eine verbotene Bewegung. Wie würdet dr Schmärze iischtuefe uf ere Skala vo ...? Dieses Viererzimmer ist viel zu klein. Eigentlich der Horror. Schon wieder: Drambambalambambamparadambambam. Wie das nervt. Und ich liege da im Halbdunkel. Mit diesem idiotischen Haarschnitt auf meinem Gring. Bei jedem Bett blinken grüne und rote Kontrolllichter. Einen Hahnenkamm hat mir der Rüpel von einem Kurdenfriseur verpasst. Kahl geschorene Seiten mit einem Büschel Wildwuchs obendrauf. Ich bin doch kein Fussballprofi, auch nicht mehr zwanzig. Diese Frisur passt überhaupt nicht auf deinen Kopf, hatte Anna gesagt. Als hättest du dir die Haare selbst geschnitten. Weil ich von der Rolle fiel, sobald der Operationstermin endgültig festgelegt war. Ich konnte noch knapp erledigen, was im Haushalt anstand. Immer humpelnd, klar. Und zum Coiffeur gehen. Aber nimm noch die leeren Flaschen mit, ist doch am Weg. Also humpeln wir auch da noch hin. Vor der Sammelstelle stand dann dieser Lastwagen, und ein stämmiger Mann mit einer roten Zipfelmütze war gerade bemüht, den verstopften Schlund des Büchsenzerquetschers frei zu machen. Der stämmige Mann war offensichtlich auch für den Abtransport der Glascontainer zuständig. Ja, der lachte und war freundlich. Nicht wie der Coiffeur. Hörst du! Der war freundlich! Wie die Pflegerinnen hier. Freundlich! Der war anständig, zivilisiert, trug auch kein idiotisch beschriftetes T-Shirt und schon gar nicht Tarnanzughosen wie du. Der trug Arbeitshandschuhe, überhaupt angemessene Arbeitskleidung. Oh, es mache sehr wohl Sinn, die Flaschen sorgfältig nach Farbe getrennt einzuwerfen, sagte er, nachdem er mir 22

erklärt hatte, wie das geht mit dem Abtransport der Sammelcontainer. Weil er aber mit einer eigenartig akzentuierten Stimme gesprochen hatte, war ich neugierig geworden, wollte ihn fragen, woher er komme oder was für ein Landsmann er ursprünglich gewesen sei. Jetzt stöhnt und keucht Monsieur La Chaux-deFonds wieder, als würde er gefoltert. Er schaut am Fernsehen Skispringen und lässt dazu seine doodelige Zupfmusik so laut sprudeln, dass ich mir das Kissen auf die Ohren drücke. Der könnte sich doch eigentlich den Kommentar anhören und sprachlich was dazulernen. Wenn er bloss nicht wieder telefoniert. Bamsalamtamtambaralambambamplemplem! Auch ihm werde ich die Geschichte von Kosinsky nicht erzählen. Weisst du, hätte ich dem Coiffeur sagen können, Sprachen lernt man, indem man zuhört und spricht. Anstatt mir über den Mund zu fahren, müsstest du dich um das Gespräch bemühen. Ich hätte ihm sagen können, dass es da diesen Polen gab, der zu seinem Bruder nach New York kam, ohne dass er auch nur ein Wort Englisch sprechen konnte. Und wie sollte er Englisch lernen, wo er doch in New York nur seinen Bruder kannte? Dieser Bruder war nämlich Tag und Nacht mit seinem Taxi unterwegs, kam er aber mal zurück in die Wohnung, war er so hundemüde, dass er nur schlafen wollte. Weisst du, wie dieser Pole, der Kosinsky hiess, dennoch Englisch lernte? Das hätte ich diesen Kurdenfriseur fragen können, aber dieser Kurdenfriseur hat ja seinen Blick kaum von seinem Handy wegbekommen, war verärgert, fühlte sich gestört, belästigt, alles andere als erfreut über einen Kunden. Wäre ich besser zu Fuss gewesen, hätte ich mich gleich umgedreht und wäre wieder die Treppe hoch. Dann hat er mich im Spiegel ewig mit offenem Mund total herablassend fixiert, eigentlich richtig frech, jedenfalls doof und überheblich. Und dies bloss weil ich gefragt hatte: Vermissen Sie Kurdistan? Ist doch nicht die dümmste Frage, die man stellen kann. Aber er fuchtelte und schnapperte mit der Schere in seiner Hand, als wollte er mir gleich an die Gurgel damit. Und ich versuchte ihn zu besänftigen: Ich meine, fehlt Ihnen Kurdistan? Immerhin hatte ich vorher ja gefragt, wie es ihm hier gehe und ob er Familie habe. Man kann ja nicht einfach so in einem Coiffeurkeller sitzen und schweigen wie auf einem Zahnarztstuhl. Man kann doch reden mit den Leuten. Aber er schnauzte mich an: Natürlich vermisse er Kurdistan, das sei doch normal! Und ich unter diesem ekligen schwarzen Fetzen aus elektrisch geladener Kunstfaser mit dieser juckenden Krempe am Hals musste hören, wie er mit der Schere weiter ganz nahe an meiner Kehle rummachte. Wobei er das überhaupt nicht so gesagt hatte, er konnte ja nur rumstammeln und die Wörter höchstens brockenweise wie Schlagzeilen ausspucken. Alle Heimat vermissen! Warum wollte der nicht reden? Üben. Rede doch mit den Kunden! Alle Heimat vermissen? Wie lernt man denn sonst eine Sprache? Weisst du, hätte ich sagen können, dieser Pole in New York, der Kosinsky, weisst du, was der gemacht hat? Und wieder schreit im Bett nebenan Monsieur La Chaux-de-Fonds so laut, dass gleich Surprise 530/22


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.