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Kino
schwerer zu werden, von verletzten Gefühlen und einer gescheiterten Liebesbeziehung belastet. Auf ihrer Reise trifft Laura auf Ljoha. Ab diesem Punkt wird es immer schwieriger, sich als westlich geprägte*r Zuschauer*in mit den Figuren zu identifizieren. Wo das Gefühl von Verlorenheit und die Frage nach Zugehörigkeit eine*n anfänglich in den Film eintauchen liessen, bauen nun klischierte Vorstellungen von Geschlecht eine schwer zu über«Alles in Ordnung? brückende Distanz auf. So wird Ljoha als stereotyp Ich habe gesehen, männliche Figur dargestellt: als Mann, der zu viel trinkt, wie du ausgerutscht sich rücksichtslos, stark und unverwundbar zeigt. Das bist.» wird in jener Szene besonders deutlich, in der Ljoha rauchend auf dem Perron hin und her läuft, einen Schneeball in die Luft wirft, den er mit seiner Faust zu treffen versucht und dabei ausrutscht. Er steht auf, schaut sich verstohlen um, während er den Schnee von seiner Jacke klopft. «Alles in Ordnung? Ich habe gesehen, wie du ausgerutscht bist», sagt Laura, als er wieder in den Zug steigt. «Quatsch, bin ich nicht.» Im Verlauf der Geschichte muss sich Laura immer wieder gegenüber dem grenzüberschreitenden Verhalten von Ljoha positionieren; gegenüber seinen derben und vulgären Sprüchen und der Tatsache, dass er zu viel Raum im kleinen Abteil einnimmt. «Quatsch, Obwohl ihr sein Verhalten lange unangenehm ist, be- bin ich nicht.» ginnt sie irgendwann, sich um ihn zu sorgen und entdeckt, dass unter der harten Schale doch ein weicher Kern steckt. Ähnlich klischiert wie die hegemoniale Männlichkeit, die Ljoha aufscheinen lässt, sind auch die Charaktereigenschaften von Laura, die als typisch weiblich stereotypisiert werden: Sie nimmt die Rolle der empathischen und fürsorglichen Frau ein, die sich um den Mann kümmert, der seine Gefühle nicht zeigen kann. Und so wird aus einer unangenehmen Bekanntschaft sowas wie eine Liebesbeziehung. Denn so unterschiedlich Laura und Ljoha auch sind, fühlen sie sich doch in der Welt, die sie umgibt, gleichermassen verloren. Juho Kuosmanen thematisiert die romantisierte Selbstsuche, in deren Unerreichbarkeit ein poetisches Potenzial liegt, das sich durch die ruhigen Bilder und das sanfte Licht offenbart. Schade ist, dass dieses Potenzial von flach gezeichneten Charakteren überschattet wird.
«Compartment No. 6», Regie: Juho Kuosmanen, FI/DE/EE/RU 2021, 108 Min. Läuft ab 3. März im Kino.
«Ein Mädchen fragt und sagt nichts»
Kino Der Dokumentarfilm «Stand up my Beauty» handelt von äthiopischen Frauen, deren Leben von Unterdrückung und sexualisierter Gewalt geprägt ist.
Wir hören das Knistern der Kaffeebohne, die melodische Stimme von Nardos. Geduldig schiebt sie die Bohnen in der Pfanne hin und her, schaut zu, wie sie langsam braun und schwarz werden. Sie ist die Hauptprotagonistin des Dokumentarfilmes «Stand up my Beauty», deren Begegnungen und Erzählungen die Zuschauer*innen folgen. Oft verschlägt es einem die Sprache. Nardos ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Wie viele andere Frauen arbeitet sie als Tagelöhnerin auf den Baustellen von Addis Abeba. Immer mehr auswärtige Bauunternehmen lassen sich in der äthiopischen Hauptstadt nieder, errichten hohe Bauten aus Stahl und Beton; neben ihnen scheinen soziale Realitäten keinen Platz mehr zu haben. Abends tritt Nardos als Sängerin gemeinsam mit ihrer Band in verschiedenen Lokalen der Stadt auf. Sie singt seit sie klein war, wie sie uns erzählt, manchmal direkt in die Kamera, manchmal erkling ihre Stimme aus dem Off. Allerdings widmete sie sich bisher immer Liedern, die andere geschrieben haben. Doch sie möchte eigene schreiben. «Stand up my Beauty» ist der Titel ihres ersten Liedes.
Das Lied entstand im Rahmen von Begegnung mit verschiedenen Frauen. In den Gesprächen werden die Bürden spürbar, die sie tagtäglich tragen, tragen müssen. Nardos spricht mit ihrer Mutter, die sie in frühen Jahren weggeben musste; sie konnte ihre Kinder nicht ernähren und entschied sich dagegen, ihr damals siebenjähriges Kind zu zwangsverheiraten. Erzählungen von Diskriminierung und Unterdrückung, sexualisierter Gewalt und Schwangerschaften im Kindesalter reihen sich aneinander. Es sind individuelle Erfahrungen, die sich zu kollektiven verflechten. «Ein Mädchen fragt und sagt nichts», sagt eine der Frauen. Die Unterhaltungen sind durch Anteilnahme und wortloses Verständnis geprägt. Jede Begegnung hält Nardos in ihrem gelben Notizbuch fest, lässt sie in ihre Lieder einfliessen; es sind Erzählungen eines Lebens ohne Rechte.
GIULIA BERNARDI
«Stand up my Beauty», Regie: Heidi Specogna, Dokumentarfilm, CH/D 2021, 110 Min. Läuft ab 17. Feb. im Kino.