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Moumouni
Verkäufer*innenkolumne
Lebendig begraben
Früher war ich Journalistin. Seit einem Tag im Jahr 1993 in Somalia kann ich diesen Beruf nicht mehr ausüben. Nur schon wenn ich daran denke, wird mir unwohl. Ich wollte damals über eine Versammlung der Regierungspartei berichten. Damals waren die amerikanischen Besatzungstruppen bereits auf dem Rückzug. An der Versammlung war auch der ehemalige Regierungspräsident Mohamed Farah Aidid anwesend, der mit seiner Somalischen Nationalen Allianz militärisch gegen die Uno-Truppen vorgegangen war. Als wir ankamen, war er allerdings schon wieder gegangen.
Wahrscheinlich weil sich vor dem Gebäude eine Menge Leute eingefunden hatten, wurden wir plötzlich bombardiert. Menschenansammlungen wurden als gefährlich eingestuft. Siebzehn Menschen starben, ein Journalist, mit dem ich zusammenarbeitete, wurde vor meinen Augen in zwei Hälften zerrissen. Ich selber wurde von Bombensplittern getroffen, vor allem am Arm und an der Hüfte, mein Trommelfell wurde zerfetzt. Ich lag unter den Toten und wurde mit anderen in einen Teppich eingewickelt, man fuhr uns zu einer Stelle, an der ein Massengrab ausgehoben werden sollte. Weil es schon dunkel wurde, verschob man die Arbeit auf den nächsten Tag. Inzwischen hatten viele Leute, auch meine Mutter, erfahren, was geschehen war, sie eilten hinzu, um ihre Angehörigen zu suchen. Die erneute Menschenansammlung hatte einen weiteren Bombenangriff zur Folge. Meine Mutter wurde an der Hüfte getroffen und in ein Spital gebracht. Ich habe die ganze Zeit gedacht, ich sei tot. Am frühen Morgen kam eine Mutter, die ihr Kind bei dem Angriff verloren hatte, und suchte es. Sie rief seinen Namen, und ich versuchte, etwas zu sagen, obwohl ich doch tot war. So wurde sie auf mich aufmerksam und hat gemerkt, dass da noch jemand am Leben ist. Sonst wäre ich lebendig begraben worden. Ich kam in dasselbe Spital wie meine Mutter.
Ich weiss noch, dass ich mich wunderte, dass man, auch wenn man tot ist, von Ärzten zusammengeflickt wird. Sonst kann ich mich an nichts mehr erinnern. Erst später, nach etwa einem Jahr – damals war ich in einem Krankenhaus in Äthiopien – kam ich langsam wieder zu mir, von da an habe ich wieder Erinnerungen. Trotzdem lässt mich dieses Erlebnis nicht los. Ich habe seither keine Nacht schlafen können, ohne Albträume zu haben. Ich sehe immer wieder die Menschen vor mir, die von den Bomben getötet wurden. Ich habe das Gefühl, begraben zu werden. Ich kann seither nur noch schlafen, wenn ich Schlafmittel nehme. Wahrscheinlich müsste ich eine Therapie machen, aber ich denke immer, ich warte noch, bis meine Kinder alle gross sind. Bis dahin muss ich mich um sie kümmern. Erst dann kann ich mich um mich kümmern.
Anm. d. Red.: Ausnahmesweise veröffentlichen wir diese Verkäufer*innen-Kolumne in Absprache mit der Autorin anonym, um die Verfasserin zu schützen.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.