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BosnienHerzegowina
Korace, Oktober 1992: Als plötzlich alle zu den Waffen griffen und Nachbarn zu Freunden wurden – im multiethnischen Bosnien wütete der Bürgerkrieg besonders schlimm.
Bosnien-Herzegowina Hundertausend Tote und zwei Millionen Vertriebene forderte vor dreissig Jahren der Bosnienkrieg. Bis heute gibt es viele offene Wunden. Am schlimmsten sind die Feindbilder.
Über die Runden kommen
Wieder einmal flammt in Bosnien-Herzegowina der Nationalismus auf. Dabei haben die Menschen dort ganz andere Sorgen.
TEXT KLAUS PETRUS FOTOS THOMAS KERN
Weit, weit weg ist der Balkan für die meisten von uns, auf der Karte wie im Kopf, und verloren sowieso: ein gescheitertes Projekt der «Brüderlichkeit und Einigkeit», ein ewiges Pulverfass, eine Region korrupter Eliten und geschichtsblinder Nationalist*innen.
Die meisten dieser Bilder gründen auf Vorurteilen, von denen es bis heute haufenweise gibt. Über den Balkan reden, das kann man nicht ohne Klischees, so lautet ein Sprichwort. Dabei geht es nicht bloss um Stereotypen, mit denen sich der «Westen» – gemeint ist hier ein enggefasstes, elitäres Konstrukt von Europa – unentwegt vom Balkan abheben will. Sondern auch um Vorurteile, mit denen sich Menschen im ehemaligen Jugoslawien und speziell im ethnisch vielfältigen Bosnien untereinander begegnen: der böse Serbe, die unterdrückte Kroatin, die rückständigen Bosniaken.
Lange galt Bosnien-Herzegowina als «kleines Jugoslawien im grossen Jugoslawien»: ein Land mit nur 3,3 Millionen Menschen, davon etwa 50 Prozent muslimische Bosniak*innen, 30 Prozent orthodoxe Serb*innen und 15 Prozent katholische Kroat*innen, mit drei Sprachen und zwei Schriften. Für Josip Broz Tito, der mit seinen Partisanen die Nazis aus dem südslawischen Raum vertrieben und 1945 die Föderative Volksrepublik Jugoslawien gegründet hatte, war dieses kleine Bosnien stets ein Musterbeispiel seines Vielvölkerstaates, über den er bis zu seinem Tod 1980 herrschte.
Als Jugoslawien in den Jahren danach zerfiel, wütete der Krieg ab 1992 im multiethnischen Bosnien besonders arg. 100 000 Tote, zwei Millionen Geflüchtete, ethnische Säuberungen, der Genozid von Srebrenica – nach nur drei Jahren lag das Land in Trümmern. Das Friedensabkommen von 1995 wollte das Unmögliche: die Menschen zusammenführen, ohne sie zu einen. Herausgekommen ist ein Gesamtstaat mit klaren ethnischen Trennlinien: auf der einen die Föderation Bosnien-Herzegowina mit einer überwiegend kroatischen und bosniakischen Bevölkerung, auf der anderen Seite die Republika Srpska, hauptsächlich von bosnischen Serb*innen bewohnt. Diese ethnischen Trennlinien entpuppen sich oft als Selbstläufer. Politiker*innen aus allen ethnischen Lagern beschwören ihre nationale Identität und drohen pathetisch mit der Abspaltung vom Gesamtstaat Bosnien – wie unlängst der Anführer der Republika Srpska, Milorad Dodik. Und schon reden alle wieder vom «Pulverfass Balkan». Dabei haben die Menschen im Lande ganz andere Sorgen. Bereits in einer Umfrage von 1991 – also kurz vor Ausbruch des Krieges und in der Blütezeit eines von oben diktierten Nationalismus – gaben 90 Prozent der Befragten an, nationale Identität spiele für sie im Alltag keine Rolle. Und 90 Prozent waren überzeugt, sie würden gegenüber den anderen – und zwar egal, welche Ethnie – benachteiligt: in der Schule, auf der Arbeit oder bei der Subventionierung durch den Staat. Soziale Sicherheit war den Menschen damals wichtiger als ethnische Identität.
Und das ist auch heute so: Soziale Probleme dominieren Bosnien, auch dreissig Jahre später, immer noch. Die Arbeitslosigkeit ist 2020 auf 19 Prozent gestiegen, 34 Prozent der Jugendlichen haben keinen Job. Im Korruptionsindex liegt Bosnien auf Platz 111 von 180 Ländern. Viele Gründe, in Bosnien zu bleiben, gibt es also nicht. Wer durch das Land fährt, sieht Kriegsspuren allenthalben und allzu viele verwaiste Dörfer. Und doch: Die dort bleiben, suchen beharrlich nach einer Perspektive – und das oft gemeinsam. Bei sozialen Protesten stehen sich nicht Bosniak*innen, Kroat*innen und Serb*innen gegenüber, sondern einmal mehr die Bevölkerung hier und die politische Obrigkeit dort.
Den Nationalist*innen mag das nicht ins Konzept passen, auf dem Spiel steht immerhin ihre Mär vom ewigen Hass zwischen den Ethnien. Die Menschen müssen derweil mit dem wenigen, das sie noch haben, über die Runden kommen.
Hintergründe im Podcast: Simon Berginz spricht mit Redaktor Klaus Petrus über die Hintergründe zum Thema. surprise.ngo/talk
KROATIEN
Banja Luka
BOSNIENHERZEGOWINA
BOSNIENHERZEGOWINA
Sarajevo
Brčko
SERBIEN
Tuzla
Srebrenica
ADRIATISCHES MEER Mostar
MONTENEGRO
Republika Srpska (35% der Bevölkerung) Föderation Bosnien und Herzegowina (63% der Bevölkerung) Sonderdistrikt Brčko (2% der Bevölkerung)
Ethische Gruppen Serben Bosniaken Kroaten Sarajevo, Dezember 1992: Liebe und Hoffnung in Zeiten des Kriegs und der Zerstörung – ein junges Paar, frisch verheiratet, der Mann wird schon bald an der Kriegsfront sein.
Zwischen Himmel und Trnopolje
Elvis Alic war acht, als er während des Bosnienkrieges in serbische Gefangenschaft geriet. Das schürte seinen Hass. Und brachte ihm Freunde.
«Es lag etwas in der Luft. Seit Wochen schon hatte sich die Situation zugespitzt, die Fronten waren endgültig verhärtet. Das ehemalige Jugoslawien stand im Frühling 1992 kurz vor einem historischen Umbruch, das war förmlich spürbar. Ich weiss noch, wie ich als kleiner Junge täglich gespannt den Nachrichten im Fernseher gelauscht hatte. Sie berichteten von einem Krieg, der unausweichlich schien.
Unser kleines Heimatdorf Kozarac im Norden Bosnien-Herzegowinas befand sich inmitten der Teilrepubliken Kroatien, Serbien und Montenegro. Der Alltag wurde vom multikulturellen Aufeinandertreffen verschiedenster Nationalitäten und Religionen geprägt: Bosnier*innen lebten Seite an Seite mit Serb*innen und Kroat*innen. Symbolisch für das funktionierende Zusammenleben war eine Moschee, die mitten in der Stadt stand – einige Meter weiter folgte eine christliche Kirche. Die Menschen lebten hier im Einklang miteinander. Uns wurde schon von klein auf die Prämisse gelehrt: «Einigkeit und Brüderlichkeit.»
Doch diese Welt begann mit den Kriegswirren zu bröckeln. Das gegenseitige Misstrauen innerhalb der Bevölkerung wuchs, Bevölkerungsgruppen entfremdeten sich. Es bildeten sich militante Gruppen, die abends durch das Dorf patrouillierten. Waffen wurden gehortet. Auch der Schulunterricht wurde auf unbestimmte Zeit abgesetzt. Ich verstand damals nicht wirklich, was da im Gang war – lediglich meinen Eltern merkte ich die Anspannung an. Wegweisend war die Schliessung der Landesgrenzen im Mai 1992. Ein- und Ausreisen waren nicht mehr möglich. Serbien hatte mittlerweile bereits Kroatien den Krieg erklärt. Es folgte ein Ultimatum der übermächtigen serbischen Armee: Bosnien sollte bis 12 Uhr mittags widerstandslos kapitulieren – ansonsten würde das Feuer eröffnet werden.
Mein Vater hatte in den Wochen zuvor bereits vorgesorgt. Neben unserem Haus hob er eine meterhohe Grube aus, rund 10 Meter tief. Der improvisierte Bunker wurde mit massiven Baumstämmen abgedeckt und sollte uns vor feindlichen Geschossen etwas Schutz bieten. Punkt 12 Uhr flog die erste Granate über unsere Köpfe hinweg. Zwar schlug die Granate in einiger Entfernung ein, der Einschlag war aber deutlich zu hören. Ich geriet in Panik, mein Vater zog mich in den Bunker. Es folgten zugleich meine Mutter und mein damals einjähriger Bruder. Mein Vater konnte nicht bleiben. Er griff sich sein Gewehr und lief geradewegs in die Richtung, aus der die Granate geflogen kam.
Ich hatte panische Angst, das Gefühl lässt sich kaum beschreiben. Es folgte ein riesen Donnerwetter, das Bombengewitter kam näher und näher. Der Boden bebte förmlich. Sie feuerten mit Panzern und schweren Kalibern. Das ist ein Gefühl, das ich niemandem zu erleben wünsche. Hätte es bei uns eingeschlagen, wäre es mit uns vorbei gewesen, das war mir bewusst. Das ging den ganzen Tag so weiter, stundenlang. Ich weinte endlos. Es war ein banges Warten auf das Ungewisse. Abends musste ich auf die Toilette. Meine Mutter hob mich aus dem Bunker raus. Es war bereits dunkel, ich musste mich erst wieder orientieren. Was dann folgte, war ein Gefühl, das ich kaum beschreiben kann. Ich stand inmitten meiner altbekannten Strasse vor meinem Elternhaus – und um mich herum herrschte komplette Verwüstung. Alles brannte lichterloh, überall Rauch. Die zerstörten Gebäude glichen einem Schlachtfeld. Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich das erzähle. Mein Heimatdorf war nicht wiederzuerkennen.
Die Serben hätten uns eingekesselt und seien bereits vor den Toren der Stadt. Es ging alles sehr schnell. Wir gingen los, ziellos liefen wir in eine Richtung – geradewegs in die Arme serbischer Soldaten. Widerstand zu leisten war zwecklos. Die Soldaten brachten uns zu einer riesigen Anlage. Es sah aus wie eine kleine Stadt, die von Stacheldraht umringt war. Überall war Militär. Und beim Eingang las ich die Aufschrift «Trnopolje». Ich sah vor mir eine riesige Menschenschlange, hunderte, tausende Menschen standen in Reih und Glied an. Wir mussten uns ihnen anschliessen. Vorne angekommen, wurden wir Häftlinge sortiert – hier Frauen und Kinder, auf der anderen Seite die Männer. Es ereigneten sich schreckliche, herzzerreissende Szenen in diesem Moment. Familien wurden auseinandergerissen und sahen sich teilweise nie mehr wieder.
Schulter an Schulter
Mit Bussen wurden wir zu einer alten Schule gebracht. Das karge Gebäude war zur Unterkunft für die Insassen des Lagers umfunktioniert worden. Darin sollten wir die Nacht verbringen. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Der nackte Boden war eiskalt, wir lagen eng aneinandergereiht, Schulter an Schulter. Draussen wurden immer wieder Schüsse abgefeuert. Regelmässig öffneten Soldaten die Türe, leuchteten uns mit Lampen ins Gesicht und zerrten junge Frauen aus dem Zimmer. Gehört hat man nichts, aber jeder wusste, was folgte. Es sollte die erste Nacht von vielen werden. Eine grauenhafte Zeit.
Es handelte sich um ein Kriegsgefangenenlager der serbischen Armee, primär wurden dort Frauen und Kinder gefangen gehalten. Andere Lager waren auf männliche Insassen ausgerichtet. Alle Kriegsparteien unterhielten im Kriegsgebiet solche Anlagen, in denen auch ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen verübt wurden. Schätzungen unabhängiger Organisationen zufolge wurden damals in hunderten Internierungslagern rund 30 000 Menschen ermordet. Im August 1992 wurde Trnopolje als erstes Lager von internationalen Kriegsberichterstatter*innen besucht. Die Bilder gingen um die Welt und wurden als endgültiger Beweis für das Bestehen solcher Lager gesehen. Das berühmteste Bild wurde unter anderem Titelbild des TIME Magazine. Es zeigt meinen Cousin Fikret Alic, der ebenfalls mit uns im Camp war. Erst Jahre
später, wir waren bereits in der Schweiz, erkannte ihn mein Vater auf dem Foto. Wir trauten unseren Augen kaum. Es vergingen drei Monate. Und dann, eines Tages, wurden wir mit anderen Insassen aus dem Camp hinausgeführt. Vor uns sahen wir plötzlich Zugwaggons stehen. Die Gleise führten ins Nichts. Niemand von uns verstand, was passierte.
Die Hitze im vollgestopften Zug war unerträglich. An den Innenwänden hatten sie ein Gemisch aus Kalk und Ammoniak angebracht, das die Luft austrocknete und die Haut angriff. Dann setzten sich die Waggons in Bewegung. Es gab keine Fenster, die Bedingungen waren katastrophal. Nach einer viertägigen Zugfahrt kamen wir in Doboj an. Wir wurden zu einer Brücke gebracht, die über einen Fluss ragte. Niemand sagte uns, was da gerade vor sich ging.
Ich weiss noch genau, wie ich dicht neben meiner Mutter lief, mich an ihrem Kleid festklammerte. Wir mussten auf den Boden schauen. In all den Monaten im Camp wurde uns das so eingetrichtert. Den Soldaten durften wir nie in die Augen schauen. Plötzlich wurden Stimmen lauter und wir liefen geradewegs in die Arme serbischer Soldaten. «Runterschauen», wurde uns immer wieder gesagt. Ich riskierte dennoch einen Blick und sah zu meiner Verblüffung das Abzeichen des bosnischen Militärs. In dem Augenblick dachte ich, ich träume. «Mama!», sagte ich. «Das sind unsere Soldaten!» Sie schnauzte mich jedoch nur an und sagte, ich soll ruhig sein. Doch dann bemerkte auch sie, dass wir tatsächlich von bosnischen Soldaten umgeben waren. Dieser Moment war unbeschreiblich. Ein Gefühl von Sicherheit, fast schon eine innere Wärme, machte sich in mir breit. Beim Blick zurück sah ich eine Gruppe von Kriegsgefangenen, die mittlerweile bei den serbischen Soldaten angekommen war. Dieser Gefangenenaustausch auf der Brücke in Doboj war für mich wie ein symbolischer Übertritt von der Hölle in den Himmel. Natürlich, wir hatten immer noch grosse Sorge und die Zukunft war ungewiss – dennoch fühlten wir uns sicher. Wir wurden in eine Sporthalle in der benachbarten Stadt Zenica gebracht. Neun Monate verbrachten wir in diesem Flüchtlingslager.
Wie ein Ehrengast
Die Bedingungen waren spartanisch, aber im Vergleich zu den Monaten zuvor waren es Welten. Das Rote Kreuz kam sogar mal vorbei und verteilte Geschenke und Essen. Einmal pro Tag heulten die Sirenen auf, dann mussten wir uns in den Bunker verkriechen. Es folgten die täglichen Bombardierungen der serbischen Luftwaffe. Doch der Alltag im Camp war den Umständen entsprechend gut. Nach neun Monaten schafften wir es mit Bussen, die regelmässig organisiert wurden, aus dem Camp heraus.
Nach einigem Hin und Her kamen wir in Zagreb, Kroatien, an. In ganz Europa hatte es mittlerweile Bemühungen verschiedener Länder gegeben, Flüchtlinge aufzunehmen. Wir erfuhren von einer Liste, wo nach den Familienangehörigen vermisster Personen gesucht wurde. Meinen Vater hatte ich das letzte Mal gesehen, als er aus dem Bunker stieg und Richtung serbische Armee stürmte. Das war jetzt fast drei Jahre her. Und plötzlich stand da der Name «Alic». Wir trauten unseren Augen kaum. Wir mussten uns ausweisen, anschliessend nahmen wir Kontakt mit den Behörden auf. Mein Vater war schon seit einiger Zeit in der Schweiz. Die Schweiz genehmigte innert weniger Tage unser Gesuch um Asyl, und wir flogen mit dem Flugzeug nach Zürich. In Chur erwartete uns mein Vater bereits auf dem Perron. Diesen Moment kann man nicht beschreiben, unmöglich. Über ein Jahr hatten wir nichts voneinander gehört. Ich trug während dieser ganzen Zeit immer ein Bild von ihm eng an meiner Seite. Meine Mutter versuchte stets mich zu beruhigen und sagte: «Es geht ihm gut, ganz bestimmt. Irgendwo wartet er auf uns.» Und dann stand er plötzlich vor mir. Irgendwo in der Schweiz, in einem beschaulichen Bahnhof in den Bergen, sah ich meinen Papa endlich wieder. Ich rannte ihm entgegen, nahm ihn in den Arm. Und dann schenkte er mir Schweizer Schokolade, daran kann ich mich noch genau erinnern. Ein unglaublich schöner Moment.
Heute lebe ich seit 27 Jahren in der Schweiz. Ich bin in diesem Land angekommen, fühle mich sehr wohl hier. Auch was den Krieg und das Erlebte betrifft, habe ich viel gelernt. Zu Beginn verspürte ich einen unvorstellbaren Hass gegenüber Serben. Das war auch eine Folge der Kriegspropaganda. Tief in mir drin war diese blinde Ablehnung gegenüber Serben verwurzelt. Doch eine ganz spezielle Begegnung führte zu einem Umdenken.
Ich war damals 17 Jahre alt und gerade mit meinen Freunden unterwegs. Ein Junge kam vorbei, er stellte sich als «Sascha» vor, anscheinend war er mit anderen aus der Gruppe befreundet. Er machte einen freundlichen Eindruck und machte die Runde. Als er mir seine Hand entgegenstreckte, fiel ihm eine Halskette mit dem serbischen Kreuz auf den Boden. In diesem Moment kam dieser Hass in mir auf. Ich sagte ihm, dass ich ihm nie die Hand geben werde und er verschwinden solle – unverzüglich. Ich dachte, ihn nie wiedersehen zu müssen. Kurze Zeit später habe ich angefangen, bei einem regionalen Klub Fussball zu spielen. Als ich beim ersten Training auf den Platz lief, sah ich diesen Typen wieder. So spielten wir zusammen, mehrmals pro Woche. Ich war Innenverteidiger, er spielte im Mittelfeld direkt vor mir. Schnell merkten wir: Das Zusammenspiel funktionierte kommentarlos. Wir verabredeten uns zum Fussballspielen in der Freizeit, wurden Freunde.
Eines Tages lud er mich zum serbischen Weihnachtsfest bei seiner Familie ein. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, schliesslich war das ein wichtiger Tag für die Serb*innen. Mein Vater sagte mir aber, ich solle unbedingt gehen, solch eine Einladung sei eine grosse Ehre. Es spiele keine Rolle, woher man komme – wir seien nun in der Schweiz. Die Familie nahm mich wunderbar auf, ich wurde wie ein Ehrengast behandelt. Es folgte unser Bajram – das Fastenbrechen –, für uns ein äusserst wichtiges Fest mit grosser Bedeutung. Ich lud ihn zu unserem Familienfest ein. Endgültig war der Hass in mir verflogen. Ich besuchte ihn sogar schon in seiner alten Heimat in Serbien und er mich in Bosnien. Niemals hätte ich geglaubt, das jemals zu sagen, aber heute bin ich stolz darauf: Sascha ist Serbe – und Sascha ist mein bester Freund.» Aufgezeichnet von SVENJA TSCHANNEN
Der Text erschien im Magazin «Kein Müller», herausgegeben von Svenja Tschannen und Sébastien Ross: www.keinmüller.ch.
SVENJA TSCHANNEN
FOTO: Elvis Alic, 37, floh mit seiner Frau Edith vor dem Krieg aus Bosnien in die Schweiz. Hier mussten sie sich gegen Vorurteile behaupten und lernen, was es heisst, eine Chance zu nutzen.
Der Fotograf
Thomas Kern, 57, preisgekrönter Schweizer Fotograf, war während des Krieges in Bosnien. «Ich wollte den Krieg näherbringen. Hier in der Schweiz meinte man, er sei weit weg, man verstand nicht, was auf dem Balkan passierte. Schon damals gab es viele Familien, die in der Schweiz und in Bosnien lebten. Leute, die Teil unseres Lebens waren.»
Golo Brdo, Sarajevo, Dezember 1992 / Zenica, Februar 1993: Spielende Kinde, tote Körper, fassungslose Blicke – der Krieg lässt ein Grauen zurück, welches das Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt; dazwischen liegt das Unsagbare.
Nach wie vor gibt es Trennlinien durch Bosnien, viele davon sind unsichtbar, sagt Balkan-Experte Cyrill Stieger. Hoffnung setzt er in die Zivilgesellschaft.
INTERVIEW KLAUS PETRUS
Cyrill Stieger, wieder einmal ist in den Medien vom «Pulverfass Balkan» die Rede. Milorad Dodik, mächtigster Politiker im serbischen Teil Bosniens, der Republika Srpska, drohte jüngst mit der Abspaltung des serbischen Landesteils vom Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina. Wie ernst ist die Lage?
Cyrill Stieger: Sicher ist Dodik diesmal einen Schritt weitergegangen, immerhin will er die serbischen Abgeordneten vom gesamtbosnischen Parlament abziehen und redet von einer eigenen Armee für die Republika Srpska. Allerdings nutzt er schon seit Jahren jede Gelegenheit, um damit zu drohen, den serbischen Landesteil von Bosnien loszulösen und Serbien anzuschliessen. Ich denke nicht, dass es Krieg geben wird und die Grenzen neu gezogen werden.
Das Beispiel Dodik zeigt aber auch, wie einfach es gerade in Bosnien offenbar immer noch ist, die Karte des Nationalismus auszuspielen. Warum ist dem so?
Diese Frage stelle ich mir seit Jahrzehnten. Bei den ersten Wahlen unmittelbar nach dem Krieg in den 1990er-Jahren wurden mehrheitlich dieselben Politiker gewählt, die für den Zerfall von Jugoslawien mitverantwortlich waren. Noch heute besetzen einige von ihnen führende Positionen oder sind gar an der Macht. Was man aber nicht vergessen darf: Jüngst vor allem auf lokaler Ebene immer wieder Politiker*innen gewählt, die keinem der drei ethnischen Lager – kroatisch, serbisch, bosniakisch – angehören wollen, sondern sich ganz ausdrücklich als Bosnier*innen begreifen. Wie zum Beispiel die 2021 zur Bürgermeisterin von Sarajewo gewählte Benjamina Karić. Sie gehört einer gesamt-bosnisch orientierten Partei an, definiert sich im staatsbürgerlichen Sinn als Bosnierin und will sich gerade nicht in ein ethno-nationales Korsett pressen lassen. Allerdings konnten sich solche gesamt-bosnischen Kräfte bisher auf nationaler Ebene nicht durchsetzen.
Der Krieg hat zu Misstrauen und Schuldzuweisungen unter Kroat*innen, Serb*innen und Bosniak*innen geführt. Könnte das ein Grund sein, warum der Nationalismus nach wie vor so dominant ist?
Was man gewiss sagen kann ist, dass eine Aufarbeitung der historischen Ereignisse ausgesprochen wichtig wäre, um sich einander anzunähern. Zum Beispiel hätte man viel aus dem Zweiten Weltkrieg lernen können. Damals tobte in der Region ein blutiger Bürgerkrieg zwischen der kroatischen Ustaša, den serbischen Četnik und Titos Partisanen. Nach dem Krieg wurden diese Gräueltaten einfach unter den Teppich gekehrt, es war nur noch von «Brüderlichkeit und Einheit» die Rede. Bis Ende der 1980er-Jahre all diese unverarbeiteten Traumata wieder an die Oberfläche kamen und von den Nationalisten politisch instrumentalisiert wurden. Damals begangenes Unrecht diente jetzt als Rechtfertigung für einen neuen Krieg.
Eine historische Aufarbeitung findet bis heute nicht statt?
Die drei ethnischen Lager haben nach wie vor ihre eigene Geschichtsschreibung. Jede Seite sieht sich als Opfer. Zumindest auf staatlicher Ebene fehlt die Bereitschaft, diese Rolle abzulegen und an einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte teilzunehmen. Anders in der Zivilgesellschaft, dort wächst das Interesse an einer multiperspektivischen Betrachtungsweise der Geschichte. Allerdings ist es immer einfach, von aussen mit dem Finger auf den Balkan zu zeigen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eines Landes ist kompliziert und braucht viel Zeit. Man denke bloss an die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Sie haben von je eigenen Perspektiven auf die Geschichte geredet. Wie steht es eigentlich um die Geschichtsbücher an den Schulen?
Das ist ein interessanter Punkt. In jenen Regionen Bosniens, die im Krieg nicht «gesäubert» wurden und wo also nach wie vor Menschen unterschiedlicher Ethnien leben, sind die Schulen bis auf wenige Ausnahmen ethnisch getrennt. In Travnik zum Beispiel, einer Stadt in Zentralbosnien, steht eines der ältesten Gymnasien des Landes. In der Mitte des grossen Gebäudes befindet sich eine Kirche, in der rechten Hälfte, renoviert und mit blauer Fassade, gehen die kroatischen Kinder und Jugendlichen zur Schule, in der linken, ockerfarbenen, heruntergekommenen Hälfte, die bosniakischen. Die beiden Schulen haben eigene Namen, Administrationen, Lehrer*innen, Putzpersonal – und eigene Schulbücher. Es handelt sich um zwei verschiedene Schulen, die sich aber unter dem gleichen Dach befinden. Nun macht das in Fächern wie Mathematik vielleicht keinen Unterschied, in Geschichte aber sehr wohl. Da finden sich dann entsprechend unterschiedliche «Wahrheiten» etwa über den Zerfall Jugoslawiens oder die Kriege der 1990er-Jahre. Fächer wie Geschichte sind für die jeweiligen Ethnien identitätsstiftend, was auch bedeutet, dass sie sich dadurch von den anderen abzugrenzen versuchen. Das gilt auch für die Sprache.
Noch 1918, bei der Gründung von Jugoslawien, wurde die Sprache als verbindendes Element hervorgehoben.
Tatsächlich bildete das sogenannte Serbokroatische damals eine wichtige gemeinsame Basis, und auch in Titos Jugoslawien dominierte diese Standardsprache. Sie galt als einheitliche Sprache mit zwei Varianten, der serbischen und der kroatischen. Allerdings gab es bereits ab den 1960er-Jahren von kroatischer Seite Bestrebungen, die Eigenständigkeit der kroatischen Sprache zu betonen. Man fand, das Kroatische komme im Serbokroatischen zu wenig zur Geltung. Verlangt wurde die Gleichberechtigung des Kroatischen. Viele Kroat*innen fühlten sich von den Serb*innen politisch dominiert. Eine Aufwertung der Sprache hiess also auch: eine Aufwertung der eigenen Nation, der eigenen nationalen Identität. Tatsächlich wurde nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 das Kroatische möglichst von allen serbischen Elementen «gereinigt» – bosnisch-serbische Nationalist*innen machten das umgekehrt auch, allerdings ohne Erfolg. Dabei sind die Unterschiede zwischen diesen Spielarten des Südslawischen gering, Kroat*innen und Serb*innen können sich mühelos verstehen.
So gesehen machen getrennte Schulen noch weniger Sinn.
Das ist auch meine Meinung. Anders sehen das allerdings die Befürworter*innen der ethnischen Trennung in der Schule auf der Grundlage der Sprache. Mir haben kroatische Lehrpersonen und Eltern in Bosnien immer wieder gesagt: Wir sind eine eigene Ethnie, also haben unsere Kinder ein Anrecht darauf, in der eigenen Sprache unterrichtet zu werden. Nur so können wir unsere eigene sprachliche, kulturelle und nationale Identität bewahren. Dabei berufen sie sich auf die bosnische Verfassung, sie ist ein Annex des Dayton-Friedensabkommens von 1995 – und haben in gewisser Hinsicht recht damit.
Wie meinen Sie das?
Zwar steht in der bosnischen Verfassung nirgends, dass jeder und jede das Recht hat, in seiner oder ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Festgeschrieben wird lediglich das Recht auf Bildung. In der Verfassung der Föderation ist zudem das Recht auf die eigene Identität und die eigene Sprache sowie auf die Pflege der eigenen Kultur und der eigenen Traditionen
«Bei sozialen Protesten spielt die ethnische Identität keine Rolle.»
CYRILL STIEGER
verankert. Doch dominiert in der Verfassung das ethnisch-nationale Prinzip: Territoriale und politische Machtansprüche werden darin auf die drei Ethnien verteilt. So wurde die im Krieg der 1990er Jahre erzwungene ethnische Teilung des Landes durch Dayton faktisch legitimiert, wenn auch mit einigen wenigen Abstrichen.
Heisst das, dass die bosnische Jugend durch den Schulunterricht nach wie vor politisiert wird?
Es ist kompliziert. Tatsächlich verfestigen sich bei der jungen Generation die ethnischen Trennlinien in gewisser Weise, und das, obschon sie den Krieg nicht am eigenen Leib erfahren haben und sich die meisten Jugendlichen kaum für den Zerfall Jugoslawiens und die Kriege der 1990er-Jahre interessieren. Doch sie alle haben ethnisch getrennte Schulen besucht, oft gehen sie auch in unterschiedliche Restaurants. Sie kennen nichts anderes als die ethnische Trennung in den Schulen. Sie ist für sie normal geworden. Viele haben auch kein Interesse daran, die ethnischen Trennlinien zu überwinden, wenn das nicht nötig ist. Das hat weniger mit nationalistischer Gesinnung oder gar Hass zu tun als vielmehr mit Desinteresse und Gleichgültigkeit. Das heisst allerdings keineswegs, dass die ethnischen Trennlinien im Alltag nicht überschritten werden. Manche pflegen auch engere Kontakte mit Angehörigen anderer ethnischer Gruppen oder arbeiten mit ihnen an gemeinsamen Projekten. und in jenen der bosnischen Serb*innen Kroatien beziehungsweise Serbien im Zentrum steht? Es ist diese unterschiedliche Sicht auf die eigene Vergangenheit, die Ethno-Nationalist*innen ausnutzen und die immer wieder zu Konflikten führt. Wie kann sich auf diese Weise ein gesamtbosnisches Bewusstsein über die ethnischen Trennlinien hinweg entwickeln? Das aber wäre dringend nötig.
Reist man durch Bosnien und redet mit Leuten, kriegt man unweigerlich den Eindruck, dass die Bevölkerung ganz andere Probleme hat als die Bewahrung der ethnischen Identität.
Allerdings. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Korruption ist gross, viele verlassen das Land. Bei sozialen Protesten, von denen man in unseren Medien nur wenig mitbekommt, spielt die ethnische Zughörigkeit oft gar keine Rolle: Kroat*innen, Serb*innen und Bosniak*innen demonstrieren gemeinsam gegen die Schliessung von Fabriken oder polizeiliche Willkür. Dann geht es nicht um ethnische Identität, sondern um einen Protest gegen die politische Elite. Viele Menschen sehen heute kaum noch Perspektiven, und es ist schwer nachzuvollziehen, wieso viele Politiker gerade auf nationaler Ebene dies nicht einsehen wollen. Stattdessen treiben sie ihre Identitätspolitik weiter voran. Und ignorieren dabei, was Bosniens grösstes Problem ist: die Abwanderung.
Könnte eine solche Art der Normalisierung nicht auch Teil der Bewältigung sein?
Das ist ein bedenkenswerter Aspekt. Man kann gut nachvollziehen, dass die junge Generation nicht immerzu auf den Krieg angesprochen werden will, mit dem sie nichts zu tun hat. Sie hat andere Interessen und Sorgen. Und doch: Ist es normal, wenn den Kindern in Bosnien drei historische «Wahrheiten» eingetrichtert werden, wenn in den Schulen der bosnischen Kroat*innen
ZVG
FOTO: Cyrill Stieger, 72, war zwischen 1986 und 2015 Balkankorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung NZZ und ist Autor u.a. von «Wir wissen nicht mehr, wer wir sind» (Wien 2017) und «Die Macht des Ethnischen» (Zürich 2021).