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Steuern
Steuern Viele sind mit dem Ausfüllen ihrer Steuererklärung überfordert und werden zu hoch eingeschätzt. Nicht selten folgt ein Schuldenberg. Das könnte verhindert werden.
Das Preisschild der Krise
Die Steuererklärung ist eine Art jährliche Prüfung. Wer sie nicht besteht, bezahlt teuer. Warum bestraft der Staat Überforderung?
TEXT ANDRES EBERHARD ILLUSTRATIONEN OPAK.CC
Müssten Hasen oder Rehe Steuern bezahlen, dann würden sie wohl einfach davonrennen. Doch Menschen sind nun mal keine Fluchttiere, und das Steueramt würde ohnehin die Verfolgung aufnehmen.
Solange Gefahren unsichtbar sind, neigen Menschen eher dazu, sie zu verdrängen: Sie deponieren Briefe auf einer nicht einsehbaren Beige oder gehen gar nicht mehr zum Briefkasten. Dann hoffen sie, dass sich das Problem von selbst erledigt. Was es natürlich nicht tut. Dafür nimmt der Druck mit jedem Tag und jedem ungeöffneten Brief zu. Vor allem Menschen in psychischen Krisen haben Mühe, aus diesem Teufelskreis herauszufinden.
«Ich war wie erstarrt», erzählt Erika Koller*, eine zweifache Mutter, die vor zehn Jahren eine schwere Depression durchlitt. «Ich konnte nichts mehr erledigen.» Sie bezahlte ihre Rechnungen nicht mehr, worauf ihr mehrmals der Strom abgestellt wurde. Auch die Briefe vom Steueramt legte sie ungeöffnet beiseite. «Ich hatte furchtbare Angst, dass mich die Steuerverwaltung ausfragt, wovon ich lebe», sagt sie. «Die werden sich irgendwas zusammenreimen. Solange ich mich nicht melde, gibt es mich quasi gar nicht. Wenn ich die Deklaration ausfülle, bin ich auf einmal wieder existent. Davor fürchtete ich mich.» Koller schämte sich. Sie war zu dem Zeitpunkt arbeitslos, lebte von Erspartem und den Alimenten ihres Ex-Mannes. Sie schaute zu ihren Kindern, aber mehr lag nicht drin. Zehn Jahre lang ignorierte sie die Post vom Steueramt.
Für die Krise bezahlte Koller einen hohen Preis. Eigentlich hätte sie in all der Zeit keinen Rappen Steuern zahlen müssen. Denn als Arbeitslose hatte sie kein Einkommen. Weil sie aber keine Steuererklärung einreichte, schickte das Steueramt Jahr für Jahr Rechnungen in Höhe von mehreren tausend Franken. Die Beamt*innen hatten Koller aufgrund ihrer früheren Tätigkeit als Anwalts- und Direktionssekretärin bei der kantonalen Verwaltung eingeschätzt und den Betrag daraufhin schrittweise erhöht. Koller wehrte sich nicht, konnte aber auch nicht bezahlen – sie ignorierte einfach alles. Es folgten Betreibungen, heute sitzt Koller auf einem Schuldenberg im fünfstelligen Bereich – lediglich bestehend aus Steuer- und Krankenkassenschulden. «Ich habe keine Konsumschulden, nur Idiotenschulden», sagt sie. Denn auch die Schulden bei ihrer Krankenversicherung sind unnötig. Hätte Koller eine korrekte Steuererklärung eingereicht, dann hätte sie Anspruch auf Prämienverbilligung gehabt und damit wohl auch keine zusätzlichen Schulden gemacht. Hätte.
Mangelnder politischer Wille
Jürg Gschwend ist Leiter der Schuldenberatungsstelle Plusminus in Basel. Fast täglich kommen Menschen bei ihm vorbei, denen es ähnlich geht wie Erika Koller. Alleine in Basel füllen jährlich 5600 Menschen ihre Steuererklärung nicht aus, 8000 weitere reagieren erst auf die zweite Mahnung. «Die allermeisten sind nicht faul oder renitent, sondern schlichtweg überfordert», sagt Gschwend. Das deckt sich mit den Erkenntnissen einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz: Grund für das Nichtausfüllen ist demnach häufig eine allgemeine Lebenskrise, etwa nach einer Trennung, einem Stellenverlust oder verursacht durch gesundheitliche, häufig psychische Probleme. Als weitere Gruppe der Nicht-Einreicher*innen identifiziert die Studie Personen, die von den buchhalterischen Anforderungen überfordert sind.
Die Schweiz ist ein Sonderfall. In anderen Ländern ist es üblich, dass die Steuern direkt vom Lohn abgezogen werden. Hierzulande muss jede*r eine Steuererklärung ausfüllen. Wer es nicht tut wie Erika Koller, bezahlt dafür teuer. Gschwend kritisiert: «Wir müssen von dieser erzieherischen Haltung wegkommen. Es gibt einfach Menschen, die es nicht schaffen, die Steuererklärung auszufüllen.» Am besten fände es der Schuldenberater, wenn das Ausfüllen der Steuererklärung freiwillig würde. Die Quellenbesteuerung, wie sie heute nur bei Ausländer*innen mit einer Aufenthaltsbewilligung B angewandt wird, könnte dann zum Regelfall werden. Gschwend macht sich aber keine Illusionen. Für einen solchen Systemwechsel braucht es eine Anpassung im Bundesgesetz. Viele Vorstösse in den letzten Jahren scheiterten, der politische Wille ist nicht vorhanden. Es wird an die Eigenverantwortung appelliert. «Die Steuererklärung ist in der Schweiz eine Art heilige Pflicht», sagt er.
Gschwend lotet derweil andere Wege aus, um die Situation für Betroffene zu verbessern. Zusammen mit sozialen Institutionen des Kantons hat Plusminus das Pilotprojekt «Mir hälfe» lanciert. Dabei geht es darum, Direktbetroffenen beim Ausfüllen der Steuererklärung zu helfen, sie zu beraten oder mit der Steuerbehörde zu vermitteln. Ziel ist aber auch eine Veränderung auf struktureller Ebene. Konkret sollen die amtlichen Einschätzungen präziser werden. Gschwend ist überzeugt, dass damit Fälle wie jener
von Erika Koller vermieden werden könnten. Dafür braucht es allerdings die Mithilfe des Steueramts. Entsprechende Gespräche laufen (siehe Seite 13).
Wie eklatant die Fehleinschätzungen des Steueramts sein können, zeigt auch das Beispiel von Mauro Gallati*. Den Mittfünfziger traf die Krise, als Ende 2019 sein Vater erkrankte. «Das warf mich komplett aus der Bahn.» Gallati pflegte ihn mehrere Monate lang, daneben plagten ihn Zukunftsängste. Schon länger hatte er mit dem Gedanken gespielt, beruflich umzusatteln, doch fehlten ihm die nötigen Qualifikationen. Gallati war selbständig, führte eine kleine Firma und war mit Gästen im Ausland unterwegs. Als Corona kam und er nicht mehr reisen konnte, musste er zuhause bleiben. «Ich fiel in ein tiefes Loch. Acht Monate lang war ich in der Vollkrise», sagt er. Just als sein Kontostand auf null war, bekam er Post vom Steueramt: die amtliche Einschätzung und einen Einzahlungsschein über 8500 Franken. Dabei hatte er als Geringverdiener zuvor nie mehr als 1000 Franken Steuern bezahlt.
Gallati ist aber auch ein Beispiel dafür, wie verhindert werden kann, dass jemand aufgrund einer Krise in die Schuldenspirale gelangt. Denn im Kanton Basel-Stadt ist es möglich, ein Gesuch um Steuererlass einzureichen. Einzige Bedingung ist, dass noch keine Betreibung vorliegt. In anderen Kantonen geht das nicht: Wer dort eingeschätzt wird und die Einsprachefrist von 30 Tagen verpasst, schuldet den vom Steueramt geschätzten Betrag.
Zu Ungunsten der Steuerzahlenden
Ein solches Gesuch stellte Gallati. Die hohe Rechnung des Steueramts habe ihn aus seinem Delirium aufgeschreckt, erzählt er. «Sie war der Auslöser, dass ich mir Hilfe holte.» Er wandte sich an Plusminus, ausserdem half ihm sein Bruder dabei, die Steuererklärung nachzureichen. Gallatis Gesuch wurde bewilligt, am Ende bezahlte er nur jene Steuern, die seinem tatsächlichen Einkommen aus dieser Zeit entsprachen. «Die Erleichterung war so gross, dass ich dachte, ich könne fliegen», so Gallati.
Letztlich half ihm dieser Erfolg auch, über seine psychische Krise hinwegzukommen. «Heute bin ich zu 80 Prozent der Alte», sagt er. Zwar dauerte es, bis er den Sprung zurück ins Arbeitsleben schaffte; als gering ausgebildeter Ü50er schrieb er Hunderte von Bewerbungen, bis es schliesslich mit einer Teilzeitstelle klappte. Daneben arbeitet er auf Abruf. «Da ich alleinstehend bin, komme ich über die Runden», sagt er.
Auch Erika Koller geht es heute besser, selbst wenn sie nach wie vor hohe Schulden hat. Nach mehr als zehn Jahren reichte sie letztes Jahr erstmals wieder eine Steuererklärung ein. «Diese Last loszuwerden, eine Sorge weniger zu haben, das war ein riesiges Glücksgefühl», sagt sie. Ihr gelang die Kehrtwende durch Druck und Hilfe von aussen: Da ihr das Geld ausgegangen war, hatte sie sich auf dem Sozialamt gemeldet. Und eine Bekannte machte sie auf das Projekt von Plusminus aufmerksam. Gerne würde sich Erika Koller ins Berufsleben zurückkämpfen, doch zunächst muss sie sich um andere Probleme kümmern. Sie braucht für sich und die Kinder eine neue Wohnung. Die jetzige befindet sich in einem Haus, das demnächst abgerissen werden soll.
Mit der Pflicht zur Steuererklärung überträgt die Schweiz ihren Bürger*innen viel Verantwortung. Dass es vor allem Menschen in einer Krise sind, welche die Steuererklärung nicht einreichen, sollte hellhörig machen. Denn wenn gerade diese Menschen systematisch zu hoch eingeschätzt werden, bedeutet dies, dass der Staat Überforderung bestraft. «Die Steuerämter üben ihr Ermessen bei der Einschätzung tendenziell zu Ungunsten der Steuerzahler*innen aus», sagt Schuldenforscher Christoph Mattes von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Dies auch, weil sie dabei oft von einem gleichbleibenden Einkommen ausgehen. «Es gäbe aber gute Gründe anzunehmen, dass es jemandem wirtschaftlich schlechter geht, wenn er oder sie die Steuererklärung nicht mehr ausfüllt.»
Dass die Steuerbehörden bei der Einschätzung grosszügig aufrunden, hat damit zu tun, dass sie von Gesetzes wegen sicherstellen müssen, dass nicht schlechtergestellt wird, wer seine Steuern korrekt deklariert. Sie achten also darauf, dass niemand zu tiefe Steuern bezahlt. Doch müssen Behörden nicht auch dafür sorgen, dass Bürger*innen nicht zu hohe Steuern bezahlen - indem sie auf berechtigte Abzüge aufmerksam machen? Diese Frage warf Carlo Knöpfel kürzlich in einer Surprise-Kolumne auf. Der Sozialwissenschaftler ist der Meinung, dass der Staat auch eine Bringschuld trägt (siehe Interview, Seite 14).
Dabei geht es um die grundsätzliche Frage nach den Rechten und Pflichten des Staates. Sie stellt sich nicht nur bei den Steuern, sondern auch bei den Sozialleistungen: Einerseits unternimmt der Staat grosse Anstrengungen sicherzustellen, dass nicht zu viel Sozialhilfe oder IV bezogen wird. Umgekehrt aber schiebt er die Verantwortung von sich, ob jene Unterstützung erhalten, die zu einer Sozialleistung berechtigt sind. Wer keinen Antrag stellt, geht in aller Regel leer aus.
Die Stadt Bern versucht, dieser Bringschuld bei gewissen Sozialleistungen nachzukommen (siehe Seite 15). Und in Basel überlegt sich Finanzdirektorin Tanja Soland, ob ihre Angestellten im Steueramt all jene persönlich anrufen sollten, die keine Steuererklärung einreichen (siehe Seite 13). Schweizweit sind solche Versuche der Behörden, den Ärmsten und Überforderten unter die Arme zu greifen, Ausnahmen. Wenn die Abschaffung der Steuererklärungspflicht in Bundesbern zur Diskussion steht, dann meistens aus anderen, administrativen Gründen.
*Namen geändert
Wie wird eingeschätzt?
Wer trotz zwei Mahnungen keine Steuererklärung einreicht, wird amtlich eingeschätzt. Darin sind die Behörden relativ frei. Im Bundesgesetz steht dazu, dass die Behörde die Veranlagung nach «pflichtgemässem Ermessen» vornimmt. Sie kann dazu «Erfahrungszahlen, Vermögensentwicklung und Lebensaufwand» des oder der Steuerpflichtigen berücksichtigen. Dazu gehören Vorjahresdaten oder auch Lohnmeldungen des Arbeitgebers. Das Ermessen stützt sich zwangsläufig auf Vermutungen. Fachleute stellen fest, dass Behörden häufig Jahr für Jahr einen Zuschlag von zum Beispiel 10 Prozent draufschlagen – wohl zur Sicherheit, dass amtliche Einschätzungen nicht zur Steueroptimierung ausgenutzt werden. Nach einer Einschätzung haben Betroffene 30 Tage Zeit, um Einsprache zu erheben. Läuft diese Frist ab, ist die Steuer geschuldet. In den meisten Kantonen gibt es danach keine Möglichkeiten mehr auf einen Steuererlass. In Basel-Stadt kann einmalig ein Gesuch um Teilerlass gestellt werden. Sobald das Steueramt eine Forderung betreibt, ist es auch dafür zu spät. EBA
Die Basler Steuerbehörden wollen Nichtzahler*innen anrufen. Aber nicht, um Druck zu machen.
Wer seine Steuererklärung nicht einreicht, wird häufig zu hoch eingeschätzt. Dies wohl darum, weil es tatsächlich Menschen geben soll, die darauf pokern, dadurch weniger zahlen zu müssen. Im Gesetz ist allerdings festgeschrieben, dass nicht höher besteuert werden darf, wer seine Steuern korrekt deklariert. «Es gibt schon auch Steuerzahler*innen mit hohem Einkommen, welche die Steuererklärung zunächst nicht einreichen und mal schauen, was passiert», sagt Tanja Soland, die für die Finanzen zuständige Regierungsrätin im Kanton Basel-Stadt. Nach einer zu hohen Einschätzung würden diese innerhalb der 30-tägigen Einsprachefrist sofort alle Unterlagen einreichen. Es handle sich hier aber um eine Minderheit, räumt Soland ein.
Weitaus mehr Menschen reichen ihre Steuererklärung nicht ein, weil sie in einer Lebenskrise stecken oder sonstwie überfordert sind. Diesen Schluss legt eine Untersuchung der Fachhochschule Nordwestschweiz nahe. Werden diese Menschen zu hoch eingeschätzt, könne sich die Krise wegen Steuerschulden noch verschärfen, weiss Jürg Gschwend, Leiter der Schuldenberatungsstelle Plusminus in Basel. «Viele gelangen wegen unbezahlter Steuern in eine Schuldenspirale.» Aber auch die Steuerbehörde ist an einem Rückgang der amtlichen Einschätzungen interessiert, wie Soland sagt. «Einschätzungen generieren viel Aufwand. Zudem zahlt ein Teil der Personen erfahrungsgemäss selbst im Fall einer Betreibung nicht.»
Um die Situation zu verbessern, treffen sich Gschwend und Soland zu Gesprächen. Gschwend hat zwei Vorschläge eingebracht. Erstens: Die Steuerverwaltung Basel-Stadt soll bei der Steuerveranlagung die Daten der Sozialhilfe nutzen. Damit könnte verhindert werden, dass Sozialhilfeempfänger*innen Steuerschulden anhäufen. Bezüger*innen müssen eine Steuererklärung einreichen. Tun sie das nicht und werden eingeschätzt, schulden sie die Steuern trotzdem.
Gschwends zweiter Vorschlag zielt darauf ab, amtliche Einschätzungen zu verhindern. Und zwar, indem Betroffene direkt kontaktiert werden. Ihm schwebt vor, dass das Steueramt im zweiten Mahnschreiben auf die Hilfsangebote hinweist. Etwa 13 000 zweite Mahnungen werden in der Stadt Basel pro Jahr verschickt, davon werden rund 5600 Personen amtlich eingeschätzt – die Zahl ist seit Jahren konstant. Analysen zeigen, dass die meisten später betrieben werden: rund 70 Prozent waren es im Jahr 2013.
Die Basler Finanzvorsteherin Soland begrüsst den Vorschlag zum Datenaustausch zwischen Sozial- und Steueramt. Eine Arbeitsgruppe aus beiden Ämtern prüfe derzeit Details. Rechtlich spreche nichts dagegen.
Bei der Frage, wie man die Menschen dazu bringt, mit dem Steueramt oder einer Beratungsstelle in Kontakt zu treten, schwebt Soland aber anderes vor. «Wir könnten sie alle telefonisch kontaktieren.» Und zwar nicht, um Druck zu machen, die Rechnung zu begleichen, wie sie betont. «Sondern um die Gründe zu verstehen, warum sie ihre Steuern nicht deklarieren.» Ob die Kontaktaufnahme nach der ersten oder erst nach der zweiten Mahnung sinnvoller ist, werde derzeit noch geprüft. EBA
«In der Schule vernachlässigt»
Für Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel überträgt der Staat seinen Bürger*innen zu viel Verantwortung und vermittelt zu wenig Wissen. Das Resultat ist Überforderung.
INTERVIEW ANDRES EBERHARD
Carlo Knöpfel, wer seine Steuererklärung nicht ausfüllt, wird häufig zu hoch eingeschätzt. Selber schuld?
Carlo Knöpfel: Nein. Der Staat steht nicht nur in der Pflicht, das Geld einzufordern. Er muss auch dafür sorgen, dass die Beträge stimmen, indem er seine Bürger*innen aktiv auf ihre Rechte hinweist. Anders gesagt: Er trägt auch eine Bringschuld.
Die nimmt er nicht wahr.
Bei den Steuern nicht. Ich kenne Menschen, die mir weinend erzählten, wie sie eine Steuerrechnung über 300 oder 400 Franken bekamen. Dies, obwohl sie so wenig verdienten, dass sie gar keine Steuern hätten zahlen müssen. Der Grund: Sie schickten den Steuerbehörden nur den Lohnausweis, ohne irgendwelche Abzüge zu machen. Sie wussten nicht, dass man in vielen Kantonen ab 1 Franken Einkommen Steuern zahlt. Den Steuerbehörden ist das egal, sie stellen eine Rechnung. Und das, obschon sie ja sehen, wenn jemand die Formulare nicht korrekt ausgefüllt hat und eigentlich keine Steuern bezahlen müsste.
Warum sind Steuerbeamt*innen so unbarmherzig?
Das wird von ihnen verlangt. Eigenverantwortung gehört quasi zur DNA der Schweiz, sie ist in Artikel 6 der Bundesverfassung festgehalten. Ganz anders ihr Gegenpart, die Solidarität. Von ihr wird lediglich in der Präambel der Verfassung gesprochen. Doch es braucht sie genauso, damit die Gesellschaft funktioniert. Die Sozialversicherungen sind Ausdruck davon.
Sind andere Länder solidarischer?
Die Perspektive in der Schweiz ist stark auf das Individuum gerichtet und nicht auf die Gemeinschaft. Zum Vergleich: In Deutschland steht in der Verfassung, dass die Familie als Zelle der Gesellschaft besonderer Schutz bedarf. Hierzulande gibt es nur Individuum und Staat, die Bundesverfassung regelt das Verhältnis. John F. Kennedys berühmtes Zitat «Frag nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern was du für den Staat tun kannst» steht in Artikel 6 der Bundesverfassung praktisch eins zu eins. Das ist Ausdruck unseres liberalen Denkens.
Zurück zu den Steuern. Was ist so schwer daran, sie korrekt zu deklarieren?
Wer die Steuererklärung nicht einreicht, hat häufig andere und wichtigere Probleme am Hals: gesundheitliche Einschränkungen, Arbeitslosigkeit, Schulden, Trennung, Wohnungsverlust und so weiter. Die Steuererklärung bleibt dann liegen. Oft versteht er oder sie das System auch ganz grundsätzlich nicht. Beides sind Zeichen von Überforderung.
Was ist zu tun?
Das Wissen über den Sozial- und Steuerstaat gehört in die Schule. Alle zwischen 16 und 18 Jahren sollten schon einmal eine Steuererklärung gesehen haben. Doch das Fach Staatskunde wurde abgeschafft. Heute vernachlässigt es der Staat über weite Strecken, Wissen über sich selber im Rahmen der Schulbildung zu vermitteln. Selbst im Gymnasium ist es Zufall, ob Lehrpersonen das Thema aufgreifen. Dabei ist das enorm wichtig, denn niemand sagt dir Bescheid, wenn du Anspruch auf staatliche Leistungen wie Stipendien, Sozialhilfe oder Prämienverbilligung hast. Sogar für die AHV-Rente muss man selbst einen Antrag stellen.
Warum ist Staatskunde nicht Teil des Lehrplans?
Heute stehen Leistungsziele im Vordergrund, also Kompetenzen, die man in der Berufswelt braucht: Sprachen, Mathe, Physik. Ich finde aber, wir sollten von der Schule auch erwarten dürfen, dass sie einen Beitrag dazu leistet, die jungen Menschen an die Gesellschaft heranzuführen, sodass diese ihre Aufgabe als kritische Staatsbürger wahrnehmen kön-
ZVG
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er schreibt regelmässig für Surprise die Kolumne «Sozialzahl».
nen. Die Steuererklärung ist da nur ein Beispiel. Abstimmen ein weiteres. Hierzu eine persönliche Anekdote: Als mein Gottemeitli 18 Jahre alt wurde, lud ich sie zu einem Städtetrip nach Prag ein. Im Flugzeug sagte sie mir, dass ich ihr noch bei zwei Dingen helfen müsse. Zum einen hatte sie das Stimmcouvert dabei. Zum anderen die Steuererklärung.
Und wenn weder der Götti noch sonst jemand in der Familie helfen kann?
Es gibt junge Menschen, die eignen sich das Wissen trotzdem an, über ihre Peers, also ihre Freunde. Der Staat setzt darauf, dass das Wissen über den Staat in den Familien oder sonstwo vermittelt wird. Doch das passiert nicht überall. Das hat zum Beispiel zur Folge, dass viele bei Referenden falsch abstimmen, weil sie Ja statt Nein ankreuzen oder umgekehrt. Das ist mit Studien belegt. Absurderweise spielt das aber keine so grosse Rolle, weil sich die falschen Stimmen oftmals gegenseitig aufheben. Bei den Steuern sind die Folgen gravierender: Menschen können sich überschulden. Dann geraten sie in einen Teufelskreis, aus dem sie nicht mehr herauskommen. Und sie ziehen oft ihre Familie in die Schuldenspirale hinein: die soziale Vererbung von Armut wird damit vorgespurt.
Sie plädieren also für mehr Staat.
Halt! Mich kribbelt es, wenn es heisst, der Staat soll mir sagen, was ich tun soll. Aber zwischen Staat und Individuum gibt es auch noch andere Formen der Gemeinschaft. Dazu gehören neben Schulen und Familie auch Angebote aus der Zivilgesellschaft. Der Staat kann den Bedarf definieren und dann Beratungsstellen unterstützen. Im Gegenzug erhalten diese einen Leistungsauftrag.
Viele Beratungsstellen klagen darüber, dass sie die Betroffenen mit ihrem Beratungsangebot gar nicht erreichen.
Das ist ein grosses Problem und wird bislang zu wenig beachtet. Ein Büro aufmachen, ein paar Flyer verteilen und dann warten, bis die Leute kommen, das funktioniert erfahrungsgemäss schlecht. Aber auch in der konkreten Beratung muss die Soziale Arbeit sich selbst hinterfragen. Eines ihrer zentralen Mottos lautet «Hilfe zur Selbsthilfe». Da ist der Appell zur Eigenverantwortung nicht mehr weit weg. Die Soziale Arbeit läuft damit Gefahr, quasi das Weltbild des liberalen Staates zu reproduzieren.
Was raten Sie?
Beratungsstellen müssen mobiler werden, es braucht mehr aufsuchende Arbeit. Ausserdem gibt es zum Beispiel in der Stadt Basel praktisch für jede Lebenssituation eine Beratungsstelle. Die Menschen befinden sich aber meistens in einer sehr komplexen Problemlage und würden gerne mit jemandem über alles reden. Eine zentrale Anlaufstelle tut not. Und dann braucht es manchmal ganz praktische, konkrete Hilfe.
Bern sucht arme Rentner*innen
Nur wenige wissen von den Betreuungsgutsprachen, die die Stadt anbietet.
Wie bei den Steuern könnte der Staat auch bei Sozialleistungen eine aktivere Rolle einnehmen. So führte die Stadt Bern 2019 sogenannte Betreuungsgutsprachen für ärmere AHV-Rentner*innen ein. Sie beteiligt sich finanziell an Unterstützungen im Alltag (z.B. Notrufsysteme, Haushalthilfen, Mahlzeitendienste). Das Problem ist, dass nur wenige davon wissen.
Darum sucht die Stadt aktiv nach Berechtigten: mit Flyern, Inseraten in Quartierzeitungen, Info-Veranstaltungen und Mund-zu-Mund-Propaganda über Netzwerke und Nachbarschaftshilfe. Trotz der Anstrengungen wurden bislang «nur» 116 Gutsprachen getätigt. Weil das Alters- und Versicherungsamt wegen Datenschutzbestimmungen nicht auf die Daten des Steueramts zugreifen darf, kann auch nicht systematisch geprüft werden, wer Anspruch auf die Sozialleistung hat.
«Ich bin der Ansicht, dass der Staat eine Informationspflicht hat», sagt die in der Berner Regierung fürs Soziale zuständige Gemeinderätin Franziska Teuscher (Grüne). «Wir haben in der Schweiz ein gutes soziales Sicherungssystem. Es ist Aufgabe des Staates, jene darauf hinzuweisen, die ein Anrecht auf eine Leistung haben.» Ob sie oder er eine Leistung beanspruchen möchte, müsse jede*r selber entscheiden. «Denn in unserem System kann das leider auch mit Nachteilen verbunden sein. Zum Beispiel gefährden Ausländer*innen mit einer Aufenthaltsbewilligung ihren Status, wenn sie Sozialhilfe beziehen.» Bei Leistungen, die alle betreffen, wie die Prämienverbilligung, erachtet Teuscher eine Automatisierung hingegen für sinnvoll.
Die Betreuungsgutsprachen seien eine Möglichkeit, wie Senior*innen mit kleinem Budget vonseiten der Gemeinde unterstützt werden könnten, so Teuscher. Eine gute Versicherungslösung auf nationaler Ebene sei aber dennoch zwingend. «Alle Menschen in der Schweiz haben ein Anrecht auf gute Betreuung und Pflege im Alter.» EBA