Unter Brüdern Auszeit im Kloster
Arbeitslosenversicherung: Der Mensch als Opfer des Markts
Unverzichtbar – Freiwilligenarbeit hält die Schweiz am Laufen
Nr. 224 | 7. bis 20. Mai 2010 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
Macht stark. www.strassenmagazin.ch ❘ www.strassensport.ch ❘ Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99
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BILD: ISTOCKPHOTO
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Inhalt Editorial Arbeit so oder so Surprise in Berlin Gemeinsam gegen Armut Basteln für eine bessere Welt Beschäftigungstherapie für Raucher Aufgelesen Dick ist nicht krank Zugerichtet Dorfpunk in der Stadt In eigener Sache Grosser Bahnhof Erwin … leistet Freiwilligenarbeit Porträt Positiv in jedem Sinn Klosterleben Stille lernen Le mot noir Buffet-Talk Theater «fremd?!» Kulturtipps Verträumte Schwestern Ausgehtipps Rollen im Frühling Verkäuferporträt «Surprise ist sehr wichtig für mich» Projekt Surplus Chance für alle! Starverkäufer In eigener Sache Impressum INSP
12 ALV-Revision Unter Druck Längere Wartezeiten, weniger Taggeld, Arbeit um jeden Preis – die Revision der Arbeitslosenversicherung (ALV) höhlt den Sozialstaat weiter aus. Die ALV-Vorlage stellt die Bevölkerung vor einen Grundsatzentscheid: Mensch oder Markt.
15 Freiwilligenarbeit Unter Ehrenamtlichen BILD: ROLAND SOLDI
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Sie trainieren den Sportnachwuchs, spazieren mit Senioren, wickeln Babys oder erledigen die Post für andere: Mehr als die Hälfte der Schweizer betätigen sich neben ihrer bezahlten Arbeit freiwillig in allen möglichen Lebensbereichen. Zum Glück, denn viele Aufgaben, für die kein Geld vorhanden ist, können so doch noch erfüllt werden.
BILD: ANNE MORGENSTERN
18 Wirtschaft Unter Frauen Die Schweizer Niederlassung der Reederei MSC in Basel hat 85 Mitarbeiter. René Mägli ist der Chef von 84 Frauen. Seit Jahrzehnten beschäftigt Mägli ausschliesslich Frauen – weil sie die Arbeit einfach besser erledigen als Männer.
Titelbild: Andrea Ganz SURPRISE 224/10
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GESCHÄFTSFÜHRER
Editorial Danke SBB! Surprise ist mit den Bahnhöfen verbunden, seit es das Strassenmagazin gibt. Seit nunmehr dreizehn Jahren sind Surprise-Verkaufende ein fester Teil des belebten Bildes in den grossen Stationen. Als Hausherrin der Bahnhöfe sind für uns dabei die SBB seit jeher ein wichtiger und guter Partner. Und zu Partnerschaften gehören hin und wieder auch unterschiedliche Auffassungen; einerseits. Andererseits gehört dazu, dass man sich auch wieder finden kann. Genau das können wir heute vermelden. Surprise und die SBB haben die vor anderthalb Jahren in den Medien berichtete Meinungsverschiedenheit über das Rufverbot für SurpriseVerkaufende in den Bahnhöfen beigelegt. Die SBB haben dabei ein ausserordentlich sympathisches Zeichen gesetzt und Surprise eingeladen, in der Haupthalle des Zürcher Hauptbahnhofs die diesjährige Strassenfussball Schweizer Meisterschaft für sozial benachteiligte Menschen durchzuführen. Danke SBB! Mehr über die Veranstaltung, die am 5. Juni in Zürich HB/RailCity stattfinden wird, auf Seite 7. Themawechsel, vom Sport zur Politik. Die sozialpolitische Debatte wird derzeit dominiert von der anstehenden Revision der Arbeitslosenversicherung. Linke Organisationen haben gegen die Vorlage das Referendum ergriffen. Breite Kreise, bis tief in die politische Mitte, unterstützen es. Bundeshausjournalist Christof Moser erklärt ab Seite 12, worum es bei der zu erwartenden Abstimmung wirklich gehen wird. Die Arbeitslosenversicherung hätte übrigens keine finanziellen Probleme, wenn bloss die Hälfte der in der Schweiz geleisteten Freiwilligenarbeit ordentlich bezahlt und auf die Erwerbslosen verteilt würde. Das ist natürlich nur rein rechnerisch gemeint, aber dennoch bemerkenswert. Knapp 175 000 Menschen waren im Januar als stellenlos gemeldet, rund 350 000 Vollstellen beträgt das Volumen der Freiwilligenarbeit in der Schweiz. Einblicke in eine riesige Parallelwirtschaft präsentiert Stefan Michel ab Seite 15. Ich wünsche Ihnen gute Lektüre. Herzlich,
Mitte April reisten rund 50 Journalisten deutschsprachiger Strassenzeitungen für ein Wochenende nach Berlin. In den Redaktionsräumen der «taz» trafen sie auf Berufskollegen von renommierten deutschen Zeitungen. Thema: Wie gestalten wir unsere Magazine journalistisch so attraktiv, dass unser Engagement gegen Armut und Ausgrenzung möglichst viele Leute erreicht. Bei der Vorstellungsrunde zeigte sich einmal mehr, dass die Welt der Strassenzeitungen eine äusserst vielfältige ist: Von Amateuren, die mit viel Herzblut und wenig Mitteln kleine Zeitungen herausgeben bis zu professionellen «KMU» gibt es eine Vielzahl verschiedener Projekte. Entsprechend unterschiedlich sind die Bedürfnisse. Bei den Workshops in Kleingruppen zu Themen wie Recherche, Reportage und Vertrieb konnten aber alle wertvolle Tipps der Referenten aus Journalismus und PR mitnehmen. Und nach dem Abendessen wurden die neuen Bekanntschaften mit dem einen oder anderen Gläschen begossen. Ganz gemäss dem alten Schlager: Kreuzberger Nächte sind lang.
BILDER: FLORIAN LEIN
BILD: DOMINIK PLÜSS
FRED LAUENER,
Surprise in Berlin Gemeinsam gegen die Armut
Ein bunter Haufen: Die Journalisten der Strassenzeitungen vor einer Kreuzberger Kneipe.
Redaktorin Julia Konstantinidis präsentiert während
Was kommt aufs Cover? Redaktor Reto Aschwanden
der Vorstellungsrunde Surprise.
während des Workshops zur Titelseite.
Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.
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ILLUSTRATION: WOMM
Für das Komboloi brauchen Sie eine runde Leder- oder Kunststoffschnur. Kaufen Sie im Bastelladen die Modelliermasse Fimo und formen Sie daraus ca. 25 runde, längliche oder auch eckige Perlen für Ihr Komboloi.
Perlen mit Marmormuster bekommen Sie so hin: Drücken Sie die einzelnen Fimo-Farben platt und
Ziehen Sie die Kugeln auf die Komboloi-Schnur auf.
legen Sie die Farbplatten übereinander.
Verknoten Sie die Schnur so, dass die Perlen genug Platz haben, um auf der Schnur hin und her
Schneiden Sie von dieser Platte Streifen ab und
zu rutschen.
zerstückeln Sie diese in einzelne Teile in der Grösse, die Sie sich für die Perlen wünschen.
Verzieren Sie die Enden der Schnur mit zwei
Der Marmoreffekt entsteht durch das Kneten
weiteren Perlen.
von alleine.
Formen Sie die Stücke zu Kugeln. Durschstechen Sie die Kugeln mit einer Nadel, bis ein Loch entsteht, das gross genug ist für die KomboloiSchnur.
Backen Sie die Kugeln nach Anleitung im Ofen.
Jetzt können Sie mit den Tricks anfangen, hier eine kleine Hilfestellung: 1.
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Basteln für eine bessere Welt Nun ist es so weit: Seit dem 1. Mai müssen in der ganzen Schweiz die Raucher in der Beiz ihre Hände mit etwas anderem beschäftigen als mit dem Halten der Glimmstängel. Holen wir uns Rat aus Griechenland, und hauchen wir dem unbeschäftigten Rumsitzen mit dem Komboloi Sinn ein. Nervöse Raucher und sonstige «Gfätterli» können sich damit im kunstvollen «Um-die-Finger-Wickeln» üben und so die Zeit bis zur nächsten Rauchpause wunderbar totschlagen. SURPRISE 224/10
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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Dicke Weiber Wien. Die Frauen der Wiener Selbsthilfegruppe «ARGE Dicke Weiber» wollen sich nicht krank reden lassen. Sie kritisieren die Einstellung vieler Ärzte, die Übergewichtige als «krank» klassifizierten. «Wir werden blöd angemacht, ausgegrenzt, bei Vorstellungsgesprächen benachteiligt, und das Angebot an Kleidern in grossen Grössen ist gering», sagt ein Mitglied der Gruppe. Viele Dicke würden aufgrund dieser Stigmatisierung jahrelang nicht zum Arzt gehen. «Nicht das Übergewicht macht uns krank, sondern der Hass auf uns.»
Biotech-Aha-Erlebnisse Manchester. Weshalb kaut der Mensch sein Essen? Warum hinterlassen Fingerkuppen Abdrücke? Die Biotechnologie erforscht Körperfunktionen, die wir als selbstverständlich ansehen. Und macht den Blick frei auf einen Mikrokosmos, dessen Teile minutiös aufeinander abgestimmt sind: Wer hätte gedacht, dass wir kauen, um die Nahrung mit der Zunge zu einem festen Klumpen zusammendrücken? So wird verhindert, dass beim Schlucken etwas in die Luftröhre gelangt. Und die Fingerrillen? Machen die Haut elastisch und verhindern Blasenbildung.
Kind als Waffe Graz. Die UN-Richterin Renate Winter über Kindersoldaten: «Sie sind die tödlichste und billigste Waffe, die es gibt; sie kosten nichts als ein bisschen Essen, sind sich der Gefahren nicht bewusst, die sie eingehen, haben ihre gesamte Familie verloren, sind vollkommen allein. Und sie sind gehorsam. Das heisst, sie machen die abscheulichsten Dinge, die ein Erwachsener nicht tun würde. Wenn Kindersoldaten keine psychiatrische Betreuung und Zukunftsperspektive bekommen, züchtet man Waffen heran. Diese Kinder können ausser schiessen und töten gar nichts – aber das können sie eben sehr gut.»
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Zugerichtet Westentaschen-Revolution
«Das stimmt nicht. Ich habe keine Bierflaschen nach den Bull … äh Polizisten geworfen. Aber sie umzingelten uns.» Justin Hugentobler* war am Nachmittag des 1. Mai vor zwei Jahren an einem Konzert der Punkband UK Subs auf dem Kanzleiareal in Zürich, wo sich der Revolutionäre Aufbau versammelte. Wie jedes Jahr liessen Vermummte aus dem schwarzen Block Bier und Farbbeutel auf die Polizeibeamten regnen, hin und wieder flogen auch Steine und Molotow-Cocktails. Die Polizisten antworteten mit Gummischrot, Tränengas und Wasserwerfern. Schaulustige standen herum, fasziniert oder schlicht genervt von der alljährlichen Randale. Sie endete mit 280 Festnahmen. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Justin wegen mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Hinderung einer Amtshandlung, Übertretung der allgemeinen Polizeiverordnung und wegen des Vermummungsverbots zu einer Geldstrafe von 900 Franken bedingt sowie einer Busse von 400 Franken. Das erstinstanzliche Urteil ficht Justin vor dem Obergericht an. Für seinen Ausflug in die Grossstadt hat sich der Dorfpunk aufwendig herausgeputzt. Er trägt seine beste Lederjacke, mit spitzen Nägeln, Nieten und allerlei Buttons verziert. Um den Hals hat er ein Arafat-Tuch drapiert, die zerrissene Hose halten zwei Dutzend Sicherheitsnadeln kunstvoll zusammen, rote und schwarze Schuhbändel verschönern die Springerstiefel. Nur sein pausbäckiges Bubengesicht will so gar nicht zu seinem martialischen Outfit passen.
«Und warum verbringen Sie den 1. Mai nicht in Ihrem Dorf?», will der Richter wissen. «Dort gibt es keine Punk-Konzerte», antwortet der 22-jährige Schreinerlehrling. Auf dem Helvetiaplatz soll er die Polizisten mit wenig originellen Parolen wie «Scheiss-Bullen» und «A.C.A.B. – All Cops are Bastards» eingedeckt haben, und als sie ihn in Handschellen legten und durchsuchen wollten, habe er einem Beamten gedroht, ihn umzulegen, und ihm einen «Schwedenkuss» verpasst. Er wurde in den Kastenwagen komplimentiert und auf der Polizeistation vernommen. Wenn mit Gummischrot auf ihn geschossen werde, werfe er auch Flaschen gegen die Scheisspolizei, soll er dort gesagt haben. Vor Gericht sagt Justin nichts mehr, ausser: «Nichts davon stimmt.» Justin hat keinen Anwalt, aber einen Vater, der ihn verteidigt, und der hat ein paar Fragen an die Polizisten. Unbequeme Fragen. Es geht ihm um Recht und Gesetz. Und «wer denn hier der Aggressor ist und wer sich verteidigt». «Die Aussagen der Beamten sind also wirklich …» Den Rest des Satzes lässt er in der Luft hängen, das Plädoyer fällt kurz aus. Sein Sohn habe ihm geschworen, dass er nicht mit Flaschen auf die Polizisten schoss. «Ich habe meine Kinder zur Wahrheit erzogen», sagt der Familienvater in «Easy Rider»-Kluft. «Ich vertraue meinem Sohn, darum bin ich für ihn in Berufung gegangen.» Erfolglos. Das Richter-Trio bestätigt das erstinstanzliche Urteil. Zudem muss Justin eine Gerichtsgebühr von 3000 Franken bezahlen. * persönliche Angaben geändert
ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 224/10
In eigener Sache Sport und Musik im Zürcher Hauptbahnhof Kurz vor Eröffnung der Fussball-WM in Südafrika lädt Surprise zur Strassenfussball Schweizer Meisterschaft mit anschliessendem Konzert in den Zürcher Hauptbahnhof. Mit dabei am wichtigsten Surprise Sportanlass des Jahres ist auch viel Prominenz aus Sport und Kultur. Reservieren Sie sich den Samstag 5. Juni für einen Ausflug nach Zürich. Am besten kommen Sie mit dem Zug, denn der Schauplatz befindet sich direkt in der Halle des Hauptbahnhofs. Dank eines grosszügigen Entgegenkommens der SBB kann Surprise seine diesjährige Strassenfussball Schweizer Meisterschaft für sozial benachteilige Menschen an dieser besten Publikums- und Passantenlage durchführen. Darüber freuen wir uns sehr, denn neben dem sportlichen Ziel – der Ermittlung des Schweizer Meisters 2010 – ist es uns ein ebenso wichtiges Anliegen, Menschen am Rand der Gesellschaft mindestens einmal im Jahr auch wortwörtlich ins Rampenlicht zu stellen. Dazu gehört neben dem sportlichen Teil auch ein angemessenes Rahmenprogramm. Nach dem eigentlichen Turnierbetrieb und der Medaillenzeremonie laden wir Sie deshalb herzlich ein zu einem Dreifachkonzert mit der Schaffhauser Kultband Die Aeronauten, dem Zürcher Singer-Songwriter Lee Everton sowie unserem eigenen musikalischen Projekt, dem Surprise-Chor. Der Bereich Strassensport ist neben dem Strassenmagazin das zweite starke Standbein von Surprise. Seit 2003 fördert Surprise damit die Reintegration von hunderten sozial benachteiligter Menschen mit Sport. Die Männer und Frauen in den 18 Teams unserer Strassenfussball-Liga lernen, sich im regelmässigen Trainings- und Turnierbetrieb in der Gruppe zu bewähren und Verantwortung für sich selber und andere zu übernehmen. Selbstkenntnis, Teamgeist, Erfolgserlebnisse, Glücksmomente aber auch der Umgang mit Niederlagen gehören zu den zentralen Erfahrungen, die der Sport insbesondere auch Menschen
ERWIN
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am Rand der Gesellschaft vermitteln kann. Surprise betreibt die Liga in Zusammenarbeit mit sozialen Partnerinstitutionen in der ganzen deutschsprachigen Schweiz. Die besten Spieler einer Saison werden ausserdem in das offizielle Nationalteam berufen, das die Schweiz jeweils am jährlichen «Homeless Worldcup» vertritt. Die diesjährige WM für sozial benachteiligte Fussballer findet im September in Rio de Janeiro, Brasilien, statt. Das Surprise Sportprogramm wird von vielen Organisationen und bekannten Persönlichkeiten unterstützt. Am 5. Juni sollten Sie diesbezüglich das All-Star Team um die Fussballer-Legenden Andy Egli und Thomas Bickel nicht verpassen sowie die ehemalige Fifa-Schiedsrichterin Nicole Petignat, Filmregisseur Michael Steiner und Komiker Beat Schlatter, die gleich mit zwei Teams am Meisterschafts-Turnier teilnehmen werden. Kommen Sie vorbei, wir freuen uns auf Sie! Fred Lauener, Geschäftsführer Surprise
Samstag 5. Juni, Zürich HB/RailCity, Schweizer Meisterschaft Strassenfussball für sozial benachteiligte Menschen. Ab 11 Uhr Turnierbetrieb, inkl. All-Stars und CH-Nationalmannschaft. Ab 19 Uhr Fest und Konzert mit Die Aeronauten, Lee Everton, Surprise-Chor.
… leistet Freiwilligenarbeit
VON THEISS
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Porträt Anarchistische Normalität Michèle Meyer kämpft leidenschaftlich gegen Fremd- und Selbststigmatisierung von HIV-Positiven. Vor allem ist sie jedoch Mutter und Clownfrau. VON ELISABETH WIEDERKEHR (TEXT) UND DOMINIK PLÜSS (BILD)
«Mama hat ein Virus, aber sie schämt sich nicht dafür – deshalb kommen so viele Journalisten zu uns», erzählte Tochter Sofia kürzlich am Mittagstisch bei Nachbarn. Obendrein klärte die Achtjährige die Runde darüber auf, dass man das Virus beim «Schätzele» bekommen könne, ihre Mutter aber nicht mehr ansteckend sei, weil sie Medikamente nehme. Als Michèle Meyer diese Kurzversion ihrer Geschichte zu Ohren kam, war sie stolz. In Bezug auf ihre ältere Tochter scheint etwas geglückt, wofür sie andernorts seit knapp 20 Jahren leidenschaftlich kämpft: HIV soll möglichst bald als ein Virus wie jedes andere und HIVPositive als ganz normale Menschen mit all ihren Vorzügen und Mängeln wahrgenommen werden. Damit das passiert, zeigt Michèle Meyer ihr Gesicht, das denkbar schlecht zum Klischee einer HIV-Positiven passt. Auf Kongressen in der ganzen Welt und in vielen Schweizer Medien spricht sie offen über ihre Infektion mit dem Virus, mit dem sie sich bei ihrem Expartner angesteckt hat. «Verstecken ist das Allerschlimmste», sagt sie, «denn alles Unbekannte und Fremde ruft bei den Leuten Angst und Abneigung hervor.» Mit ihrer direkten und lebensfrohen Art eckt sie aber an – besonders heftig immer wieder in der HIVCommunity selbst. Eben dort engagiert sich Meyer jedoch wie kaum eine andere. Vielen Gremien gehört sie an, und seit der Gründung von LHIVE, der einzigen schweizerischen Organisation direkt HIV oder Aids Betroffener, ist sie deren Präsidentin. Sie steht für eine Gruppe, die dazu neigt, von anderen Entstigmatisierung zu fordern, während sie zugleich selbst immer wieder in die Rechtfertigungsfalle tappt. Kein Wunder also, dass die fatale Wechselwirkung von Selbstauf- und -abwertung zu Michèle Meyers eigenstem Thema und Widerstand zu ihrem Motor geworden ist. Meyer empfängt die Journalisten gerne in ihrer Küche in einer hellen Wohnung direkt an der Bahnlinie Liestal-Waldenburg. Auf ihrem Schoss hat es sich Bernhard bequem gemacht. Ihre jüngere Tochter hat das Meerschweinchen dort platziert, und während Meyer beim Reden über unsere sexualisierte Gesellschaft mit ihren ach so aufgeklärten Protagonisten in Fahrt kommt, streicht sie dem Tierchen übers Fell. Die Aidsaktivistin ist momentan vor allem Mutter – mit grosser Hingabe und Konsequenz. Wenn eines ihrer Kinder wirklich etwas braucht, unterbricht sie die Unterhaltung abrupt, hilft, die richtigen Schuhe zu finden, und nimmt, zurück am Tisch, den Gesprächsfaden an der entscheidenden Stelle wieder auf. In ihrem bunten Haushalt hat alles Platz. HIV-Themen sind hier Alltag, dominieren das Geschehen aber nicht. Tabus scheint es keine zu geben, dafür einen herzlichen Ton und viel Sorgfalt im Umgang miteinander. Stellen ihre Kinder Fragen in Bezug auf die Krankheit, beantwortet sie die, sagt aber nie mehr, als sie wirklich wissen wollen. Nachdem Michèle Meyer fast zehn Jahre mit einem bren-
nenden Kinderwunsch gelebt, sich aber selbst verboten hatte, diesen zu erfüllen, kam 2002 Sofia und zwei Jahre später Mona zur Welt. «Ein riesiges Glück», sagt Meyer heute. Für sie ist wider erwarten ein Traum in Erfüllung gegangen, und mit ihm ist ein grosses Stück Lebensselbstverständlichkeit zurückgekehrt. Gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Töchtern lebt sie das ganz normale verrückte Familienleben. Als Michèle Meyer 1994 positiv getestet wurde, gab es noch keine effektiven Medikamente und so war ihre einzige Perspektive über kürzer oder länger der Tod. «Entsprechend habe ich mich eingerichtet», erzählt sie. Das Pensionskassengeld wurde für ein gutes Bett und ein paar Reisen ausgegeben. Mit dem Tod freundete sich Michèle Meyer aber nie an. Vielmehr sagt sie noch heute: «Ich finde es gar nicht erstrebenswert, zu sterben – aber man muss es leider.» Und auf die Frage, wovor sie nach allem am meisten Angst hat, lautet ihre Antwort ohne Umschweife: «Am meisten vor der Einsamkeit und am zweitmeisten vor dem Tod. » Sehr viel braucht es denn auch, dass sich Michèle Meyer Ruhe gönnt oder sich bei einer Grippe sogar ins Bett legt. «Irgendwo ganz tief drin höre ich immer noch die Stimme, die mir sagt, dass ich nicht mehr aufstehen könnte, wenn ich mich mal hinlege», erzählt sie. Anlass für den Ausbruch der Krankheit gibt es aber keinen. Die Medikamente wirken gut. Purer Überlebenstrieb sei es gewesen, der sie vor zehn Jahren dazu bewegt habe, die Therapie zu beginnen, erzählt Meyer. «Eigentlich wusste ich zuerst gar nicht, was ich mit der neuen Lebensperspektive anfangen soll – bei mir war alles Gegenwart und Vergangenheit, Zukunft gab es nicht.» Nach den Verarbeitungsjahren, in denen alles HIV-positiv und Angriff ihre beste Verteidigung war, kehrte Michèle Meyer als besonnene Rebellin ins Leben zurück, das sie seither so anarchistisch wie möglich und so normal wie nötig zu gestalten versucht. Könnte sie die Welt nach ihren Wünschen umkrempeln, hätten alle gleich viel, dazu gäbe es ein bedingungsloses Grundeinkommen und so Dinge wie Rassismus, Sexismus, Homo- oder Xenophobie wären nicht mal als Begriffe bekannt. «Erstrebenswert ist doch, dass jeder sein Geld
«Bei mir war alles Gegenwart und Vergangenheit, Zukunft gab es nicht.»
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mit etwas verdienen könnte, das ihm Freude macht», sagt Meyer und erzählt von ihren eigenen diesbezüglichen Vorstellungen: «Mein Traum ist es, als Clownfrau zu arbeiten.» Eine Ausbildung mit entsprechender Feuerprobe hat Michèle Meyer vor Kurzem mit Bravour gemeistert. Jetzt kann es losgehen. Bald steht für die Familie auch ein Umzug in ein altes Bauernhaus an. Michèle Meyer träumt schon davon, wie sie in der Scheune einen Laden mit Kostümen und Masken eröffnen wird. Hört man ihr zu, wird schnell klar: Der Slogan «Love Life – Stop Aids» passt zu ihr. Sie liebt des Leben – HIV hin oder her. ■
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Klosterleben Lernziel innere Ruhe Frühlingsmüdigkeit, Zeitnot, Arbeits-, Familien- oder Beziehungsstress, Existenzängste: Die Gründe, sich mit dem Leben überfordert zu fühlen, sind vielfältig. Surprise suchte im Kloster Linderung.
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VON JULIA KONSTANTINIDIS (TEXT) UND BASILE BORNAND (BILD)
Sonntagnachmittag am Ufer des Zürichsees in Rapperswil: Junge Familien flanieren entlang der Seepromenade, trendige Teenies sitzen in den Stühlen der Strassenrestaurants, und in versteckten Ecken des städtischen Rosengartens küssen sich Liebespaare. Wer hier Ruhe sucht, muss sich entweder mit Oropax behelfen, oder er folgt dem diskreten Schild an der Stadtmauer mit der Aufschrift «Kloster zum Mitleben». Drinnen Durch ein Tor betritt der Gast den Vorhof des Kapuzinerklosters von Rapperswil, wo acht Brüder und zwei Menzinger Schwestern leben. Sowohl die Brüder wie auch die Schwestern haben Franz von Assisi zum Ordensvater und richten ihr Leben nach seiner Lehre aus. Hat Bruder Eckehard, der Pförtner, den Neuankömmling in das Kloster eingelassen, scheint das weltliche Treiben vor der Tür plötzlich meilenweit entfernt. Wer allerdings hinter den Mauern eine strenge Klosterwelt erwartet, hat sich getäuscht. Da findet sich keine mittelalterliche Düsternis in der Art wie sie im Roman «Der Name der Rose» beschrieben wird. Das Haus ist freundlich eingerichtet und hell, der Blick aus dem Fenster schweift über die Klostermauern auf den Zürichsee. Drei Männer und zwei Frauen haben an diesem Sonntagnachmittag an der eisernen Klingel gezogen und Einlass verlangt. Für eine Woche wollen sie von ihrem Alltag Abstand nehmen und am Leben der Klostergemeinschaft teilhaben. Im gemeinsamen Gebet und während der «stillen Zeiten» wollen sie ihr eigenes Leben reflektieren und sich eine Auszeit gönnen. Zwei der fünf sind «Wiederholungstäter»: Sie lebten schon einmal für eine Woche im Kloster. «Ich habe mich damals in diesem Kreis so wohlgefühlt, dass ich wieder kommen wollte», schwärmt Sonja, die für den Aufenthalt extra aus Hamburg in die Schweiz geflogen ist. «Mit dem Entschluss, das Kloster nach aussen zu öffnen sowie die beiden Schwestern aufzunehmen, konnten wir unserer Gemeinschaft einen neuen Impuls geben», erklärt Bruder Beat. Er ist der «Guardian» des Klosters und für das Wohlbefinden der Gemeinschaft verantwortlich. In einer Zeit, in welcher der Orden mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen habe, sei dies ein mutiger Schritt nach vorne gewesen.
und unbequem: Die Gemeinschaft kniet am Boden in einem Halbkreis nieder und verharrt so eine halbe Stunde in Meditation. In dieser plötzlichen Stille wirbeln den Meditations-Anfängern tausend Gedanken durch den Kopf; die Beine und der Rücken machen sich nach wenigen Minuten bemerkbar und da und dort meldet sich ein hungriger Bauch mit einem Knurren: «Was es wohl zum Nachtessen gibt und ob das Bett bequem ist?» Fragen, die jeglicher Spiritualität entbehren, drängen sich den weltlichen Besuchern in der Stille ins Bewusstsein. Dann, unvermittelt, ist da nur noch der Raum, der eigene Herzschlag, das Sein im Hier und Jetzt. Für wenige Augenblicke verschmilzt die innere und äussere Stille zu einer ganzheitlichen Ruhe – und wird von der nächsten Hungerattacke jäh wieder unterbrochen. Immerhin: Was Bruder Paul bei der Einführung in die Meditation erklärt hatte, klingt beruhigend: «Auch die grossen Gurus driften manchmal ab.» Er selbst nehme seinen eigenen Atem als Konzentrationsstütze, manchmal
Hungerattacken stören die Meditation empfindlich.
Ruhe aushalten Die Gäste stehen etwas verloren im Gang des Klosters, an dessen Leben sie für kurze Zeit teilnehmen. Ein Mann in blau kariertem Flanellhemd – Typ Gymnasiallehrer – geht an den Neuankömmlingen vorbei und grüsst freundlich. Ob das wohl auch ein Gast ist? «Das ist Bruder Paul. Er singt sehr gut und unterstützt uns damit beim Gebet», erklärt Bruder «Ädu» Adrian wenige Minuten später. Auch er sieht für einen Bruder sehr weltlich aus, wie er da in Jeans und Pulli mit den fünf Gästen am Tisch sitzt und ihnen das Klosterleben erklärt. Wer sich dieses als zeitlose Abfolge von Gebets- und Ruhephasen vorstellte, wird schnell eines Besseren belehrt: Der Tagesablauf ist straff organisiert, eine Aufgabe folgt der nächsten. «Dieser Rahmen gibt den Gästen Sicherheit, wenn sie das bewusste Nichtstun üben», meint Bruder Beat. «Ein guter Kapuziner ist immer fünf Minuten zu früh», weist Bruder Ädu denn auch subtil darauf hin, den Zeitplan einzuhalten. Schon am ersten Abend gehts Schlag auf Schlag: Unmittelbar nach der Einführung nehmen die Kloster-Neulinge am Abendlob im hinteren Chor der Klosterkirche teil. Auf dem Boden ist ein Spannteppich ausgelegt, an den Wänden sind kleine Sitzbänkchen montiert, worauf die Brüder und die Gäste Platz nehmen. In der Mitte des Raumes stehen ein Blumenstrauss und eine brennende Kerze. Das Lob beginnt mit der Lesung eines Psalms, danach stimmt Bruder Paul ein Kirchenlied an. Der darauf folgende Teil der Andacht ist für temporäre Klosterbewohner ungewohnt SURPRISE 224/10
helfe ihm gar das Ticken der Uhr, um seinen Geist auf die Gegenwart zu richten. Auch wenns anfänglich schwer fällt – nicht wissend, ob mit geschlossenen oder offenen Augen im Chor kauernd, Gefühle der Peinlichkeit nicht restlos abzuschütteln sind – das Aushalten der Stille hats in sich. Das Befinden danach: zwar etwas steif, aber zufrieden. Etwa so wie nach einer geglückten beruflichen Herausforderung. Gerne würde man sich dem Wohlgefühl noch etwas hingeben. Doch das Auftauchen aus der Versenkung muss schnell gehen, denn jetzt wird gegessen. Lebenslauf beim Abwasch Waren die Mitglieder der Klostergemeinschaft kurz vorher noch in andächtiger Stimmung, sind sie am Tisch umso gesprächiger. Das Interesse an den neuen Gästen ist gross und echt. Umgekehrt geben die Brüder bereitwillig Auskunft, wenn bei den Besuchern die Neugierde überhandnimmt und die Fragen nach dem Werdegang und dem Leben als Bruder nicht abreissen. So erzählt etwa Bruder Adjut mithilfe von kopierten Landkarten ausführlich von Indonesien, wo er 31 Jahre lang missionarisch tätig war. Der Älteste, der bald 85-jährige Bruder Josef, tut seine politische Meinung kund, die so manches ältere Semester wirklich alt aussehen liesse. «Dieser Austausch ist für uns sehr fruchtbar, so bleiben wir am Puls der Zeit», erzählt Bruder Beat. Auf der anderen Seite könnten die Brüder und Schwestern den Gästen während der gemeinsamen Zeit neue Wege aufzeigen – etwa bei der eigenen Lebensgestaltung oder beim Angehen eines Problems. Zeit, die Klosterbewohner kennenzulernen, bleibt auch beim gemeinsamen Abwasch und bei den Arbeiten, die an der täglichen Arbeitssitzung verteilt werden und etwa eineinhalb Stunden pro Tag beanspruchen. Während die Gäste Salat rüsten und Bruder Eckehard die Käseschnitten-Mischung fürs Mittagessen zubereitet, erzählt er, dass er in jungen Jahren ursprünglich hatte Lokführer werden wollen. «Ich war zwei Jahre lang sehr krank. In dieser Zeit las ich viel über den heiligen Franziskus und das hat mich so fasziniert, dass ich dabei blieb», erinnert er sich an die Anfänge seiner Ordenslaufbahn, die er vor gut 50 Jahren einschlug. Wem nicht ums Reden zumute ist, kann sich während der «stillen Zeiten», die regelmässig im Tagesablauf vorgesehen sind, zurückziehen. Dann sollen sich die Gäste bewusst mit sich beschäftigen, die plötzliche Ruhe in ihrem Leben aushalten. Draussen Montagabend, im Zug nach Zürich: Handy an, Blick auf die Schlagzeilen einer liegengelassenen Zeitung, die Informationsflut macht unruhig. Der Versuch einer Kurz-Meditation bringt nur bescheidenen Erfolg. Lediglich für kurze Zeit kehrt das Gefühl der Ruhe im Kloster zurück. Ein guter Anfang, immerhin. ■
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ALV-Revision Billig und biegsam Der globale Markt fordert den total flexiblen Arbeitnehmer. Die Politik bläst deshalb unter dem Druck der Wirtschaft zum Angriff auf die Sozialwerke. Die Arbeitslosenversicherung ist als nächstes dran. Besonders die Jungen sollen biegsam werden. VON CHRISTOF MOSER
Daniel Kalt ist Leiter volkswirtschaftliche Analysen des «UBS Wealth Management Research». In einem Interview mit der «Neuen Luzerner Zeitung» erklärte er unlängst, was getan werden muss, damit das finanziell erledigte Griechenland saniert werden kann: «Die Löhne müssten um 30 Prozent sinken», so Kalt. Und weiter: «Der Markt hat das Vertrauen in die Griechen verloren. Das ist für das Land bedrohlich.» Darüber, dass gnadenlose Finanzspekulanten der griechischen Volkswirtschaft den letzten Rest gegeben haben, verlor Kalt kein Wort. Nach der Finanzkrise die soziale Krise: Diese Abfolge gehört zur Logik des Kapitalismus. Für Banker Kalt ist das die natürlichste Sache der Welt. Das prägt seine Optik. Er hätte auch sagen können: «Die Griechen haben das Vertrauen in den Markt verloren. Das ist für das Land bedrohlich.» Doch für Finanztechnokraten wie Kalt kommt zuerst der Markt und dann lange nichts. Womit wir bei einer Grundsatzfrage sind, die spätestens seit der Finanzkrise auch in der im Vergleich zur Restwelt wohl situierten Schweiz an Brisanz gewinnt: Was ist eigentlich wichtiger – der Mensch oder der Markt? Die Globalisierung führt dazu, dass diese Grundsatzfrage zunehmend und weitgehend im Verborgenen auch in der Schweiz die sozialpolitische Debatte prägt. Bereits Ende 2009 hat Surprise darüber berichtet, was die Sozialpolitik in den nächsten Jahren umtreiben wird: die Frage nämlich, wie viel Armut sich die Schweiz künftig leisten muss, um konkurrenzfähig zu bleiben. Die Sozialwerke sind zu teuer für den globalen Wettbewerb. Der Wohlfahrtsstaat von heute nicht zukunftsfähig, weil sonst, man ahnt es, der Markt irgendwann das Vertrauen in die Schweiz verlieren wird. Hinter vorgehaltener Hand sagen Politiker deshalb ganz offen, dass die Schweiz, ähnlich wie Deutschland nach der Einführung der Harz-IV-Gesetze, die Entstehung einer Unterschicht akzeptieren muss. Nicht nur aus Kostengründen. Prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind der Humus für eine ökonomische Ressource, die im globalen Wettbewerb jede Volkswirtschaft haben muss: billige und biegsame Arbeitskräfte.
Eine Angst-Kampagne dagegen muss vor dieser Abstimmung niemand fürchten. Entstanden ist das Finanzloch in der ALV nämlich vor allem deshalb, weil in den 1990er-Jahren die Lohn- und Arbeitgeberbeiträge für die Arbeitslosenkasse zu tief angesetzt worden sind. Und zwar, man ahnt es, im Namen der Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft. Lehnt die Bevölkerung im Herbst die ALV-Revision ab, ist bereits jetzt schon vorgesehen, dass die Arbeitslosenkasse über eine Erhöhung der Lohnprozente saniert wird, also von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermassen. Das ist eine ungeeignete Ausgangslage, um mit Angst zu operieren, weil kein Kollaps der Kasse prognostiziert werden kann. Aber eine perfekte Basis, um die Solidarität der Versicherten auf die Probe zu stellen. Die Abstimmung über die ALVRevision wird deshalb noch viel mehr als die im vergangenen März grandios gescheiterte Vorlage über eine weitere Kürzung des Rentenumwandlungssatzes zu einem Testfall dafür werden, wie die Bevölkerung zwischen Mensch und Markt gewichtet. Die Pensionskassen-Abstimmung hat alle betroffen. Die vorgesehenen Leistungskürzungen zur Sanierung der Arbeitslosenkasse würden
Die Abstimmung stellt die Bevölkerung vor einen Grundsatzentscheid: Mensch oder Markt.
Bleiben wir solidarisch? Der Weg dazu soll über unsere Vernunft geebnet werden. Das ist in einer Demokratie neben Angstszenarien die einzige Möglichkeit, um Sozialabbau zu betreiben. Nach den Renten kommt die Arbeitslosenversicherung (ALV) dran. Die Kasse wird Ende dieses Jahres gegen zehn Milliarden Franken Schulden angehäuft haben. Es sei doch vernünftig, dieses Sozialwerk zu sanieren: Das werden Politiker in den nächsten Monaten öfters sagen. SP, Gewerkschaften und Arbeitslosenverbände haben das Referendum gegen die ALV-Revision ergriffen. Der Bundesrat hat die Abstimmung darüber auf kommenden Herbst angesetzt. Voraussichtlich wird sie im September stattfinden, weil dann die Arbeitslosenzahlen saisonal bedingt tiefer sind als im November, dem zweiten möglichen Termin. Derartige Taktierereien gehören zu den harmloseren Polit-Tricks. SURPRISE 224/10
primär die Betroffenen selbst, die Arbeitslosen, treffen. Ohne eine Beteiligung der Wirtschaft. «Beim geplanten Abbau bei der ALV zahlen nicht die Verursacher der Finanzkrise, sondern die Opfer», sagt dazu Gewerkschafter und SP-Nationalrat Paul Rechsteiner. Und was sagt dazu die arbeitende Mehrheit? Wen interessierts? Marktgerechtes Humankapital Konkret soll mit der geplanten ALV-Revision vor allem auf junge Arbeitslose mehr Druck ausgeübt werden. Die Revision sieht vor, die Unterstützung für Betroffene unter 25 Jahren von heute 400 Tagen auf 200 Tage zu halbieren, wenn sie keine Familienpflichten haben. Schülerinnen und Schülern, Studierenden und allen anderen Beitragsbefreiten soll die maximale Anzahl der Taggelder von 200 auf nur noch 90 gekürzt werden. Sie sollen als erklärtes Ziel der Revision auch Arbeit annehmen müssen, die weder ihren Qualifikationen noch ihrer Erfahrung entspricht. Von Arbeitslosigkeit sind in der Schweiz sieben Prozent aller Jugendlichen betroffen. Serge Gaillard, der frühere Gewerkschafter und heutige Leiter Arbeitsmarkt beim Staatssekretariat für Wirtschaft, sagt zu den geplanten Karenzfristen für Studienabgänger so lapidar wie leicht gequält: «Wenn jemand ein Studium abgeschlossen hat, ist es zumutbar, dass er oder sie sechs Monate zuwartet, bevor Arbeitslosengelder bezogen werden können.» Auch bei älteren Arbeitslosen sind Einschnitte geplant. Die maximalen 400 Taggelder soll nur noch erhalten, wer während mindestens 18 Monaten in die Versicherung einbezahlt hat. Über 55-Jährige bekommen ihre maximal 520 Taggelder nur noch, wenn sie mindestens 24 Monate einbezahlt haben. Und es geht noch weiter: Besonders von
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BILD: KEYSTONE
Vom RAV zum Sozialamt: Junge sollen nur noch 90 Tage stempeln können.
Arbeitslosigkeit betroffene Kantone wie etwa Jura, Neuenburg oder Waadt sollen keine vorübergehende Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung um 120 Tage mehr anordnen dürfen. Auch dies sieht das neue Arbeitslosengesetz (AVIG) vor. Dagegen laufen die Stadtregierungen bereits Sturm, weil sie befürchten, dass Langzeitarbeitlose damit einfach in die Sozialhilfe abgeschoben werden und die städischen Sozialbudgets belasten. Basel-Stadt hat nachgerechnet: Dort prophezeit man nach einer Annahme der Revision bei der Sozialhilfe Mehrkosten von mindestens sechs Millionen Franken. Doch das sind Kollateralschäden auf dem Weg zu einem übergeordneten Ziel: Arbeitslose möglichst effizient dazu zwingen, wieder eine Arbeit anzunehmen. Egal was für eine Arbeit, egal zu welchen Konditionen. Es geht um möglichst marktgerechtes Humankapital für den globalen Konkurrenzkampf. «Wir brauchen einen flexibleren Arbeitsmarkt, wenn wir international mithalten wollen», sagt FDP-Nationalrat Georges Theiler. Und plötzlich wird da die Steuerhölle Deutschland für die Polit-Lotsen der Wirtschaftskapitäne zum Vorbild.
beitsstunden pro Woche kommen und trotzdem nicht von ihrem Einkommen leben können. Ein Traum für jede Wirtschaft. Bemerkenswert ist deshalb, dass selbst die Schweizer Jungfreisinnigen die geplante Revision der Arbeitslosenversicherung ablehnen. Die Jugend der FDP, ansonsten Sozialabbau und ökonomischen Flexibilisierungen nicht abgeneigt, kritisiert, die Vorlage sei einseitig zulasten der Jungen konzipiert. Sie kriechen sich damit allerdings auch etwas selber auf den Leim. So wie die SP als Referendumsführerin gegen das neue Arbeitslosengesetz übrigens auch. Denn die einseitige Belastung der Jungen hat auch mit der Personenfreizügigkeit zu tun, die sowohl Freisinn wie SP wie überhaupt fast
Stellenlose sollen gezwungen werden, jede Arbeit anzunehmen – ganz egal zu welchen Bedingungen.
Zu wenig Geld zum Leben In Deutschland arbeitet bereits über ein Drittel aller Erwerbstätigen nicht mehr in einem Job, der voll sozialversicherungspflichtig und unbefristet ist. Zwischen 1996 und 2008 sank die Zahl der Arbeitnehmer in so genannten Normalarbeitsverhältnissen um sieben auf 55 Prozent. In der Schweiz arbeiten doch immerhin noch fast 75 Prozent der Erwerbstätigen in sozial abgesicherten Arbeitsverhältnissen. Rasant nimmt in Deutschland dafür auch die Zahl jener zu, die drei oder gar vier verschiedene Minijobs haben, damit total flexibilisiert auf 40 Ar-
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alle politischen Kräfte ausser die SVP und einige Linksaussen-Parteien ohne kritische Distanz verteidigen. Die Personenfreizügigkeit ist ein europäisches Projekt der Wirtschaft, um hoch qualifizierte, erfahrene Arbeitskräfte möglichst flexibel und unbürokratisch über den ganzen Kontinent verschieben zu können. Gleichzeitig werden die nationalen Arbeitsmärkte für Minderqualifizierte und Berufseinsteiger so effizient wie möglich abgeschottet. Junge haben daher nach Lehre oder Studium meist keine andere Wahl, als auf dem heimischen Arbeitsmarkt ihre ersten Schritte ins Berufsleben zu versuchen. Das macht sie besonders formbar für die Marktbedürfnisse: billig und biegsam. Wer heute noch an den Wohlfahrtsstaat glaubt, kommt morgen auf die Welt. ■
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Freiwilligenarbeit Helvetias willige Helfer
BILD: ROLAND SOLDI
Ob Sporttrainer, Beistand oder Altenbetreuer: Freiwilligenarbeit liegt im Trend, ist in Gefahr, wird instrumentalisiert, 端berreguliert oder entzieht sich jeglicher Regelung. Suchen Sie sich etwas aus!
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VON STEFAN MICHEL
Zur Pflege gehört als Erstes, dass man sich Sorgen macht. Das Bundesamt für Statistik schlug 2008 Alarm. Um drei Prozent sei der Anteil der Freiwilligen zwischen 1997 und 2007 gesunken. Herbert Ammann relativiert: «Eine Veränderung von bis zu zwei Prozent liegt innerhalb der statistischen Ungenauigkeit der Untersuchung.» Dass erst seit 1997 Freiwilligenarbeit statistisch erfasst wird, schwächt das Alarmsignal weiter ab. «Schwankungen sind wahrscheinlich, aber eher in grösseren Zeiträumen von 20 oder 30 Jahren», ist Ammann überzeugt. Eine spontane Umfrage unter einem Dutzend Organisationen, die Freiwillige einsetzen oder weitervermitteln, ergibt kein klares Bild. Einige klagen, es sei in den letzten Jahren viel schwieriger geworden, Freiwillige zu rekrutieren. Andere finden, Freiwilligenarbeit liege im Trend. Elsbeth Fischer-Roth von Benevol Schweiz, der FreiwilligenDachorganisation, stellt zwei gegenläufige Bewegungen fest: «Der Druck auf die Arbeitsplätze bewirkt einen Rückgang, denn wer um seine Stelle fürchtet oder sie schon verloren hat, engagiert sich eher nicht freiwillig. Andererseits melden sich mehr Leute, die einen guten Job haben und die jetzt ein Zeichen gegen die Abzockermentalität setzen wollen.»
Auf dem Heimweg wird der Informatiker René von Dach zum Velo Trial-Trainer. In Bike-Kleidern steht er in einer Halle in Zürich-Oerlikon, die mit einem Hindernisparcours aus Paletten, Traktorreifen und riesigen Kabelspulen vollgestellt ist. Junge Männer und auch zwei Frauen balancieren auf ihren Bikes von Element zu Element. Die Wettkampfkarriere des jugendlich wirkenden 36-Jährigen liegt lange zurück. Seit einigen Jahren ist er Präsident des Velo Trial Clubs Zürich, oder genauer: Trainer, Organisator, Webmaster und vieles mehr. Erst nach längerem Kopfrechnen kann er den Zeitaufwand für sein Amt schätzen: 250 Stunden pro Jahr. Sie scheinen ihn nicht zu reuen. Unzufrieden ist er hingegen mit der Trainersituation: «Wir brauchen mehr Leute, die ein strukturiertes Training leiten können. Darum bieten wir jetzt eine Entschädigung von 30 Franken pro geleitetes Training an. Noch hat sich niemand gemeldet.» Joe Frey hat keine Sportlerkarriere hinter sich, sondern eine als Ingenieur und Unternehmensberater. Mit 70 gab der Selbstständigerwerbende sein Geschäft auf. Seit zwei Jahren berät er Demente, Überschuldete, Alkoholsüchtige und andere, die Hilfe brauchen in geschäftlichen und behördlichen Angelegenheiten. Als privater Beistand Freiwillige als Gratis-Arbeitskräfte verhandelt er im Namen seiner Mandanten mit Krankenkassen, Banken, Offensichtlich ist, dass die Freiwilligenarbeit institutionalisiert wird. Betreibungsämtern oder der Spitex. «Es ist zwar viel Unschönes dabei: Professionelle Vermittlungsbüros wie die Benevol-Fachstellen oder Die schlimmen Situationen, in denen meine Mandanten stecken. Oder öffentliche Ämter wie das Stadtzürcher Sozialdepartement koordiniewenn ich hintergangen werde von Überschuldeten, für die ich bessere Abzahlungsbedingungen aushandle, und die hinter meinem Rücken neue Schulden ma«Einen Sozialarbeiter aufzubieten, um Kindern bei den Hauschen.» Trotzdem überwiegt das Positive: aufgaben zu helfen, wäre ressourcentechnisch nicht sinnvoll.» «Wenn sich ein Klient freut, ist das die grösste Genugtuung. Und ich finde es interessant. Es ren zwischen den Freiwilligen und jenen, die Unterstützung brauchen. ist eine Welt, die ich vorher nicht kannte.» Den einfachsten seiner zurOft profitieren Menschen, die bereits von einer Institution betreut zeit vier Klienten besucht er alle vierzehn Tage, der komplizierteste bewerden: im Altersheim, in der Kinderkrippe, von der Spitex oder der schäftigt ihn fünf bis sechs Stunden pro Woche. «Manchmal wache ich Fürsorge. Es fragt sich also, ob hier Dienstleistungen an Gratis-Arbeitsnachts auf und studiere an der Lösung für einen Mandanten herum. kräfte ausgelagert werden. Eine Freiwilligenvermittlerin, die nach dem Zum Glück gibt es für mich keine Probleme, nur interessante AufgaGespräch doch nicht namentlich zitiert werden will, sagt: «Den Koben.» Ob er Dankbarkeit von seinen Mandanten erwarte? «Nein», antstendruck im Gesundheitswesen spüren wir. Die Spitex-Pflegendenden wortet er, ohne zu zögern. müssen jede Minute abrechnen und können keine langen Gespräche mit den Patienten führen.» Hier springen vor allem engagierte Frauen Helfen statt Abzocken in die Bresche. Dass sie damit quasi im Auftrag von Gesundheits- oder Ob Veloakrobatik oder Beistandschaft, von Dach wie Frey opfern Sozialeinrichtungen arbeiten, störe sie nicht, ist die Vermittlerin überfreiwillig einen Teil ihrer Freizeit der Allgemeinheit. «Auch wenn es um zeugt. «Jene, die motiviert sind, tun das für die Menschen, denen sie das eigene Hobby geht, sobald Dritte von der geleisteten Arbeit profihelfen.» tieren, ist es Freiwilligenarbeit», erklärt der Soziologe Herbert Amman, Freiwilligenarbeit im öffentlichen Auftrag wird bei der AsylorganiGeschäftsleiter der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Der sation Zürich (AOZ) und ihrem Programm TransFair geleistet. Rund 90 Bike-Trainer vermittelt Jugendlichen die Freude am Sport. Und ohne Personen begleiten Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge in ihrem den Einsatz freiwilliger Beistände wie Joe Frey wäre die Not einiger Integrationsprozess in der Schweiz. Sie erklären ihnen die wichtigsten Menschen noch grösser – in vielen Fällen müsste früher oder später ein geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, begleiten sie zu Behörteurer amtlicher Vormund eingesetzt werden. den, üben mit ihnen Deutsch und unterstützen sie bei der EingliedeMehr als die Hälfte der in der Schweiz Wohnhaften arbeiten nebenrung im Wohnquartier. Ein bis zwei Stunden Wochenarbeitszeit für 200 her freiwillig. Die Männer sind in der Vereinstätigkeit in der Überzahl, Franken Spesenentschädigung im Jahr. die Frauen dominieren die informelle Nachbarschaftshilfe. Die EnDen Verdacht, dass hier Freiwillige zur Kostensenkung Aufgaben im gagierten unterstützen Betagte, hüten Kinder, fördern Kultur, Sport Asylbereich übernehmen, lässt Martin Rauh von der AOZ nicht gelten. und das Zusammenleben im Quartier. Zusammengenommen während «Die Freiwilligen sind eine Ergänzung zu den Sozialarbeitenden, die mehr als 700 Millionen Stunden im Jahr, wie sich aus der Schweizeriwir einsetzen, wenn es eine Fachperson braucht. Es wäre ressourcenschen Arbeitskräfteerhebung und dem Freiwilligen-Monitor Schweiz technisch nicht sinnvoll, einen Sozialarbeiter aufzubieten, um Kindern hochrechnen lässt. Das entspricht rund 350 000 Vollzeitstellen. Dieses bei den Hausaufgaben zu helfen.» Ohne Freiwillige gebe es dieses Potenzial weckt Begehrlichkeiten und es will gepflegt werden.
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BILD: LUC-FRANÇOIS GEORGI
BILD: ROLAND SOLDI
Will seine Freude am Sport weitergeben: Velo Trial-Trainer René von Dach.
Unterstützungsangebot für Asylsuchende und Flüchtlinge nicht. Die jährlich rund 7000 Arbeitsstunden wären nicht finanzierbar. Der Gewinn für die Freiwilligen, erklärt Rauh, sei der Einblick in eine fremde Kultur, das Gefühl, eigene Wissens- und Zeitressourcen sinnvoll einzusetzen, neue Freundschaften sowie interne Weiterbildungen durch die AOZ. Auch die gezielte Qualifizierung der Freiwilligen ist ein Trend in der Freiwilligenarbeit.
Joe Frey lernt bei seiner Freiwilligenarbeit neue Welten kennen.
litätssteigerung in der Kinderbetreuung für einen Aufschrei: Demnach hätten selbst Familienmitglieder und nahe Bekannte, die während mehr als 20 Stunden in der Woche Kinder hüten, eine staatliche Bewilligung gebraucht. Inzwischen ist dieser Vorschlag, der ein Stich ins Herz der informellen Freiwilligenarbeit gewesen wäre, vom Tisch. Freiwilliges Engagement auf informeller Basis macht mehr als die Hälfte aller gemeinnützigen Arbeit aus. Dass sie durch neue Bestimmungen verdrängt wird, scheint wenig wahrscheinlich. Denn gerade weil sie informell passiert, entzieht sie sich den meisten Regelungen. «Über staatliche Kontrollen lassen sich in der informellen Freiwilligenarbeit keine Verbesserungen erzielen. Dazu müsste man eine riesige – und entsprechend bürokratisch ineffiziente – Kontrollorganisation aufbauen», ist Herbert Ammann überzeugt.
Grenzen der Vereinnahmung Freiwilligenorganisationen empfehlen Weiterbildung als eine Form der Belohnung für jene, die sich engagieren. Oft ist sie schiere Notwendigkeit. Kurse für den Umgang mit Dementen etwa machen es Freiwilligen leichter, diese zu betreuen und länger dabeizubleiben. Denn das ist eine der grössten Herausforderungen, der sich Einsatzbetriebe und Vermitt«Über staatliche Kontrollen lassen sich in der informellen ler gegenüber sehen: Auch wenn die FreiwilliFreiwilligenarbeit keine Verbesserungen erzielen.» gen eine Vereinbarung über Art und Umfang ihrer Tätigkeit unterschreiben, dürfen sie jeDass die Qualität stimmt, regeln Empfänger und Erbringer einer derzeit aussteigen. Leute, die sich über Jahre hinweg einsetzen, sind Dienstleistung am besten untereinander. Dass die Engagierten per Gedie Glückstreffer. Die meisten hören nach einigen Monaten bis einem setz daran gehindert werden, Gutes zu tun, ist nicht gänzlich ausgeJahr wieder auf. Darum lassen sich mit Freiwilligen kaum bezahlte schlossen. Das Beispiel Kinderbetreuung zeigt jedoch, dass die ungereStellen wegrationalisieren, denn sicher ist man sich ihrer nie. Herbert gelte Freiwilligenarbeit, wo sie wirklich gebraucht wird, eine grosse Ammann verweist auf die Statistik: «Wenn man den Anstieg der ArLobby hat. Die grösste Gefahr für die Freiwilligenarbeit sind aber beitsstellen im Gesundheits- und im Sozialwesen in den letzten 30 Jahweder Gesetze noch Vereinnahmungsversuche: Es ist der innere ren ansieht und diese Zahl den Freiwilligen gegenüberstellt, die dort Schweinehund, der fast die Hälfte der Menschen in diesem Land davon mithelfen – es sind nur 15 Prozent aller Freiwilligen –, dann wird klar, abhält, mitzumachen. dass diese niemals bezahlte Arbeit verdrängen.» ■ Bleibt die Frage nach der Qualität. Vor einigen Monaten sorgte Bundesrätin Evelyne Widmer-Schlumpf mit einem Vorschlag zur QuaSURPRISE 224/10
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Wirtschaft Der Ladymacher René Mägli, Geschäftsführer der Schweizer Niederlassung der Reederei MSC, stellt seit Jahren ausschließlich Frauen ein – aus rein ökonomischen Gründen. Mittlerweile ist er der einzige Mann in seiner Firma. Ein Einblick in die Arbeitswelt von morgen.
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VON MATHIAS IRLE (TEXT) UND ANNE MORGENSTERN (BILDER)
Schreibtische von der dritten in die vierte Etage schleppen. So sehr man sich auch dagegen wehrt, es fällt schwer, dieses Möbelschleppen als einen normalen Vorgang in einer Firma auf Expansionskurs wahrzunehmen, die vor Kurzem eine weitere Etage angemietet hat. Stattdessen ist da das Bild zweier Männer, die einfache Arbeit erledigen, während um sie herum die Frauen für den anspruchsvolleren Teil zuständig sind. Man
Der Weg zu Antworten auf die Frage, wie der Wohlstand der Industrienationen gesichert werden kann, führt an drei jungen Frauen vorbei, die vor der Tür eines schmucklosen Bürogebäudes in der Basler Innenstadt plaudern und rauchen. Er geht weiter in einen Aufzug, der in den zweiten Stock fährt – dorthin, wo selten ein Mann aussteigt. Und er endet in den Räumen «Dass hier nur noch Frauen arbeiten, ist das Ergebnis der Schweizer Niederlassung der Mediterranestrategischer betriebswirtschaftlicher Überlegungen.» an Shipping Company, MSC, mit insgesamt rund 30 000 Mitarbeitern zweitgrösste Contaiist versucht, die Packer in der Frauenfirma als eine für Männer bedrüner-Reederei der Welt. Hier in Basel arbeiten fast ausschliesslich Frauen: ckende Vorschau auf die Arbeitsteilung der Zukunft zu deuten. 84 der 85 Angestellten sind weiblich. Sie sind Controllerinnen, SachbeBis man auf René Mägli trifft. Denn der Geschäftsführer der Schweiarbeiterinnen, Empfangsdame, Vertrieblerinnen, Direktorinnen, IT-Spezizer Niederlassung scheint zu bestätigen, dass in der Wirtschaft eben alistinnen oder Finanzvorstand. doch noch alles beim Alten ist – oben die Männer, unten die Frauen. Der Der erste Eindruck: Es sieht normal aus in dem europaweit, vielleicht 56-Jährige sitzt im Besprechungszimmer im zweiten Stock an einem sogar weltweit einzigartigen Unternehmen, das – in einer männerdomigrossen Tisch. Wegen des Umzugs hat er seinen Anzug gegen eine Jeans nierten Branche – seit mehr als zehn Jahren nur noch Frauen einstellt. und ein weisses Hemd getauscht. Er trägt eine goldene Uhr und einen Mittlerweile ist die Belegschaft zu 100 Prozent weiblich. Und es herrscht goldenen Siegelring. Um seinen Hals hängt eine Lesebrille an einer goldort eine konzentrierte Atmosphäre. Kein Kratzen, kein Beissen und denen Kette. Vor ihm ein Aschenbecher. auch kein Augenausstechen ist zu beobachten. Das, obwohl fast allen Er ist nicht nur der einzige Mann, der im Basler Büro arbeitet und daAussenstehenden, die von der hohen Frauenquote hören, unmittelbar mit allein unter 84 Frauen. Er ist auch ihr Chef und derjenige, der seit die gleiche Assoziation in den Sinn kommt: Zickenkrieg. rund 13 Jahren nur noch Frauen einstellt. Als «Pascha» oder «SchwuchMikhal Yaacobi – Hosenanzug, Brille, langes dunkles Haar, strenger tel» wurde er deshalb in Internetforen geschmäht. Doch Mägli, liiert mit Zopf, rot lackierte Fingernägel –, stellvertretende Geschäftsführerin von einer Managerin – mehr will er nicht über sein Privatleben preisgeben –, MSC Basel, kennt die Vorurteile. Die 35-jährige Israelin hatte selbst ähnein vornehmer gebürtiger Basler, der ruhig und gewählt spricht, sagt nur: liche Bilder im Kopf, als sie vor rund sechs Jahren von der männerdomi«Dass hier nur noch Frauen arbeiten, ist das Ergebnis einer strategischen nierten Niederlassung in Haifa nach Basel wechselte. Dort hatte sie sich betriebswirtschaftlichen Überlegung.» zur Führungskraft im Vertrieb hochgearbeitet. Sie erinnert sich gut, wie Einer Überlegung, deren Ursprünge bis in das Jahr 1981 zurückreidamals die Geschichten von der besonderen Schweizer Niederlassung chen. Damals, im Alter von 28, hatte der gelernte kaufmännische Angemit den Frauen kursierten, die bei internationalen Meetings immer einen stellte Mägli die Reedereivertretung Shipmar AG gegründet, die er später so kompetenten und selbstbewussten Eindruck hinterliessen. Und wie an MSC verkaufte. Zunächst stellte er Männer wie Frauen ein. Doch je sie die Fantasien ihrer männlichen Kollegen beflügelten, so wie überlänger er die Niederlassung leitete, umso häufiger beobachtete er, dass haupt die meisten Männer beginnen, von einem Leben als Hahn im Korb seine weiblichen Angestellten ihren Job besser machten als ihre männzu fantasieren, wenn sie Geschichten über MSC Basel hören. lichen Kollegen, jedoch in der Hierarchie nicht höher rückten. Mägli Allerdings geht keine Bewerbung mehr von männlichen Kandidaten suchte nach den Gründen und stellte fest, dass die Frauen vor allem dort ein – und das, obwohl die Belegschaft von MSC Basel in den verdeshalb nicht weiterkamen, weil männliche Kollegen sie «per Ellenbogangenen 14 Jahren von 10 auf 84 Personen angewachsen ist und die geneinsatz klein hielten.» Kurzerhand entliess Mägli einen männlichen Niederlassung als überdurchschnittlich erfolgreich gilt. «Vielleicht maAngestellten. Es war das Jahr 1995. Und ohne es jemals fest geplant zu chen manchem die vielen Frauen Angst», vermutet Yaacobi. haben, entschied er sich in der Folge fast immer für eine Frau, wenn er eine Stelle ausgeschrieben hatte. Wer hält begabte Frauen klein? Nicht, weil er keine Männer mehr einstellen wollte. «Sondern weil die Ihr Arbeitsplatz befindet sich im Grossraumbüro im zweiten Stock. Frauen besser geeignet waren.» Schliesslich, so Mägli, brauche er als Von dort aus leitet sie ihre Mitarbeiterinnen an, Aufträge, die von HändDienstleister kommunikative Mitarbeiter, die Fremdsprachen beherrlern in Zürich oder Genf abgeschlossen werden, an die MSC-Niederlasschen, gern im Team arbeiten und schnell Prioritäten setzen können. Alsungen in aller Welt weiterzugeben: Zucker beispielsweise, der in Brasiles Eigenschaften, die durchschnittlich häufiger bei Frauen als bei Mänlien geladen und in einem Hafen in den USA wieder gelöscht werden soll. ner zu finden seien, so Mägli. Ausserdem habe er bemerkt, dass Frauen Fast 90 Prozent der Umsätze der Basler Niederlassung macht das Verin der Regel sachbezogener arbeiten, weniger Energie in Positionskämpmittlungsgeschäft aus. Die restlichen zehn Prozent bestehen aus dem Bufe investieren, Fehler zugeben und weniger aufschneiden. «Ich behaupte chen von Logistikaufträgen für die Schweiz: Kleidung, die über den nicht, dass Männer schlecht sind, sonst wäre ich auch schlecht. Doch Rhein in die Schweiz importiert wird; Pharmaprodukte, die über die das, was ich brauche, um mein Dienstleistungsunternehmen erfolgreich Binnengewässer verschifft werden. zu führen, habe ich in den letzten 13 Jahren bei den weiblichen BewerMikhal Yaacobi hat sich längst daran gewöhnt, fast ausschliesslich mit berinnen gefunden.» Kolleginnen zu arbeiten. Weder vermisst sie Männer besonders, noch geNur einmal noch habe er, vor neun Jahren, einen Versuch mit einem niesst sie es, dass es bei MSC Basel keine männlichen Kollegen gibt. Sie Mann gemacht. Doch der habe alles, was er nicht verstand, «einfach in sagt schlicht: «Never change a winning team.» eine Schublade gepackt», weshalb Mägli ihn schnell wieder entliess. Vielleicht ist es gerade dieser Pragmatismus, der dazu führt, dass dem Laut einer anonymen Umfrage, die im Oktober 2008 unter den MitarBesucher beunruhigende Fragen durch den Kopf gehen: Ist MSC Basel beiterinnen durchgeführt wurde, wünschen sich 43 Prozent von ihnen tatsächlich wegen der Frauen so erfolgreich? Falls ja, arbeiten sie nicht zwar manchmal mehr Männer im Betrieb – wegen der «Abwechslung». nur in Basel, sondern generell besser als Männer? Und wenn dem so ist: Doch je länger sie bei MSC sind, desto weniger vermissen sie männliche Wo wäre dann langfristig der Platz der Männer? Kollegen. Denn Zickenkriege finden dort kaum statt, wie Yaacobi und ihVermutlich liegt es an solchen Überlegungen, dass man plötzlich den re Kolleginnen sagen. Dies wohl auch deshalb, weil in den vergangenen beiden Möbelpackern genauer zusieht, die an diesem Vormittag in Basel SURPRISE 224/10
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Jahren immer wieder Frauen mit klassischen männlichen Eigenschaften – die also gern in Wettstreit miteinander treten oder per Anweisung führen wollen – das Unternehmen verlassen haben. Die Belegschaft ist mittlerweile homogen und Ergebnis einer besonderen Selektion. Mägli findet das gut. «Ich habe kein Problem mit Frauen», sagt er, ohne dabei süffisant zu lächeln. Er ist das Gegenteil eines Machos. Seine Mails unterschreibt er gern mit dem Satz «Hoffe, Ihnen gedient zu haben». Und gegenüber seinen Mitarbeiterinnen, die er «aus Respekt» ausschliesslich «Ladys» nennt, nimmt er eine Rolle zwischen Mentor, Vater und Gentleman ein. Er bezahlt sie überdurchschnittlich, was die Gewerkschaft Unia bestätigt. Ist behilflich bei der Wohnungssuche, wenn eine von ihnen neu nach Basel zieht. Er betont, wie gut er mittlerweile die Körpersprache seiner Angestellten lesen und erkennen könne, wenn eine von ihnen etwas bedrückt. Wäre es für die Firma noch besser, wenn auch der Chef durch eine Frau ersetzt würde? Mägli lächelt: «Sorry, dass ich als Mann noch immer an der Spitze des Unternehmens stehe, aber ich habe den Laden nun mal gegründet.» Allerdings könne er sich gut vorstellen, dass irgendwann auch sein Job von einer Frau übernommen wird. Zum Beispiel von seiner Stellvertreterin Yaacobi. Dass Wirtschaft weiblicher werden sollte, ist Allgemeingut. Doch meist nur in der Theorie – MSC Basel ist eine Ausnahme und Mägli ein Exot. Dennoch ist seine Firma ein interessantes Beispiel für den Umgang mit einer Herausforderung, vor der viele Unternehmen in reifen Volkswirtschaften stehen. Sie werden sich künftig nur dann behaupten können, wenn es ihnen gelingt, Frauen langfristig an sich zu binden und ihnen echte Karrieremöglichkeiten zu bieten. Schon für das nächste Jahrzehnt prophezeien Experten dem Arbeitsmarkt einen gewaltigen Fachkräftemangel. Ohne Frauen wird er nicht
auszugleichen sein. Doch sie sind nicht allein aus Mangel gefragt. Die 2007 von McKinsey vorgelegte Studie «Women Matter» kommt zu dem Ergebnis, dass Frauen wegen ihres Führungsstils erheblich zum Unternehmenserfolg beitragen. So formulieren sie Erwartungen an die Mitarbeiter in der Regel klarer und verfolgen deren Umsetzung konsequenter. In zahlreichen Untersuchungen hat man zudem herausgefunden, dass heterogen zusammengesetzte Teams aus Männern und Frauen innovativere Lösungen und Produkte hervorbringen. Ausserdem sind heute schon die meisten Kunden weiblich und werden immer finanzkräftiger. Das Problem ist nur: Die Firmen tun sich schwer damit, ihre Mitarbeiterinnen zu halten, und noch schwerer, weibliche Führungskräfte zu gewinnen. Zwar beginnen die meisten Frauen ihre Karrieren vielversprechend. Doch irgendwann, meist nach der Geburt des ersten Kindes, brechen sie sie ab. Deshalb ist das, was bei MSC in Basel passiert, mehr als ein exotisches Experiment, und es spielt auch keine Rolle, ob man Mäglis Art und Personalpolitik persönlich gut oder schlecht findet. Bei ihm bleiben die Frauen und machen gern Karriere. Allein das zählt. Wie gelingt Mägli dieses Kunststück? Und lassen sich seine Methoden übertragen? Männer mögen Hierarchien, Frauen Teams Mittlerweile ist es kurz vor Mittag. René Mägli steht auf, er muss zurück an seinen Schreibtisch. Vorbei an der Herrentoilette («Hier ist man immer ungestört»), geht er über lange Flure. Sein Schreibtisch steht in der hinteren Ecke des Grossraumbüros, schräg gegenüber dem von Yaacobi. Beobachtet man ihn dort bei der Arbeit – Lesebrille auf der Nase, Gesicht zum offenen Raum –, fällt auf, dass nichts darauf hindeutet, dass er der Geschäftsführer ist. Das liegt daran, dass Mägli sowohl ein eigenes Büro als auch eine eigene Sekretärin für «Machogehabe» hält, weshalb er auf beides verzichtet. Es liegt aber vor allem daran, dass sich sein Schreibtisch nicht von denen der anderen unterscheidet. Ohne weitere
Mentor, Vater, Gentleman: René Mägli inmitten seiner Ladys.
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Erklärungen wäre nicht erkennbar, wer Chef und wer Mitarbeiter im Unternehmen ist. Claudia Dietrichs Schreibtisch steht im rechten Winkel unmitelbar neben dem von Mägli. Als die 25-jährige gebürtige Berlinerin vor rund zweieinhalb Jahren direkt nach ihrem Studium der Internationalen Betriebswirtschaftslehre zu MSC kam, reizte sie vor allem das globale Geschäft der Firma, in der Frauen aus zehn Nationen arbeiten und 40 unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Mägli übertrug ihr die Hauptverantwortung für die Finanzen der MSC Basel. Dies ist typisch für ihn, weil er seinen «Ladys» immer gern ein bisschen mehr zutraut als die sich selbst. «Er sagt den Frauen, dass sie gut sind und etwas können», so Dietrich. «In Sachen Selbstbewusstsein haben fast alle von uns am Anfang Nachholbedarf.» Bei ihrem Einstieg in die Firma fiel ihr ausserdem auf, dass firmeninterne Mails zu Sachthemen sehr freundlich und wortreich verpackt werden. Überflüssig würden das wohl einige Männer nennen. Bemerkenswert sei jedoch, so die Controllerin, dass es mit diesen Girlanden oft ein Ende habe, wenn es um zwischenmenschliche Konflikte in der Firma gehe. «Genau dann, wenn einige Männer anfangen, um den heissen Brei herumzureden», sekundiert ihre Chefin Yaacobi, «werden viele Frauen fokussiert.» Die Kommunikation ist für die Israelin der auffälligste Unterschied im Vergleich mit ihrem früheren Job in Haifa. Bei den meisten Männern dürfe die Ansprache direkter sein, und man könne ihnen Anweisungen geben, ohne sie zu erklären. «Ist die Hierarchie einmal hergestellt, ist die Führung von Männern leichter.» Die meisten Frauen arbeiteten dagegen lieber in Teams und als Vorgesetzte müsse man ihnen Entscheidungen besser erklären. Einerseits sei es deshalb schwieriger, die Mitarbeiterinnen anzuleiten, so Yaacobi. Andererseits entstünden dank der Diskussionen «oft sehr gute und neue Lösungen». Sie sagt auch, dass Frauen Konflikte oft persönlicher nähmen als Männer. Immer wieder habe sie erlebt, dass Kolleginnen anfingen zu weinen, wenn Kunden am Telefon laut wurden. «Frauen müssen lernen, sich solche Wutausbrüche nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen.» Doch gerade weil Frauen emotionaler seien, gelinge es ihnen, besonders enge Beziehungen zu den Kunden aufzubauen. «Sie denken an die Geburtstage der Lieferanten und kennen auch noch die Namen von deren Kindern.» All die genannten Charakterzüge und Verhaltensweisen kommen nicht ausschliesslich bei Frauen vor – nur eben viel häufiger als bei Männern. Der wesentliche Grund, warum sich die Mitarbeiterinnen bei MSC Basel wohlfühlen: Mägli führt anders, weil viele Frauen anders geführt werden wollen. Partnerschaftlicher. Konkurrenzverhalten straft der Chef dagegen ab – durch Mitarbeitergespräche bis hin zu Entlassungen. Bewegung ist nun, zur Mittagszeit, in die drei Etagen der Reederei gekommen. Während die einen wieder aus ihrer Pause zurückkehren, machen sich andere wie Ariane Mosetti auf den Weg nach Hause. Die 47-jährige Baslerin arbeitet bereits seit 19 Jahren für Mägli, derzeit als Controllerin. Um 14 Uhr hat sie an diesem Tag Feierabend, zwei ihrer Kolleginnen an den Schreibtischen gegenüber sind heute gar nicht erst erschienen. Alle arbeiten Teilzeit. Mosetti hat ihre Arbeit vor vielen Jahren mit einer Kollegin geteilt, als sie ein Kind bekam. Eine Weile arbeitete sie 50 Prozent, bis sie dann, als ihre Kinder grösser waren, wieder auf 70 Prozent erhöhte.
90-prozentiger Teilzeit gearbeitet. Und auch von den vier DepartmentManagerinnen, die die Führungsebene unterhalb von Yaacobi bilden, arbeitet eine 90, eine andere 70 Prozent. Mägli hält nichts von der verbreiteten Meinung, dass nur derjenige aufsteigen soll, der sich ganz seinem Unternehmen verschreibt. «Jede meiner Mitarbeiterinnen darf selber entscheiden, wie viel sie arbeiten will.» Die Folgen: neue Erkenntnisse. So hat Ariane Mosetti die Erfahrung gemacht, dass es zwar mehr Koordinationsaufwand bedeutet, wenn zwei sich eine Stelle teilen. Aber auch mehr geleistet wird, weil beide ihre Arbeitszeit effektiv nutzen und sich gegenseitig vertreten können. Yaacobi ist mittlerweile sogar überzeugt: «Je höher eine Position in der Hierarchie eines Unternehmens angesiedelt ist, umso leichter lässt sie sich in Teilzeit ausüben.» Schliesslich seien Geschäftsführer kaum noch
«Je höher die Position, umso leichter lässt sie sich in Teilzeit ausüben.»
Teilzeitarbeit zahlt sich aus Solche flexiblen Arbeitszeitregelungen sind selbst für Führungskräfte selbstverständlich – auch das unterscheidet die Reederei von vielen anderen Firmen. Zwar sagt die stellvertretende Geschäftsführerin Yaacobi, sie arbeite heute eher 150 als 100 Prozent. Doch bis vor kurzer Zeit hat sie auf der gleichen Position «aus privaten Gründen» zwei Jahre lang in SURPRISE 224/10
mit alltäglicher Arbeit beschäftigt. Ihre Freiheit könnten sie für BusinessTrips, Aufsichtsratsposten oder eben eine Reduzierung der Arbeitszeit nutzen. Die Israelin lobt das Basler Modell als «Arbeiten ohne Karrierestress». Die Frauen wüssten, dass sie Beruf und Privatleben unter einen Hut bekämen. Von den Müttern seien fast alle nach der Geburt ihrer Kinder schnell ins Unternehmen zurückgekehrt, und die Fluktuation liege bei «nahezu null». Wenn man den Experten Glauben schenkt, werden sich die heute üblichen Karrierewege wegen der wachsenden Nachfrage der Wirtschaft nach qualifizierten Frauen verändern. Julia Nentwich, Dozentin am Lehrstuhl für Organisationspsychologie der Universität St. Gallen, hat die Vision einer Teilzeitgesellschaft, in der Männer wie Frauen nur an drei bis vier Tagen pro Woche in ihrem Beruf beschäftigt sind und sich gemeinschaftlich um Hausarbeit und Familie kümmern. Der Politikwissenschaftler Peter Döge, Autor von Büchern wie «Männer – Paschas und Nestflüchter», rät: «Jedes Unternehmen muss heute ganz individuell und ideologiefrei für sich prüfen, welche Spielräume es hat, eigene Karrierebilder zu verändern.» Männer nicht ausgeschlossen René Mägli hat sich nach der Mittagszeit für einen Moment in eine Art Abstellkammer zurückgezogen. Sein «Reich», in dem sich eine Espressomaschine, eine kleine Küche, ein Stehtisch und allerlei Gerümpel befinden, und wo er, neben dem Besprechungszimmer, rauchen darf. Er sieht derzeit keine Notwendigkeit, die Männerquote in seinem Unternehmen wieder zu erhöhen oder Frauen mit männlichen Eigenschaften anzulocken. Ausschliessen will er jedoch nicht, dass er noch einmal einen Mann einstellt. Es müsste aber ein besonderer sein. Einer, der es erträgt, unter einer Vorgesetzten zu arbeiten, die nur in Teilzeit tätig ist. Und der dies nicht als Gelegenheit missversteht, seine Chefin zu verdrängen. «Diejenigen Männer, die noch nicht erkannt haben, dass Frauen ebenbürtig sind, tun mir leid», sagt der MSC-Geschäftsführer, während er an der Espressomaschine hantiert und sich über die Unordnung – dreckige Tassen, benutztes Geschirr – aufregt, die seine Ladys mal wieder in der Küche hinterlassen haben. Fühlt er sich nicht manchmal allein unter all den Frauen? Sehnt er sich gar nach einem Kollegen, mit dem er sich hin und wieder, von Mann zu Mann, austauschen kann? Mägli zieht an seiner Zigarette. «Seit rund 30 Jahren stehe ich an der Spitze meines eigenen Unternehmens. Ich bin es gewohnt, allein zu sein. Ich brauche niemanden, der mich auf der Arbeit lobt.» Eine sehr männliche Antwort zum Abschied. Ob Mägli einen wie sich selbst als Angestellten beschäftigen würde, bleibt am Ende offen. ■
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BILD: ANDREA GANZ
Le mot noir Buffet ohne Paul Kürzlich in einer handverlesenen Sonntagsmatinee: «Haben Sie das Buffet gesehn?», raunt mir ein Sitznachbar im stockdunklen Vorführraum zu. «Ähm, nein …», muss ich zugeben, weil der Hund nicht aufstehen und Pipi machen wollte und ich deswegen knapp dran war. «Käsebällchen?», hilft mir der Typ auf die Sprünge. «Klar, doch ich weiss, wie die aussehen!», flüstere ich zurück. «Und die Krabbenpastetchen?» «Ähm, sicher!» Inzwischen wird es auf der Leinwand spannend. Gekonnt legt der Dokufilmer Bilder von Paul Gaugin in die genau gleiche Landschaft, die der Franzose damals gemalt hatte. Eine tolle Idee. «Die gefüllten Artischoken?», gräbt der Sitznachbar weiter. «Artischocken, ein ähm Gemüse, das in der Scholle wächst, ähm ja … schon.» «Sie wissen es nicht!» «Ich weiss es
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nicht?» «Sonst würden wir jetzt über das Tomatensouflée reden!» Okay, eins zu null für den Pirelli im blauen Hemd. Der Sitznachbar fängt an, mich zu scannen. «Wer hat Sie überhaupt eingeladen?», will er wissen. «Ich springe für eine Freundin ein», säusle ich zuckersüss. «Sie dachte, ich würde mich amüsieren.» Und nach einer kleinen Kunstpause, offensiv: «Wussten Sie, dass Gaugin Banker war, bevor er zur Malerei konvertierte? Hat seiner Frau nicht gefallen, der Jobwechsel.» «Die Thunfischchen könnten ruhig ein bisschen grösser sein», geht es unbeirrt weiter. «Und warum die immer diese unsäglichen Satay-Spiesschen auffahren, das ist inzwischen so was von alt! Die überbackenen Shrimps! Weiss doch keiner, wohin mit den Schwänzen!» Okay, Zeit für einen Sitzplatzwechsel. Allerdings nur in der Theorie, denn der Saal ist proppenvoll. «Sie sind eine von diesen freudlosen Essern! Die nichts geniessen können, richtig? Die keine Freude am Leben haben!», rumpelt das blaue Hemd weiter. «Häschen, Sie haben recht!», werde ich jetzt doch etwas grob. «Ich mache grad einen auf Trennkost, okay?» «Was ist denn das für ein Mist? Warum sollte man in seinem Leben etwas trennen?» «Vielleicht, weil ich nicht verstehe, warum ich in meinem Bikini in letzter Zeit aussehe wie ein labriges Pommes Frites?», informiere ich ihn, den Blick auf die Leinwand geheftet. Das müsste ich beim
Bikinihersteller eigentlich reklamieren. «Trennkost ist auch von gestern! Wie diese Spiesschen! … Hatten diese Frauen da auch nicht nötig», bemerkt der Typ jetzt zum ersten Mal, dass da ein Film läuft. «Da gab es jede Menge von diesen Dingsda Tüchern, die die sich ähm da umgewickelt haben und sie haben … lange, lange Haare!» Aha, ein Frauenkenner. «Was schlagen Sie vor?», zische ich zurück: «Dass sich das Pommes Frites ein Zelt überwirft und in den Süden zieht?» «Pommes Frites! Machen Sie sich lieber ans Tomatensouflée! Fast Food ist Gift für den Körper!», triumphiert es neben mir. Paul Gaugin rückt zunehmend in die Ferne. «Können wir das Buffet jetzt beenden?», versuche ich eine friedliche Lösung. Aber nada. «Die Fleischbällchen, die kleinen Lammracks! Sie sehen doch nur die Chips! Wenn ich mit Ihnen fertig bin, werden Sie endlich wissen, was ein anständiges Buffet ist!» Ich atme tief ein und wieder aus. Okay. «Vielleicht», hole ich aus. «Aber wenn ich mit Ihnen fertig bin, schaffen sies nicht dorthin.» Jetzt ist das Hemd k.o. «Warum sehen Sie sich nicht den Film an!», starrt es beleidigt auf die Leinwand. «Da kann eine Frau nur lernen!»
DELIA LENOIR LENOIR@HAPPYSHRIMP.CH ILLUSTRATION: IRENE MEIER (IRENEMEI@GMX.CH) SURPRISE 224/10
Theater «Lern Deutsch, du Opfer» Im Theaterprojekt «fremd?!» bringen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ihren Alltag auf die Bühne. Das stärkt das Selbstbewusstsein – und hält Lehrern, Eltern und dem Publikum den Spiegel vor.
Im Klassenzimmer der 3D geht es rund: Unter lautstarker Diskussion wird eine Rechenaufgabe gelöst. Ein Mädchen versucht halbherzig, sich aus dem Schwitzkasten zu befreien, in dem es sein Sitznachbar gefangen hält. Auf einem der Pulte wird ein aus Holzklötzchen gebauter Turm zum einstürzen gebracht. «Ruhe», ruft Anina Jendreyko, Leiterin des transkulturellen Theater- und Bildungsprojekts «fremd?!». Und Schüler Jamil flüstert: «Jetzt machen wir Improvisation.» Der 14-Jährige rückt seine Brille zurecht. «Wir proben nämlich kein Theaterstück, das es schon gibt: Unseres ist selbst gemacht.» Jendreyko nickt: «Alle, die bei der Vater-Sohn-Improvisation dabei sind, gehen bitte in den Proberaum.» Ein Tross Buben verlässt das Klassenzimmer. «Wir machen hier kein Schultheater», stellt Jendreyko klar. Die 43-jährige Regisseurin und Schauspielerin ist Initiantin des Basler Projekts «fremd?!», das dieses Jahr zum vierten Mal stattfindet. «Wir proben zwar im Klassenverband, aber das Stück wird auf den Bühnen professioneller Theaterhäuser aufgeführt.» «fremd?!» richtet sich an Klassen in Schulhäusern, wo mehrheitlich Kinder mit Migrationshintergrund und solche aus bildungsfernen Familien zur Schule gehen: In diesem Jahr werden drei Klassen aus drei Schulhäusern je ein Stück aufführen. «Fast alles Jugendliche, denen die Gesellschaft bereits den Defizit-Stempel aufgedrückt hat», stellt Jendreyko fest und bläst sich eine braune Haarsträne aus der Stirn: «Dabei haben die Jugendlichen auch enorme Ressourcen. Viele sprechen mehr als zwei Sprachen und bewegen sich gekonnt in verschiedenen Kulturen.» Die Schülerinnen und Schüler der 3D des Dreirosenschulhauses kommen aus der Türkei, dem Libanon, aus Albanien, Serbien, Spanien und der Schweiz. In Zusammenarbeit mit professionellen Schauspielerinnen, Tänzern und Musikern mit Migrationshintergrund entwickeln sie Szenen, schreiben Texte und Raps, erarbeiten Choreografien – und bringen schliesslich auf die Bühne, was sie in ihrem Alltag erleben: In der Familie, in der Schule, im Ausgang. «Ich spiele kein Mädchen, sondern einen Jungen», sagt etwa Laura aus Serbien. Er rauche, trinke und rede unanständig: «Gestern habe ich so eine Schlampe durchgenommen.» Oder: «Lern erst mal Deutsch, du Opfer». Laura nickt viel sagend: «Solche Dinge hört man oft.» Ihre Tischnachbarin Zeynep mischt sich ein: «Ich sage auf der Bühne Sätze, die ich oft von meinen Eltern höre. Einmal in meiner Muttersprache, einmal auf Schweizerdeutsch: Zeynep, lern Deutsch! Zeynep, sei gut in der Schule! Zeynep, geh jetzt Putzen!» Die Türe zum Klassenzimmer geht auf: Jamil erklärt, dass die VaterSohn-Improvisation nun vorbereitet sei. Er spielt den Sohn, der am Computer sitzt und zockt. Sein Vater liegt auf dem Sofa und zappt durchs TV-Programm. Dann erhebt sich der Vater, streckt den Rücken SURPRISE 224/10
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VON MENA KOST
Schülerinnen und Schüler der 3D: Bald werden sie ihren Alltag auf der Bühne zeigen.
durch, geht zu seinem Sohn: «Räum dein Zimmer auf!» – «Später …» – «Nein, mein Sohn, sofort!» So geht das hin und her, und irgendwann, klatsch, gibts eine Ohrfeige für den Sohn. «Fick dich», sagt dieser – und die Buben bekommen einen Lachanfall. «Die Ohrfeige üben wir noch», sagt Anina Jendreyko. Und: «Sagst du wirklich ‹fick dich› zu deinem Vater?» Jamil schüttelt den Kopf. «Aha», sagt Jendreyko. «Machen wir die Szene nochmals. Und diesmal sagst du nur, was du auch zu deinem Vater sagen würdest.» «fremd?!» bringt nicht nur das Thema Migration und Chancengleichheit auf die Bühne, sondern auch den Jugendlichen und ihre Eltern die Institution «Theater» näher: Zehn Mal besucht die 3D während der Projektzeit gemeinsam ein Theaterstück, zweimal in Begleitung der Eltern. «Für viele der erste Theaterbesuch überhaupt», so Jendreyko. Aber kurz vor der Premiere steht das eigene Stück im Vordergrund: «Ein Theater auf die Bühne zu bringen – besonders, wenn das eigene Leben als Grundlage dient – ist eine grosse Herausforderung.» Die Aufführungen am Schluss seien ein wichtiges Erfolgserlebnis, sagt Jendreyko: «Ausserdem hält das Gespielte den Kollegen, den Lehrern, den Eltern und der Gesellschaft den Spiegel vor.» ■
Premiere der Klasse 3D, «Dreirosen»: 27. Mai, Vorstadttheater Basel. Premiere der Klasse 3A, «Gündülü»: 26. Mai, Theaterfalle Basel. Premiere der Klasse 3A, «Kleinhünigen»: 27. Mai, Kaserne Basel. Weitere Aufführungsdaten: www.projektfremd.ch. Auftritte am Schweizer Theaterfestival für junges Publikum in Basel: www.festivalspot.ch
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Kulturtipps
Starke Bande: Schlussendlich sind wir alle gleich. Sister-Act: CocoRosie packen ihre Träume in versponnene Musik.
Buch Ödipus global Multikulti, Parallelgesellschaften, Minarettverbot … Der Kampf der Kulturen macht Schlagzeilen und beflügelt die Stammtische. Inmitten des medial aufgeheizten Gerangels sucht der Ethnologe Christoph Antweiler nach dem, was uns verbindet.
Musik Versponnenes Wunderland Auch auf seinem vierten Album «Grey Oceans» werkelt das Duo CocoRosie unverzagt und unverdrossen an seinem versonnenen Pop-Folk. Musik ist das Einzige, bei dem sich die Schwestern Bianca und Sierra Cassidy nicht gleich in die Haare geraten.
VON CHRISTOPHER ZIMMER VON MICHAEL GASSER
Der Ödipuskomplex findet sich in allen Kulturen der Welt. Ausgerechnet! Sind wir also doch nicht so verschieden? Sind «die Anderen» doch nicht so anders? Gibt es kulturelle Gemeinsamkeiten? Ja, behauptet der Ethnologe Christoph Antweiler in seinem Buch «Heimat Mensch». Und konfrontiert uns gleich zu Beginn mit einer Liste von 73 sogenannten Universalien, von Abstillen über Arbeitsteilung, Familie, Geburtshilfe, Grussformen, Liebeswerbung, politischer Führung bis zu Schenken, Sex und Sprache. Zwölf dieser Universalien fühlt Antweiler auf eine erfrischend unkonventionelle und verständlich geschriebene Weise auf den Zahn. Sei es, dass er seine eigene akademisch-rituelle Berufung als Uni-Dozent den Initiationsritualen der australischen Aborigines gegenüberstellt, oder dass er globale Vermarktungsstrategien anhand westlicher und islamischer Barbievarianten aufzeigt. Gemeinsamkeiten finden sich oft an unerwarteter Stelle. Kein Wunder, denn, so Antweiler, «uns verbindet viel, weil alle Gesellschaften ähnliche Probleme lösen müssen». Soziale Hierarchien, das «Die-da-Oben und Die-da-Unten» existieren überall. Nicht weniger der Umgang mit Nacktheit und Sexualität. Egal ob Burka oder der Penisköcher der Eipo in Neuguinea, Tabus gibt es in allen Kulturen. Auch dass alle Menschen sprechen können, ist keine triviale Binsenweisheit, denn wir können einander zwar nicht immer verstehen, doch zumindest verständigen. Antweiler ist davon überzeugt, dass die Gemeinsamkeiten der Kulturen fundamentaler sind als ihre Verschiedenheiten. Und dass dieser Blick für das Gemeinsame eine Chance ist. Dann nämlich, wenn die kulturellen Verschiedenheiten als Reichtum erkannt werden und nicht als Munition für Konflikte dienen, in denen die Kultur nur als Deckmäntelchen für politische und kommerzielle Interessen herhalten muss. Christoph Antweiler: Heimat Mensch. Was uns alle verbindet. Murmann Verlag 2009. Fr. 31.50.
Hauptsache ausgefallen: Sierra und Bianca Cassidy wollen und können sich nicht damit begnügen, einfach irgendwelche Lieder zu schreiben. Die beiden Schwestern, die getrennt aufwuchsen und sich 2003 eines schönen Nachmittags in Paris wieder trafen, wo Sierra Operngesang studierte. Statt lange Schwätzchen zu halten, musizierten sie gemeinsam. Ein Partyauftritt führte unversehens zu einem Plattenvertrag, und jetzt veröffentlichen die beiden Amerikanerinnen mit «Grey Oceans» bereits ihr viertes Album. Erdacht und eingespielt wurde es an den verschiedensten Orten, von Buenos Aires über Berlin bis Melbourne. Wiederum hätten sie und Bianca beim Entstehungsprozess im Studio nicht allzu viele Worte verloren, erklärt Sierra Cassidy im Interview. «Beim Aufnehmen haben wir vielmehr versucht, unsere Köpfe abzuschalten.» Für sie und ihre Schwester sei es schon immer eine besondere Herausforderung gewesen, die Grenzen ihrer Musik, die sie auf der Bühne häufig mit eigenen Kunstvideos anreichern, weiter auszuloten. Insgesamt 45 Songs hätten dieses Mal das Licht der Welt erblickt. «So viele, dass wir uns erst ein wenig verloren fühlten.» Es folgte der langsame Prozess des Weglassens – bis noch elf Lieder übrig waren. Da sei es ein Gutes gewesen, dass sie mit Bianca über ihre Musik nie streiten würde. «Sobald es aber um andere Themen geht …» Wie frühere Platten von CocoRosie ist auch «Grey Oceans» von zarter Verspieltheit durchdrungen, es zirpt und wuselt, nicht wild, eher versponnen. Als ob man eine klangliche Version von «Alice in Wonderland» sachte durch den Fleischwolf drehen und dann äusserst liebevoll anrichten würde. Während «Hopscotch» zwischen überkandidelter RagtimeKomposition und opernhaften Trip-Hop-Einschüben mäandert, gibt sich «Undertaker» zu gleichen Teilen als schwer verträumte Klavierballade und als sphärischer Indian-Folk. CocoRosie reihen ihre Arbeit nicht unbedingt unter Musik ein, eher schon handle es sich um eine akustische Untermalung von Bildern, erklärt Sierra Cassidy. Egal mit welchen Medien das Duo auch gerade wirbelt, ihr Zugang ist durchwegs ein unschuldiger. Ihr Schaffen wirkt immer ein wenig weltfremd, wie von einer anderen Dimension, und gerade deshalb verzücken CocoRosie so sehr. CocoRosie: «Grey Oceans» (Souterrain Transmissions/Irascible).
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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
Das Paradies auf Erden: Die Schrebergärtner machen Pause.
Kino Jenseits von Bümpliz Schrebergärten gehören zur Schweiz wie die Berge und die Schokolade. «Unser Garten Eden» ist eine witzige, poetische und sensible Begegnung mit diesem multikulturellen Mikrokosmos. VON MICHÈLE FALLER
Hügelige Wiesen und Felder, Strommasten und Wolken am Sommerhimmel. Dazu Akkordeonmusik, die aus einer anderen Weltgegend stammt. Blumen- und Gemüsebeete und kleine Häuschen; darüber flattern Fahnen aus Portugal, Spanien, Italien, der Schweiz. Der Mann mit dem beträchtlichen Bauch mimt mit Hilfe seiner Bierflasche ein Schiffshorn, ein anderer tut eine geheimnisvolle Öffnung im Boden auf, um grinsend ein kühles Bierchen zu bergen. Eine Frau an einem blätterumrankten Tisch beschreibt lächelnd die schöne Stimmung an einem Sommerabend. «Wie eine Umarmung, wie eine warme Decke.» Der Dokumentarfilm «Unser Garten Eden» widmet sich einer Institution, die untrennbar mit der Schweizer Identität verbunden ist: dem Schrebergarten. Heiter, witzig, fröhlich – so werden die Protagonisten der Familiengärten im Berner Bottigenmoos nahe Bümpliz eingeführt. Der Sprüche klopfende Hans, der Präsident der Schrebergartenanlage Giuseppe Assante, der mit Krawatte die Blumen giesst und sich scherzhaft mit Präsident Bush vergleicht, das Ehepaar Margrit und Mohammed BarkaPfister, die seit über 30 Jahren gärtnern, das Schweizer Ehepaar Grossrieder. Und alle beschreiben sie den Garten als Zufluchtsort, als Feierabendoase, als «das Beste in der Schweiz», wo man die 40 Arbeitsstunden oder die traurige Vergangenheit etwas vergessen kann. Es ist einerseits ein irrsinnig komischer Film – wenn etwa all die Verbots-, Hinweis- und Aufrufstafeln ins Blickfeld rücken oder der Vereinsvorstand mit Metermass bewaffnet und von gewichtiger Musik untermalt die Gartenanlage durchschreitet, um zu grosse Tomatenhäuschen zu orten. Überhaupt ist die Akkordeonmusik von Mario Batkovic grossartig und fängt die vielfältigen Stimmungen genau ein. Doch es gibt auch leise, melancholische und zuweilen tragische Facetten: das Heimweh der Einwanderer, oder Hans’ Einsamkeit, die hinter seinen flotten Sprüchen aufscheint. Das grosse gemeinsame Fest am Schluss kann als Sinnbild für das Funktionieren des Mikrokosmos Schrebergartenanlage stehen. Auf engstem Raum leben verschiedene Kulturen und Religionen zusammen, singen und feiern, und auf dem Grill – dem heimlichen Protagonisten des Films – drehen einträchtig ein Spanferkel und ein Schaf nebeneinander.
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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
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Kaiser Software GmbH, Bern
03
Responsability Social Investments AG, Zürich
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chefs on fire GmbH, Basel
05
Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten
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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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TYDAC AG, Bern
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KIBAG Strassen- und Tiefbau
11
OTTO’S AG, Sursee
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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen
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Canoo Engineering AG, Basel
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Lehner + Tomaselli AG, Zunzgen
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fast4meter, storytelling, Bern
16
Brother (Schweiz) AG, Baden
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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf
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IBZ Industrie AG, Adliswil
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Zeix AG, Zürich
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Zürcher Kantonalbank, Zürich
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Axpo Holding AG, Zürich
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Experfina AG, Basel
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AnyWeb AG, Zürich
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muttutgut.ch, Lenzburg
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Mobilesalad AG, Bern
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag! Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
«Unser Garten Eden. Geschichten aus dem Schrebergarten», Regie: Mano Khalil, 97 Min., Schweiz 2009, derzeit in den Deutschschweizer Kinos. 224/10 SURPRISE 224/10
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BILD: NORA DAL CERO
Ausgehtipps Auf Tour Katharsis mit Kuscheldecke So ein Hype hat auch sein Gutes. Seit einigen Jahren erspielen sich immer wieder junge Schweizer Sängerinnen die Gunst von Publikum und Presse. Das klingt mal mehr, mal weniger spannend, doch die jüngste Entdeckung in der Person von Fiona Daniel gehört klar in erstere Kategorie. Ihr Debüt «Drowning» ist ein fesselndes Album zwischen dunklem Folk wie ihn Alela Diane oder Ane Brun beherrschen, ätherischem Drama à la PJ Harvey und spukhaften Suiten im Stil von Tori Amos. Piano und Gitarre geben den Ton an, daneben spielen auch Xylophon, Cello und Autoharp tragende Rollen. Den Atem aber raubt einem die Stimme der Zürcherin, die mit gerade mal 22 souverän zwischen Kuscheldecke, Kammermusik und Katharsis pendelt. Die anstehenden Konzerte dürften die letzten im heimeligen Rahmen kleiner Klubs sein. (ash) 14. Mai, 21 Uhr, Parterre, Basel; 16. Mai, 20 Uhr, Seebad Enge, Zürich; 20. Mai, 20 Uhr, Sous Soul, Bern.
BILD: ZVG
Kammermusik am Küchentisch: Fiona Daniel.
Anzeigen: Musik verbindet Völker.
Alt St. Johann Aus voller Kehle Die Jodler aus Wattwil haben ihren Auftritt nach der Gruppe aus dem Himalaya und vor der Formation aus der Mongolei. Beim Natursimmenfestival gehts ums Singen, egal wo: Das Konzertprogramm vermischt Alpkultur mit russischen Kosakenweisen, und südafrikanische Sänger treffen auf Kolleginnen aus Norwegen. Beim Musizieren werden Gemeinsamkeiten aber auch Eigenheiten der Gesangskunst aus den verschiedensten Regionen hörbar. (juk) Klangfestival «Naturstimmen», 12. bis 24. Mai, Alt St. Johann, Programm: www.klangwelt.ch
— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 — 26
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BILD: ZVG
Aarau, Basel, Biel, Kreuzlingen, Luzern, Zürich, Zug Achtung, fertig, rollen Frühling, endlich! Alles strebt nach draussen, der Bewegungsdrang ist enorm und das Bedürfnis, zusammen mit anderen den Start in die warme Jahreszeit einzuläuten, riesig. Alle diese Bedürfnisse können beim Inlineskaten wunderbar befriedigt werden. Wer sicher freie Bahn haben möchte, sucht sich den Monday Night Skate in seiner Nähe: An den organisierten Ausfahrten werden Strassen gesperrt und Helfer passen auf, damit niemand unter die Rollen gerät. Blutigen Anfängern sei aber trotzdem von der Teilnahme abgeraten. (juk) Monday Night Skate, nächste Daten in Basel: 17.5./30.5, Start jeweils um 20 Uhr, Theodorskirchplatz; Zürich: 17.5./30.5, Start jeweils 20 Uhr, Bürkliplatz; Provisorische Daten für Aarau: 17.5./7.6., für Zug: 31.5./7.6.; noch keine Daten für Luzern, Biel, Kreuzlingen, Infos zur Durchführung unter www.nightskate.ch
BILD: ISTOCKPHOTO
Freie Fahrt: Beim Monday Night Skate kein Problem.
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Reflektieren über die Liebe.
Basel Liebe im Kopf Olten Lausanne Zürich Genf Bellinzona Alternative Bank Schweiz AG Amthausquai 21 Postfach, 4601 Olten T 062 206 16 16 www.abs.ch, contact@abs.ch
Man kann die Liebe auch ganz rational angehen. Zum Beispiel im Literaturhaus Basel, wo sich Fachleute einen Frühlingsabend lang der Herzsache annehmen: Emotionsforscher Frank Wilhelm von der Uni Basel präsentiert die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Phänomen Liebe als Ganzes. Literaturwissenschaftlerin Pia Reinacher gibt Auskunft über die Leidenschaft in der zeitgenössischen Literatur. Und Schriftsteller Martin R. Dean berichtet über die Veränderungen im Zusammenleben von Mann und Frau. Selbstverständlich erörtern die Fachleute dann auch die Frage, welchen Einfluss wissenschaftliche Erkenntnisse – und Reflexion an sich – auf unser Liebesleben haben. (mek) Veranstaltung zum Thema «Liebe», 19. Mai, 19 Uhr, Literaturhaus Basel, www.literaturhaus-basel.ch
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Verkäuferporträt «Bei der Arbeit vergesse ich meine Probleme» BILD: ZVG
Die 57-jährige Saha Alisevic hat im Bosnienkrieg fast ihre gesamte Familie verloren. Seit einigen Jahren verkauft die in Münchenstein/BL lebende Bosnierin Surprise. Die Arbeit gibt ihrem Leben Sinn. AUFGEZEICHNET VON DENISE ANANIA
«In Bosnien habe ich mit meiner Familie auf dem Land gewohnt und als Bäuerin gearbeitet. Wir hatten Kühe und Kleinvieh. Es ging uns gut und wir waren eine glückliche Familie. Bis zum Krieg. 1992 wurde fast meine ganze Familie ermordet. Ich verlor meinen Mann, meinen Bruder, meinen Vater, und auch mein Sohn wurde umgebracht. Seit dem ist nichts mehr so, wie es vorher war. Ich habe den Verlust meiner Familie nie überwunden und wurde durch den Vorfall psychisch krank. Ich weinte nur noch und konnte mit niemandem mehr reden. Es war mir unmöglich über das Ganze, das geschehen war, zu reden. Ich konnte und kann bis heute das Geschehene nicht verarbeiten. Ich habe Herzrasen, bin kurzatmig, leide an Schlaflosigkeit: Meine Nerven sind kaputt. Ich konnte an dem Ort, an dem meine Angehörigen umgekommen sind, nicht mehr leben. Deshalb kam ich 2003 in die Schweiz und beantragte Asyl, das ich auch erhalten habe. Nach verschiedenen Asylheimaufenthalten in der Westschweiz bin ich dann im Raum Basel gelandet. Hier in der Schweiz hat sich auch endlich jemand um meine schlechte Gesundheit, meine psychischen und physischen Leiden, gekümmert. Insgesamt lag ich rund fünf Monate im Kantonsspital in Liestal. Wieder zu Hause, hat mir eine gute Bekannte von Surprise erzählt. Sie sagte, dass ich mein eigenes Geld verdienen und so auch wieder unter Menschen kommen und mich mit den unterschiedlichsten Leuten unterhalten könne. Meine Bekannte hat mich dann eines Tages mit nach Basel und ins Büro von Surprise genommen. Und seither verkaufe ich das Strassenmagazin. Das mache ich nun schon seit fünf Jahren. Surprise ist sehr wichtig für mich. Ich liebe meine Arbeit bei Surprise. Ich kann etwas für meinen Lebensunterhalt dazu verdienen. Ich kann mir selber helfen und bin nicht nur auf andere angewiesen. Ausserdem vergesse ich während der Arbeit meine Probleme. So muss ich wenigstens einige Stunden am Tag nicht über die schrecklichen Dinge, die passiert sind, nachdenken. Und mit dem Verkaufen der Hefte möchte ich auch meine Mutter in Bosnien unterstützen. Sie ist die Einzige, die ich noch habe. An manchen Tagen holt mich die Vergangenheit wieder ein und meine gesundheitlichen Probleme werden schlimmer. An diesen Tagen kann ich nicht arbeiten, auch wenn ich dies eigentlich gerne tun würde. Aber es geht nicht. Ich bin dann sehr traurig. Vor wenigen Wochen wurden in Bosnien die sterblichen Überreste meines Sohnes gefunden. Endlich – nach all den Jahren. Das ist sehr schwer für mich. Eigentlich sollte man meinen, ich könne nun Abschied nehmen. Aber sie haben nicht das ganze Skelett entdeckt,
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sondern nur einige wenige Knochen. Wenn der ganze Körper gefunden worden wäre, könnte ich vielleicht besser damit abschliessen. So gehen mir wieder neue Gedanken durch den Kopf: Ich überlege, was ihm wohl genau zugestossen ist. Das ist schrecklich. Allerdings freue ich mich auf das nächste Jahr. Dann werden Bosnier aus aller Welt in Bosnien zusammentreffen und in einer Zeremonie ihre unterdessen gefundenen Angehörigen anständig begraben. Auf diesen Tag warte ich sehnsüchtig. Dieser Tag ist wichtig – was danach kommt, ist nicht mehr wichtig. Nach Bosnien möchte und kann ich nicht zurück. Dort habe ich nichts, kein Haus, gar nichts. Ich habe dort keine Heimat mehr. Ich möchte auch in Zukunft in der Schweiz leben. Hier kann ich wenigstens arbeiten. Und das tue ich wirklich gerne.» ■ SURPRISE 224/10
Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte ber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise-Sozialarbeiterinnen betreut, individuell begleitet und gezielt gefördert. Dazu gehört auch, dass sie von Surprise nach bestandener Probezeit einen ordentlichen Arbeitsvertrag erhalten. Mit der festen Anstellung übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.
Starverkäufer BILD: ZVG
Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich sel-
Als Götti oder Gotte ermöglichen Sie einer Strassenverkäuferin oder einem -verkäufer eine betreute Anstellung bei Surprise und damit die Chance zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben.
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Tatjana Georgievska Basel
Jela Veraguth Zürich
Kurt Brügger Basel
Josef Vogel aus Wabern nominiert Asmelash Mihreteab als Starverkäufer: «Asmelash Mihreteab ist immer sehr freundlich, freut sich stets, bekannte Gesichter zu grüssen, während er diskret Surprise anbietet. Irgendwann werde ich hoffentlich lernen, wie man seinen Namen richtig ausspricht. Ich wünsche ihm weiterhin viele Kunden und viel Glück bei der Wohnungssuche. Toi toi toi und alles Gute.»
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Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welchen Verkäufer Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41+61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch
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1/2 Jahr: 4000 Franken
1/4 Jahr: 2000 Franken
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Strasse
PLZ, Ort
Datum, Unterschrift
1 Monat: 700 Franken
224/10 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 224/10
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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.
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Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.
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Datum, Unterschrift 224/10 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch
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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel, www.strassenmagazin.ch Geschäftsführung T +41 61 564 90 63 Fred Lauener, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Öffnungszeiten Sekretariat Mo–Do 9–12 Uhr, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70 Fred Lauener (Leitung), Reto Aschwanden, Julia Konstantinidis, Mena Kost, Thomas Oehler (Sekretariat) redaktion@strassenmagazin.ch Freie Mitarbeit Denise Anania, Basile Bornand, Michèle Faller, Andrea Ganz, Michael Gasser, Luc-François Georgi, Mathias Irle, Delia Lenoir, Irene Meier, Stefan Michel, Anne Morgenstern, Christof Moser, Dominik Plüss, Isabella Seemann, Roland Soldi, Udo Theiss, Priska Wenger, Elisabeth Wiederkehr, Christopher Zimmer Korrektorat Alexander Jungo Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 77 Therese Kramarz, Mobile +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch
Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.
Marketing T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer Vertrieb T +41 61 564 90 81 Smadah Lévy (Leitung) Vertrieb Zürich T +41 44 242 72 11 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, Mobile +41 79 636 46 12 r.bommer@strassenmagazin.ch Vertrieb Bern T +41 31 332 53 93 Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, Mobile +41 79 389 78 02 a.maurer@strassenmagazin.ch Betreuung und Förderung T +41 61 564 90 51 Rita Erni Chor/Kultur T +41 61 564 90 40 Paloma Selma Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Carlo Knöpfel Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 224/10
Sie kauften ein Stadion Immer mehr sozial Benachteiligte finden Freude am Sport: 15 Teams streiten seit März dieses Jahres um den Schweizermeister-Titel in der Surprise Strassenfussball-Liga, eine Rekordzahl. Um die Begeisterung mit der passenden Infrastruktur unterstützen zu können, hat Surprise eine eigene Street-Soccer-Arena gekauft – mit der Hilfe vieler Gönner und Gönnerinnen, die einen oder oft gleich mehrere der 352 Quadratmeter à 100 Franken gesponsert haben.
Dankeschön! Sie alle haben den Fussballern der Surprise Strassenfussball-Liga ein eigenes Stadion ermöglicht: Adrian Basset Adriana Beck Alice Greuter-Wehrli Amaya Wittwer Andrea von Bidder Annalena und Valentina Schor Anneliese und Bernhard Aufdereggen Annemarie Humm Anton Wildhaber Axl und Susi Beatrice Kunz Beatrice Monnier Bernard und Leo Wandeler Bettina und Florian Thalmann Brigit Latif Bruno Zimmermann Céline Dey Christian Kaufmann Christian Rüegg Christoph Gyger Christoph Pachlatko Claudia Plaz Clown Pinoc Cyril Hilfiker Daniel KehlDaniela Dendena David Billeter Denise Maurer Didi Schneider-Gabriel Dieter Braun Dieter Ernst Dori und Peter EINTRAHCT MOTORHEAD − since01 Elisabeth Caspar Esther Marty Esther und Martin Vogt-Zimmermann Eveline Maurer F. Passanante und Eva Reich Fabio Hilfiker Familie Herren Minder Familie Kvasnicka Familie Sahli-Schwarz Familie Sorg Voegeli Familie Stettler Francesca Bionda Fred Braun Fred Lauener Fredi Buchmann Geiser Gérald Berthet Hans-Peter Kübli Hanspeter Latour Heidi Sigrist Heleen Stoll Hoflenz Isabel und Martin Jordl-Ertler Jolanda Zimmer jpg-webmaster.com Jürg Bohnenblust Jürg Oberli Kaspar Häberling Katharina Striebel-Burckhardt Kerstin Press Killerbarbie LEP Liliane Müggenburg Loop Musikzeitung M. Guidon maleho Marc Locatelli Marcel Leuenberger Margrit und Hans Portenier Maria Teresa Bünnagel Marianne Hässig Kessler Markus H. Kipfer Martina Fäh Mats Loser Matthias Pfister Matthias Wächter Meret, Joris, Käthi und Stefan Michael Husmann Michael Weschmann Michel Seuret-Allemann Mirjam Sick Mona Petri Monika Hall Nicole und Heinz Mathys Nik Zuber Oliver Biedert Patrick Groeber Paul Castle Peter Dyer-Smith Peter Emch Philipp Schmid Pia Schönenberger Psychiatrische Spitex Raphael Huber Regula Hunziker René Riva Rita Roedel Röne Rüegg Roland Achini Roland Frank R. und S. Niederhäuser Sabina Stör Büschlein Schmüsi Selina Burri sim und brian Simon Matthias Schmocker Sinan Geissmann Stephan Kussmaul und Irene Wegmüller St. Marbet Thomas Arnold Thomas Ernst Thomas Gautschi Thomas Hensel Till Hofstetter Tonino Baredi Trudi und Kurt Rüegg Vincent Sohni Wohnenbern Willy Berger Xenia und Martin Bahnmüller SURPRISE 224/10
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BEGEISTERT HERZ UND VERSTAND.
Der neue Hyundai ix35. Ab CHF 29 990.–* Der neue Hyundai ix35 vereint Schönheit und Effizienz. Das moderne, dynamische Fluidic Sculpture Design lässt Ihr Herz höher schlagen. Die umfangreiche, innovative Komfort- und Sicherheitsausstattung garantiert Ihr Wohlbefinden. Hocheffiziente Motoren- und Getriebekombinationen** mit bis zu 184 PS/ Energieeffizienzkategorie A begeistern Ihren Verstand ebenso wie das attraktive Preis-Leistungs-Verhältnis. * Sämtliche Preisangaben verstehen sich als unverbindliche Preisempfehlungen, inkl. MwSt. 2.0 Comfort ab CHF 29 990.–, abgebildetes Modell: 2.0 Premium ab CHF 37 990.–. ** z.B. 2.0 CRDi 184 PS: Treibstoff-Normalverbrauch gesamt: 6.1 l/100 km, CO2-Ausstoss gesamt: 158 g/km, Energieeffizienz-Kat. A. Durchschnittlicher CO2-Ausstoss aller Neuwagen in CH: 204 g/km.
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