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Doris De Agostini

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Medizin

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In Memoriam Doris De Agostini

Ein Anti-Star mit einer magischen Aura

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Für alle war die Nachricht ein Schock: Doris De Agostini lebt nicht mehr. Ein paar Monate nach Jacques Raymond verlor die Ski-Schweiz eine weitere Persönlichkeit, die den Skisport auf ihre Weise nachhaltig geprägt hat. Eine heimtückische Krankheit hat sie, erst 62-jährig, binnen weniger Wochen aus dem Leben gerissen.

Im Mai kondolierte sie ihrer ehemaligen Teamkollegin Erika Hess zum Hinschied ihres Gatten Jacques. Jetzt ist sie selber nicht mehr unter uns. Erika Hess spricht von einem «wunderbaren Menschen». Es ist schwierig, Worte zu finden, die Doris De Agostini gerecht werden. Sie war eine grossartige Sportlerin, achtfache Weltcupsiegerin und Disziplinensiegerin in der Abfahrt (1983) sowie WM-Medaillen- Gewinnerin (1978 in Garmisch). Aber vor allem war sie eine Frau mit aussergewöhnlichen menschlichen Qualitäten, feinfühlig, empathisch, warmherzig – und mit einer faszinierenden Ausstrahlung, ein Mensch, den man einfach gerne hatte.

Bernhard Russi: «Unsere Prinzessin»

Der einstige Teamkollege Bernhard Russi bezeichnete sie als «unsere Prinzessin». Königin habe sie nie sein wollen. Wie sie überhaupt nie das Rampenlicht suchte und ihr jegliche Koketterie fremd war. Obwohl die grossgewachsene, bildhübsche Tessinerin, wo immer sie auftrat, mit ihrer magischen Aura die Aufmerksamkeit und Blicke auf sich zog – schon als kleines Kind. Als Elfjährige durfte sie Russi nach dessen WM-Triumph in Andermatt einen Blumenstrauss überreichen. Andermatt beziehungsweise der Gotthardpass stand auch am Anfang ihrer Karriere. Um sich eine Ausrüstung zu beschaffen, arbeitete sie an einem Sommer während zweieinhalb Monaten als Souvenir- und Postkartenverkäuferin auf der Passhöhe. «Das war ein gutes Geschäft», erzählte sie einmal, «da es noch keinen Tunnel gab, mussten alle Autos den Gotthard-Pass überqueren.»

Verdienst für Skikauf eingesetzt

750 Franken habe sie verdient und damit ihre Traumski, ein Paar Head, kaufen können. 20 Franken seien noch übrig geblieben. Und dann der grosse Schreck: «Als ich auf die Bretter stand, konnte ich keinen Bogen mit ihnen fahren. Mit Verlust habe ich sie wieder verkauft.» Als sie später in einem Swiss-SkiKader Aufnahme fand, lief die Materialbeschaffung etwas einfacher – aber nach wie vor recht unkonventionell: «Meine Mutter und ich reisten, die Kaderliste in der Hand, mit dem Zug durch die halbe Schweiz und klapperten die Ski- und Bindungsfirmen ab. Da mein Vater Eisenbahner war, hatten wir glücklicherweise Freibillette.» Und so fuhr sie mit dem Zug und den SBB-Freibilletten später auch an die Skirennen. Oft verpasste sie vor lauter Gepäckschleppen von einem Perron zum andern die Anschlusszüge. Gleichwohl machte sie ihren Weg, stieg in den Weltcup auf und gewann, eben erst 17 geworden, in Bad Gastein gleich ihre allererste Abfahrt.

Die Musik spielte nicht für sie

Doch statt Freude setzte es Tränen ab. Es war ein Rennen mit Nebel, Wind und dichtem Schneefall. Einige Konkurrentinnen gaben ihr zu verstehen, dass sie von irregulären Verhältnissen profitiert habe. Sie weinte und wehrte sich: «Klar habe ich Glück gehabt. Aber es hätte ja auch jede andere mit einer hohen Nummer die Chance ausnützen können.» Und als dann nach ihrer Heimkehr nach Airolo die Musik spielte, Fanfaren ertönten und ein Feuerwerk abgebrannt wurde, glaubte sie, dass die Skiwelt komplett durchgedreht hat: «Jetzt übertreiben die aber total!» Bis sie bemerkte: Die Feier galt nicht ihr. Airolo feierte das 100-Jahr-Jubiläum des Gotthard-Durchstichs.

Airolo war kein Hotspot

Bisher war Airolo und das Tessin nicht als skisportlicher Hotspot bekannt. Doris De Agostini gehörte zu einer kleinen Gruppe von Skiverrückten, die dort mit einer unglaublichen Leidenschaft ihren Sport betrieben. Wenn im Tal kein Schnee mehr lag, zogen sie auf den Nufenenpass (2478 Meter über Meer) und präparierten zwischen der obersten und dritt- oder viertobersten Kehre eine Piste. Mit dem Auto, so Doris De Agostini, hätte sie dann jemand wieder hinaufgefahren: «Wir hatten ein Gaudi und kochten in geschmolzenem Schnee Spaghetti. Und wir hatten das Gefühl, gegenüber der Konkurrenz im Vorteil zu sein, weil wir so bis in den Juni hinein trainieren konnten.» Dieser bunten Truppe gehörte auch ein gewisser Pauli Gut an, Schulkollege von Doris und Vater von Lara, die – wie Michela Figini – später in die Spuren von Doris De Agostini trat.

Der Sieg in Bad Gastein

Nach ihrem Sensationssieg in Bad Gastein dauerte es einige Zeit bis zum nächsten Erfolg: «Ich hatte noch nicht die körperlichen und konditionellen Voraussetzungen. Mir fehlten Muskeln und Kraft.» Ein Kraftpaket wurde sie nie. Sie kompensierte das Manko mit Draufgängertum und unbändigem Kampfgeist, was in krassem Kontrast stand zu ihrem grazilen Äussern. Oft bezahlte sie ihren überbordenden Mut mit spektakulären Stürzen, erstaunlicherweise ohne sich jemals ernsthaft zu verletzen. Sie «erfand» das Entwarnungs-Handzeichen, mit dem sie jeweils am TV ihren Lieben und den Fans zu Hause signalisierte: «Es hat mir wieder nichts gemacht.» Zwei Jahre nach Bad Gastein bestätigte sie ihren Coup mit einer Bronzemedaille an den Weltmeisterschaften in Garmisch, neben LiseMarie Morerod (Zweite im Riesenslalom) die einzige Schweizer Auszeichnung – trotz Cracks wie den Olympiasiegern Russi, Hemmi, Nadig und Co. Zu Beginn der Achtzigerjahre folgte ihre grosse Zeit mit sieben weiteren Weltcupsiegen und dem Gewinn der kleinen Kristallkugel 1983. Danach trat sie als Nummer 1 der Welt zurück, im Alter von erst 25 Jahren.

Nach der Heirat zog sie sich komplett zurück

Auch private Überlegungen spielten eine Rolle. Seit sechs Jahren war sie mit Luca Rosetti, dem Eishockey-Internationalen von Ambri und dem ZSC, liiert und überlegte sich, eine Familie zu gründen. Sie heirateten und zogen von der Leventina nach Minusio um, wo Luca eine Stelle als Kultur- und Vermessungsingenieur fand, und wurden Eltern zweier Kinder, Andrea und Alessia. Doris De Agostini zog sich komplett aus der Skiszene zurück und widmete sich ganz der Familie. Jahrzehnte später besuchte sie auf Einladung ihrer einstigen Zimmerkollegin Ariane Ehrat, Tourismus-Direktorin im Engadin, in St. Moritz erstmals wieder ein Skirennen, und ausgerechnet jenes, das ihre Nach-Nachfolgerin Lara Gut gewann. Ihr Sohn Andrea kam von Davos, wo er als Bewachungsoffizier beim WEF engagiert war, ebenfalls nach ins Engadin. Und staunte, als um seine Mutter ein beträchtlicher Wirbel entstand. «Ich glaube», sagte sie damals, «ihm war gar nicht richtig bewusst, dass ich in diesem Sport mal eine Rolle gespielt habe, weil wir zuhause keine Filme oder Videos aus meiner Aktivzeit haben. Da hat er gespürt, dass ich in all der Zeit eigentlich nur für ihn, Alessia und die Familie da war.» Für beide war es ein sehr emotionales Erlebnis.

Schmerzlicher Verlust

Und Doris De Agostini sah auch, wie sich der Skisport verändert und entwickelt hat und kommerzialisiert worden ist. Erst nach ihrem Rücktritt, just ein Jahr später, erteilte die FIS die Erlaubnis für Privatsponsoring und persönliche Werbung, was vor allem jemand wie Pirmin-Zurbriggen-Manager Marc Biver bedauerte. Für ihn wäre das intelligente, mehrsprachige, attraktive und 1,83 m grosse SkiMannequin die perfekte Person für dieses Business gewesen – sofern sie denn überhaupt gewollt hätte. «Du bist ein paar Jahre zu früh auf die Welt gekommen», meinte er zu ihr. Und nun ist Doris leider auch viele Jahre zu früh von dieser Welt gegangen.

Wir alle, liebe Doris, werden Dich schmerzlich vermissen und Dein frohes Gemüt und liebenswürdiges Wesen nie vergessen. Der Familie, Luca, Alessia und Andrea, entbieten wir unser herzlichstes Beileid. RICHARD HEGGLIN

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