Menschen // In Memoriam // Jacques Reymond
Ein stiller Schaffer mit grossem Herzen Es sind Nachrichten, die man zwei-, dreimal lesen muss und einfach nicht wahrhaben will. So wie am 7. Mai, als sich die Meldung verbreitete, dass Jacques Reymond im Alter von 69 Jahren an den Folgen des Coronavirus gestorben ist. «Mit Jacques», trauert Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann, «hat der Schweizer Skisport einen überaus engagierten Menschen und eine grosse Trainerpersönlichkeit verloren.»
ie Würdigungen gleichen sich auffallend. Wenn bei Sportlern oder Trainern in den Nachrufen statt Titel und Medaillen hauptsächlich Adjektive wie «einfühlsam», «liebenswürdig» oder «hilfsbereit» hervorgehoben werden, ist das der höchste Grad derWertschätzung. Jacques Reymond wird uns in erster Linie wegen seiner menschlichen Qualitäten in Erinnerung bleiben. Stiller Schaffer Jacques gehörte nicht zu den Lautsprechern der Gilde. Er war ein stiller Schaffer mit grossem Herzen und hoher Sozialkompetenz. Von 1979 bis 1995 diente er, mit kleinen Unterbrüchen, bei Swiss-Ski in verschiedensten Funktionen. Seine Biographie umfasste drei Schwerpunkte: Die WM 1982 in Schladming (als Konditionstrainer der Frauen), die WM 1987 in Crans-Montana (als Technik-Trainer der Männer) und die Olympischen Spiele 1994 (als Cheftrainer der Männer), zweimal mit überwältigenden Erfolgen, zuletzt 1994 in Lillehammer mit durchzogener Bilanz. Ein Bild ging um die Welt Das Bild von Schladming 1982 ging um die Welt. Zwei Trainer trugen jubelnd eine 19-jährige Skirennfahrerin auf den Schultern aus dem Zielraum. Einer von ihnen war Jacques Reymond. Eben hatte Erika Hess ihren dritten WM-Titel errungen. Es sollte, ohne dass es Erika und Jacques zu jenem Zeitpunkt wussten (vielleicht ahnten?), der symbolische Anfang einer Beziehung sein, aus der sich später eine grosse, tiefe Liebe entwickelte. Erika und Jacques kamen sich näher, bis es auch in der Mannschaft kein Geheimnis mehr blieb. «Die zwei haben sich super verhalten», erinnert sich Brigitte Oertli. «Ich habe das nie als Problem empfunden, obwohl eine Beziehung innerhalb einer Mannschaft auch Spannungen auslösen kann.» Jacques Reymond wollte die Mannschaft verlassen, aber Cheftrainer Jean-Pierre Fournier liess ihn vorerst nicht gehen. Wichtige Teamstütze Zu wichtig war er für das Team. «Man hörte von Jacques nie ein negatives Wort», sagt Brigitte 30
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NOVEMBER 2020
Oertli: «Nie hat er jemand zusammengestaucht. Er war einfühlsam und trotzdem konsequent. Es war ‹seine› Art, die Mannschaft zu führen, während andere Trainer gerne mal auf den Tisch hauten.» Erst vor der Saison 1986/87 mit den denkwürdigen Weltmeisterschaften in Crans-Montana wechselte Jacques Reymond zu den Technikern ins Männer-Team. Nie war eine Schweizer Nationalmannschaft stärker. 14 Medaillen sollte sie erringen – eine sagenhafte Bilanz. Jacques Reymond trug bei beiden Geschlechtern seinen Teil bei. «Er sah stets das Positive und war ein starker Motivator», lobt ihn der zweifache Crans-Montana-Weltmeister Pirmin Zurbriggen. Auch als Männer-Trainer hatte er seine ehemaligen Fahrerinnen im Auge, insbesondere natürlich seine Partnerin. «Jacques», sagte damals Erika, «war sehr wichtig für mich. Vor allem beim Slalom hat er mir enorm geholfen.» Heirat 1988 am Vierwaldstättersee Aus schwer verständlichen Gründen musste Erika im Riesenslalom über die Klinge springen, was sie verunsicherte. Jacques empfahl ihr vor dem Slalom freies Skifahren statt Training. Und als sie nach dem 1. Lauf als Vierte über eine Sekunde hinter der Österreicherin Roswitha Steiner lag, baute er sie mental auf. Das Ergebnis ist bekannt. Erika gewann nach der Kombination auch den Slalom, ihren insgesamt 6. WM-Titel – und trat anschliessend zurück. Im Alter von erst 25 Jahren. Ein Jahr später, am 6. Mai 1988, heirateten die beiden in Bauen am Vierwaldstättersee. Auch Jacques orientierte sich um. Zusammen organisierten sie Ski-Camps für Kinder, und nebenbei wirkte er als Co-Kommentator am welschen Fernsehen. Da konnte er sein Flair für technische Finessen voll ausleben. Einige Spassvögel bezeichneten ihn als «Monsieur Ski Intérieur». Sensibler Mensch Als die Nationalmannschaft in eine Baisse geriet und sowohl an den Olympischen Spielen 1992 in Albertville als auch an den WM 1993 in Morioka nur je eine einzige Medaille errang, erinnerte sich Direktor Joseph Zenhäusern an
Jacques Reymond und installierte ihn vor Olympia 1994 als Männer-Chef. «Er war», so Zenhäusern, «ein sehr sensibler Mensch und hat alles getan fürs Team. In Lillehammer mietete er vis-à-vis der Piste ein Chalet und liess extra einen Koch einfliegen, um eine gute Atmosphäre zu schaffen.» Trotzdem lief es der Mannschaft nicht nach Wunsch. Urs Kälin verpasste zwar Gold nur um 2 /100, aber die Abfahrer brachten keinen in die Top Ten – Franz Heinzer kippte gleich beim Start aus einer defekten Bindung. Im Verband herrschte eine Phase der Umstrukturierungen und Personalrochaden. Am Ende des nächsten Winters nahm Reymond definitiv Abschied von Swiss-Ski und widmete sich nur noch den privaten Projekten – und der Familie. Sie waren «eins» So wie Erika und Jacques ein fast symbiotisches Paar (Oertli: «Sie waren ‹eins›») bildeten, verband auch die später auf fünf Personen angewachsene Familie ein unglaublich starker Kitt. Seit fast drei Jahrzehnten wohnten die Nidwaldnerin und der aus dem Vallée de Joux stammende Waadtländer in einem idyllischen Landhaus in St-Légier oberhalb von Vevey am Genfersee. Neben den drei Buben Fabian, Nicolas und Marco haben Jacques und Erika (sportlich) noch gegen 20 000 Kinder in den Erika-HessCamps grossgezogen. Vor zwei Jahren schalteten sie einen Gang zurück und gaben die Camps auf. Sie beschränkten sich auf die Organisation der «Raiffeisen Erika Hess Open»Rennen in Les Diablerets, Les Pléiades und La Fouly – «nebenei» präsidierte Jacques, inzwischen stolzer Grossvater geworden, die Gemeindeversammlung von St-Légier. Im Januar weilten Jacques und Erika noch in Wengen. Es sollten ihre letzten gemeinsamen Lauberhornrennen werden. Kurz darauf erkrankte Jacques an dieser heimtückischen Krankheit. Am 7. Mai, einen Tag nach ihrem 32. Hochzeitstag, schloss er für immer die Augen. In der Todesanzeige verabschiedete sich Erika mit den rührenden Worten: «Nicht die Jahre in unserem Leben zählen, sondern das Leben in unseren Jahren.» R I CHA RD H E G G L I N
FOTO: ERIK VOGELSANG, B&S
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