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«Zuckerguss-Architektur in 3D»

«ZuckergussArchitektur in 3D»

Bauwirtschaft – In einem kleinen Passdorf in Graubünden wird BautechnikGeschichte geschrieben. Mulegns soll einen Turm bekommen, in dem künftig Kunstinstallationen, Hörspieltouren und Theateraufführungen stattfinden können. Herkömmlich gebaut wird das Gebäude jedoch nicht: Es wird komplett gedruckt. Und zwar direkt vor Ort.

Von Susanne Osadnik – Fotos: ETH Zürich

Einst war es eine Ortschaft von fundamentaler Bedeutung: Mulegns in der Region Albula in Graubünden. In der Talenge am Zusammenfluss des Fallerbachs und der Julia auf knapp 1500 Metern gelegen, zählte das Dorf in Postkutschenzeiten rund 150 Einwohner. Genauso viele Pferde konnten damals noch in den Stallungen untergebracht werden. Neben Churwalden und Tiefencastel war Mulegns die dritte wichtige Anlaufstation für Pferdegespanne und Dreh- und Angelpunkt für «Das ist nicht Reisende. Das Gästebuch des legendäder letzte Schrei eines ausgeflippten ren Posthotels Löwe liest sich wie das Who’s who des 19. Jahrhunderts. Illustre Gäste wie Katharina Dolgorukaja, die Kreativen. Es ist das zweite Ehefrau des russischen Zaren

Aufmucken einer Alexander II., oder die spätere Königin Baustofftechnologie, die ihren Weg in die von England, Mary, damals noch Duchess of York, haben hier genächtigt. Ebenso der amerikanische Präsident Welt noch schneller Stephen Grover Cliveland, als er 1896 antreten wird, als mehrere Wochen in der Schweiz vermancher es heute brachte. Wer ins noble Engadin wollte, erahnt.» musste durch Mulegns. Dies änderte sich radikal mit der EröffMario Cavigelli, nung der Albula-Bahnlinie im Jahr 1903, Regierungspräsident die den meisten Anwohnern des Ortes Graubünden an der Furkapassstrasse die Lebensgrundlage entzog. Im Laufe der Jahrzehnte verliessen immer mehr Menschen ihre Heimat. Heutzutage zählt Mulegns nicht einmal mehr 20 Einwohner. Ein sterbendes Dorf in den Bergen. Vor exakt 500 Jahren erstmals urkundlich erwähnt, wird es wohl keine Zukunft mehr haben. Oder vielleicht doch? Einer, der den Untergang historischer Dörfer nicht hinnehmen will und schon andernorts mit aussergewöhnlichen Ideen dahinsiechenden Orten wieder Leben eingehaucht hat, ist Giovanni Netzer, Theologe, Philosoph, Theaterintendant und Gründer des Theaterfestivals Origen. Das jährliche Kulturereignis Origen ist seit 2005 stetig gewachsen und mit seinen zahlreichen Veranstaltungen mittlerweile das grösste Klassikfestival Graubündens.

Ein Highlight für Mulegns

Auch Mulegns soll dank vielfältiger Kulturveranstaltungen wieder aufblühen. Immerhin ist das im nahe gelegenen Riom im Oberhalbstein auch schon gelungen: Die 2006 vom Churer Architekten Marcel Liesch für 1,3 Millionen Franken zu einem Theater mit 220 Plätzen umgebaute Burg Riom zieht jedes Jahr Tausende Musik- und Theaterliebhaber an. Daneben gibt es eine Theaterscheune und den Roten Theaterturm. Rundherum sind kleine professionelle Theaterwerkstätten entstanden, die Kostüme, Bühnenbilder und Masken herstellen. In Mulegns könnte es ein bisschen anders laufen. Denn hier soll im kommenden Jahr ein Gebäude entstehen, das allein aufgrund seines Entwicklungs- und Bauprozesses Touristen und Immobilienfachleute von überall her wird anreisen lassen, sind seine Schöpfer sicher. Der «Weisse Turm» von Mulegns wird ein vollständig digital gedrucktes Bauwerk sein, das späteren Kunstinstallationen, Hörspieltouren und Theateraufführungen dienen soll. Optisch wird es sich an das grosse handwerkliche Können der Bündner Baumeister und Stuckateure aus dem Barock anlehnen. Das Modell, das vor einigen Wochen der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, erinnert in der Tat stark an eine mehrstöckige Zuckergusstorte – eine Remines-

Mit dem Weissen Turm will Mulegns Baugeschichte schreiben.

zenz an die Geschichte der Bündner Zuckerbäcker, die einst das Dorf verliessen, ihr Handwerk sehr erfolgreich im Ausland ausübten und wohlhabend wieder nach Mulegns zurückkehrten. So etwa wie der Zuckerbäcker Jean Jegher, der einst, von Heimweh geplagt, Mitte des 19. Jahrhunderts von Bordeaux nach Mulegns zurückkehrte und sich dort mit einer schneeweissen dreistöckigen Villa selbst ein Denkmal setzte. Heutzutage gibt es das Gebäude immer noch. Es steht unter Denkmalschutz. Dennoch musste es weichen – wenn auch nur um ein paar Meter. In einer einzigartigen Aktion wurde das Gebäude im vergangenen August versetzt, damit der Strassenverkehr besser laufen kann. Denn in der extrem engen Gasse wurde die Villa immer wieder durch Fahrzeuge beschädigt. Allein diese Massnahme kostete 5,6 Millionen Franken. Der Bau des Turms wird laut Giovanni Netzer rund 3,5 Millionen Franken kosten. Dafür entsteht eine der höchsten Bauten, die je im 3DVerfahren von Robotern gedruckt wurden. Auf einem Sockel stehend, kommt das Bauwerk insgesamt auf 23 Meter Höhe; der Durchmesser des Turms wird unten, an seiner breitesten Stelle, neun Meter betragen. Konstruiert wird das Ganze aus vorgefertigten 3Dgedruckten Elementen, die insgesamt aus mehr als 4.000 Druckschichten beste hen – wobei jede Druckschicht 5 Milli «Wenn wir davon meter hoch und 20 Millimeter breit ist. ausgehen, dass wir Läuft alles nach Plan, wird im April 2022 bis 2050 eine Vereine öffentliche Baustelle eingerichtet. doppelung des Woh«Nicht das Werk von ausgeflippten nungsbaus verzeichKreativen» nen werden, ist der Jedermann soll dabei zusehen können, 3D-Druck die Chanwie ein Roboter den weissen Beton Schicht für Schicht aufträgt. Für eine drei Meter hohe Säule benötigt er gerace, dem zu begeg nen.» de einmal zwei Stunden. Fünf Jahre nach Prof. Benjamin DillenFertigstellung soll der Turm zerlegt und burger, ETH Zürich an anderer Stelle aufgebaut werden. Ein ausgefeilter und durchdachter Plan, der jedoch die Vorstellungskraft vieler Menschen sprengt. Wie das Ganze im kommenden Jahr tatsächlich mittels eines druckenden Roboters Wirklichkeit

Blick in das Treppenhaus und auf die Bühne im Weissen Turm werden soll, beschäftigte auch den Bundespräsidenten anlässlich der Projektvorstellung. «Ich muss zugeben, ich kann mir noch nicht vorstellen, wie der Turm im nächsten Jahr in Originalgrösse gedruckt werden soll», sagte Guy Parmelin. Doch sei er sicher, dass die geplante Konstruktion in 3D grosse Chancen beinhalte und das Bauen auf der ganzen Welt komplett verändern werde. Davon ist auch der Bündner Regierungspräsident Mario Cavigelli überzeugt, der sehr eindrückliche Worte fand: «Das ist nicht der letzte Schrei eines ausgeflippten Kreativen. Es ist das Aufmucken einer Baustofftechnologie, die ihren Weg in die Welt noch schneller antreten wird, als mancher es heute erahnt.» Tatsächlich sorgt eine interdisziplinäre Gruppe von Professoren der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich mit ihren Forschungsergebnissen zu neuen Formen und Materialien für Immobilien dafür, dass dieser Turm entstehen kann. Alles, was Architekten, Materialforscher, Bauingenieure, Maschinenbauer und Geomatiker zusammengetragen haben, soll der Turm beispielhaft zeigen und zugleich den Weg weisen, wie nachhaltige, materialsparende und kreislauffähige Bauweise zukünftig aussehen könnte. Denn tatsächlich ermöglicht es die Bauweise mittels 3D-Druck, komplexe Geometrien herzustellen und den Beton genau dort einzusetzen, wo er für die Tragstruktur auch benötigt wird. Weil zudem die Schalung entfällt, kommt der Weisse Turm von Mulegns insgesamt mit weniger Rohmaterialien aus. Und durch die Fertigung vor Ort reduziert sich der Transportaufwand auf ein Minimum.

ETH als Schrittmacher

Entworfen und geplant wurde der Turm von Benjamin Dillenberger, Professor an der ETH Zürich, und Michael Hansmeyer von der Forschungsgruppe Digitale Bautechnologien in Zusammenarbeit mit der Stiftung Fundaziun Origen, die Giovanni Netzer 2007 gegründet hat. Neben Dillenburger und Hansmeyer gibt es noch weitere ETH-Professoren, die fundamentale Arbeit geleistet haben, um das aussergewöhnliche Projekt Wirklichkeit werden zu lassen: Mit Robert Flatt, Walter Kaufmann und Andreas Wieser sind drei weitere ETHProfessoren des Nationalen Forschungsschwerpunkts Digitale Fabrikation beteiligt. Walter Kaufmann arbeitet an der Tragstruktur und den Verbindungen der gedruckten Betonelemente, Andreas Wieser an der Vermessung und Formkontrolle und Robert Flatt an der Betonmischung, sozusagen der «Tinte» für den 3D-Drucker. Bei der Präsentation des Projekts im Juni schilderte der Professor für Physikalische Chemie von Baustoffen an der ETH Zürich sehr plastisch, was es mit dieser «Tinte» auf sich hat. «Als man mich vor Jahren ansprach mit der Bitte, einen Beton zu entwickeln, der keine Schalung benötigt, war das so, als ob Sie mich gefragt hätten: Können Sie aus diesem schalen Bier einen guten Wein machen?» Doch Flatt nahm die Herausforderung an und fand einen Weg, aus normalem Beton digitalen Beton zu machen. «Das Wichtigste ist, dass der Beton nicht zu früh aushärten darf. Er muss vielmehr so flüssig bleiben, dass er ge- «Das Wichtigste ist, pumpt werden kann», so Flatt. «Härtet dass der Beton nicht er zu schnell, bindet er auch die nächsten Schichten beim Druck nicht.» Die Erfahrungen, die die ETH und ihre zu früh aushärten darf. Er muss vielWissenschaftler beim Druck des Turms mehr so flüssig sammeln können, werden wertvoll für bleiben, dass er künftige Projekte sein und dazu beitragen, die Probleme von heute und morgen in den Griff zu bekommen, ist Benjamin gepumpt werden kann.» Dillenburger überzeugt. «Gut 30 Prozent Prof. Robert Flatt, allen verbrauchten Materials weltweit ETH Zürich sind Baumaterialien. Allein die Zementherstellung ist weltweit für fünf Prozent der CO2Produktion verantwortlich», sagt der Professor für digitale Bautechnologien. «Wenn wir davon ausgehen, dass wir bis 2050 eine Verdoppelung des Wohnungsbaus verzeichnen werden, ist der 3D-Druck die Chance, dem zu begegnen.» Der Baustart für den Weissen Turm in Mulegns ist für April 2022 vorgesehen. •

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