The_Gap_184_001-068_Umschlag_PACK_korr_mf.indd 1
19.11.20 12:38
N° 184
€ 0,—
AUSGABE DEZEMBER 2020 / JÄNNER 2021 — THE GAP IST KOSTENLOS UND ERSCHEINT ZWEIMONATLICH. VERLAGSPOSTAMT 1052 WIEN, P.B.B. | MZ 18Z041505 M
DAS AUSGEZEICHNETE AUS DER STADT. Auch 2020 sind unsere Biere die Stars.
The_Gap_184_001-068_Umschlag_PACK_korr_mf.indd 2 ICV2_OTK_AZ_EBS_TheGap_4c_210x280.indd 1
19.11.20 13:31 12:38 18.11.20
Editorial The power of good-bye
Web www.thegap.at Facebook www.facebook.com / thegapmagazin Twitter @the_gap Instagram thegapmag Issuu the_gap
Herausgeber Manuel Fronhofer, Thomas Heher Chefredaktion Theresa Ziegler
Wie der Titel andeutet, will ich an dieser Stelle zu gleichen Teilen Madonnas Meisterinnenstück »Ray Of Light« wieder in euer Gedächt nis rufen und mich mit dieser, der letzten Ausgabe von The Gap unter meiner Chefredaktion, von euch, werte LeserInnen, verabschieden. Seit April 2019 sind wir gemeinsam auf eine Reise gegangen, die uns von den Sternen (»Astrologie und Pop«, Ausgabe 175) über eine Kulturbranche ohne Leistungsdruck (»30 über 30«, Ausgabe 176) hin zu einer solidarischeren (»Neue Solidarität«, Ausgabe 181) und akti vistischen (»Nachhaltiger Aktivismus«, Ausgabe 182), besseren Welt geführt hat. Ein bisschen utopisch, natürlich! Aber dafür ist Popkulturjournalismus, der sich in seiner gesellschaftspolitischen Relevanz definiert, ja auch da – um mögliche, gerechtere, und diversere Reali täten dessen, was Pop ist, aufzuzeigen. Mit dieser Ausgabe verabschiedet sich The Gap aber nicht nur von mir, sondern auch von einem Jahr, das für sehr viele Menschen eines der schlimmsten ihres Lebens war. So optimistisch, dass alle 2020erProbleme mit dem metaphorischen Neujahrskonzert verschwinden, sind natürlich auch wir nicht. Jede größere und kleinere Krise, die uns jetzt begleitet, begleitet uns wohl auch in 2021 hinein. Und trotzdem tut es der Psyche gut, sich zumindest von einer Etappe des Horrors zu verabschieden – in einem Jahresrückblick, der sich vor allem damit beschäftigt, was hätte sein können. Was unsere Redaktion und andere Kulturschaffende heuer alles nicht erlebt haben, ist in der Coverstory nachzulesen. Von der Premiere des ersten eigenen Kabarettprogramms bis hin zur großen Revolution im Klassenkampf ist so einiges dabei, was »Corona-bedingt verschoben« wurde, wenn man eine Floskel nehmen will, die uns noch lange in den Ohren klingen wird. Needless to say hatte ich als Chefredakteurin bei The Gap eine tolle Zeit und möchte mich am Ende dieser Reise nochmals bei den beiden Herausgebern Manuel Fronhofer und Thomas Heher, bei der gesamten Redaktion, und natürlich auch bei euch, liebe LeserInnen, für das Vertrauen bedanken. Und nicht zuletzt, weil The Gap und ich fast gleich alt sind, werden wir fix Freundinnen bleiben.
Leitender Redakteur Manfred Gram Gestaltung Markus Raffetseder AutorInnen dieser Ausgabe Michel Attia, Aygyul, Bad & Boujee, Barbara Fohringer, Bernhard Frena, Susanne Gottlieb, Josef Jöchl, Oliver Maus, Sandro Nicolussi, Dominik Oswald, Michaela Pichler, Erika Ratcliffe, Nicole Schöndorfer, Emily Staats, Sarah Wetzlmayr KolumnistInnen Astrid Exner, Josef Jöchl, Gabriel Roland FotografInnen dieser Ausgabe Fabian Gasperl, Alex Gotter, Erli Grünzweil, Nikolaus Ostermann Lektorat Jana Wachtmann Coverfoto Erli Grünzweil Anzeigenverkauf Herwig Bauer, Manuel Fronhofer, Sarah Gerstmayer (Leitung), Thomas Heher, Martin Mühl, Thomas Weber Distribution Andrea Pfeiffer Druck Grafički Zavod Hrvatske d. o. o. Mičevečka ulica 7, 10000 Zagreb, Kroatien Geschäftsführung Thomas Heher Produktion & Medieninhaberin Comrades GmbH, Stauraczgasse 10/4, 1050 Wien Kontakt The Gap c/o Comrades GmbH Stauraczgasse 10/4, 1050 Wien office@thegap.at — www.thegap.at Bankverbindung Comrades GmbH, Raiffeisen Bank, IBAN: AT67 3200 0000 1160 0756, BIC: RLNWATWW Abonnement 6 Ausgaben; Euro 21,— (aktuell: Euro 9,90) www.thegap.at/abo Heftpreis Euro 0,— Erscheinungsweise 6 Ausgaben pro Jahr; Erscheinungsort Wien; Verlagspostamt 1052 Wien
Alexia Fin
Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz www.thegap.at/impressum
Theresa Ziegler
Chefredakteurin • ziegler@thegap.at @raverresi
The_Gap_184_003-009_Splitter_PACK_korr_mf.indd 3
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der HerausgeberInnen wieder. Für den Inhalt von Inseraten haften ausschließlich die Inserierenden. Für unaufgefordert zugesandtes Bildund Textmaterial wird keine Haftung übernommen. Jegliche Reproduktion nur mit schriftlicher Genehmi gung der Geschäftsführung.
19.11.20 16:14
Magazin
Danke für nichts, 2020! Ein Dossier aus alternativen Jahresrückblicken
010
Michel’s Sound of Music 2021 Die zehn spannendsten NewcomerInnen aus Österreich »Ich mag es, wenn wer am Abgrund steht« Evi Romen im Interview zu »Hochwald«
030 Ein Mangel an Sorgfalt Warum wir mehr Video-Essays und weniger Video-Erörterungen brauchen 032 Abonnier doch deine Vorurteile! Onlyfans done wrong 036 Zu Haus’ mit Flausch Kulturschaffende und ihre Haustiere
004
024 028
Alexander Gotter, Christine Fahrngruber, Bryan Huszar
036
The_Gap_184_003-009_Splitter_PACK_korr_mf.indd 4
19.11.20 16:14
She put the »lieb« in »Gottlieb«! Geschrieben hat Susanne bereits in der Vorschule gerne, der Journalismus als Beruf hat also schon früh Sinn gemacht. Noch nicht ganz so lange, aber nun doch schon eine Weile, ist die 33-jährige Grazerin geschätzter Teil unserer Filmredaktion, auch »weil The Gap cool ist – wer will nicht dafür schreiben?« Wenn sie nicht wie für diese Ausgabe Interviews mit Filmschaffenden führt, treibt sie sich auf Filmfestivals oder im Film archiv rum und versucht nebenbei, ihren Master in Zeitgeschichte zu schupfen.
Alex Gotter Seit 2009 wirft der 34-Jährige, geboren im deutschen Tübingen, sein Fotoauge auf Wien. Das Fotografieren von Konzerten hatte es ihm schon als armer Student angetan. Mittlerweile ist Alex Gotter ein household name – vor allem, was MusikerInnen- und Bandfotos angeht. Das eine oder andere iconic Pressefoto findet man bei @alex.gotter. Alex ist also genau der Richtige für eine flauschige Porträtreihe von Kulturschaffenden und ihren Haustieren. Was ihm sonst noch wichtig ist? »Power to the people!«
Rubriken 003 Editorial / Impressum 006 Charts 046 Wortwechsel 048 Workstation: Patrick Onyemaechi Kainz Saomai Nguyen Le 052 Prosa: Martin Peichl 055 Rezensionen 057 Gewinnen 058 Termine
Kolumnen 007 Einteiler: Gabriel Roland 008 Gender Gap: Astrid Exner 066 Sex and the Lugner City: Josef Jöchl
Um sein volles Potential zu entfalten, rösten wir unseren Caffè Crema Bio bis zu 20 Minuten. So macht er ganz entspannt mehr aus deiner Zeit.
j h o r n i g .co m
ALL VIRTUAL!
CLOSED DOORS OPEN HOUSE
Alexander Gotter, Christine Fahrngruber, Bryan Huszar
Susanne Gottlieb
D
0 2 0 1 EC 9-
DIEANGEWANDTE.AT/OPENHOUSE The_Gap_184_003-009_Splitter_PACK_korr_mf.indd 5
19.11.20 16:14
OHNE KUNST & KULTUR
WIRD’S STILL
Charts Theresa Ziegler TOP 10
Eurovision-Songs, die nicht gewonnen haben 01 Loïc Nottet – »Rhythm Inside« 02 Hera Björk – »Je Ne Sais Quoi« 03 Eleni Foureira – »Fuego« 04 Verka Serduchka – »Dancing Lasha Tumbai« 05 Ani Lorak – »Shady Lady« 06 Margaret Berger – »I Feed You My Love« 07 Cascada – »Glorious« 08 Ivi Adamou – »La La Love« 09 Kalomira – »Secret Combination« 10 Poli Genova – »If Love Was A Crime«
TOP 03 Lilly, 24, Beatboxerin und Rapperin Rudi, 64, Plakatierer
Sympathische Hunderassen 01 Zwergdackel 02 Englische Bulldogge 03 Golden Retriever Auch nicht schlecht: Zu sich selbst nett sein Theresa Ziegler war von April 2019 bis Dezember 2020 Chefredakteurin von The Gap. Sie ist ENFJ und ein Erdzeichen.
Thomas, 44, Trompeter
Silvia, 42, Schauspielerin
Charts Ayotheartist TOP 10
Bangers von befreundeten MusikerInnen 01 Afroschnitzel – »Souls Cavalry« 02 Amalia – »All The Funk I Need (Atjazz Love Soul Remix)« 03 Ty – »Knock Knock« 04 Ayotheartist – »Gerboise Blanche« 05 Fokn Bois feat. Mr Eazi – »True Friends« 06 Ursula Rucker – »This (Jazzanova)« 07 Jahson The Scientist – »Shack Out« 08 Soulcat E-Phife – »Never Show Love (Mono:Massive Version)« 09 Item 7 – »Victory Song« 10 Mista Nugget feat. Louise Golbey – »My Sweetness«
Rasselmucke, um den Lockdown-Speck abzuschrecken 01 Mohig – »The Udo« 02 DJ Flaton Fox – »Soldiers« 03 Eddie Boi – »Swedish Woman From Lesotho« Sevda, 42, bildende Künstlerin
Konzeption: Maria Paz Caraccioli Gutierrez Fotografie: Martin Diesch Grafik: Patricio Handl in Zusammenarbeit mit Loop e.V
Jonathan, 31, Musikmanager
ohne Kunst und Kultur wird’s still ohnekunstundkultur_still
The_Gap_184_003-009_Splitter_PACK_korr_mf.indd 6
Auch nicht schlecht: Princess Bumy – »Save Nigeria Today« Ayotheartist ist Produzent, Percussionist und DJ. Er studierte künstlerische Geisteswissenschaft in Großbritannien und ist Gründungsmitglied der Kunstund Musikkollektive Sounds Of Blackness und Afroschnitzel.
privat, Stefan Joham
TOP 03
19.11.20 16:14
betrachtet die hiesige Modeszene Stück für Stück
auf das Küchengewand gebannten David des Michelangelo – findet jedoch im Süden dieser Demarkationslinie der Bedecktheit statt, dort wo das Gemächt der Figur prangt und mit fre cher Beiläufigkeit das Zentrum der Aufmerk samkeit sein will. Bei Hvala Ilijas Pullover geschieht zwischen Angel- und Höhepunkt eine Transformation. An stelle der Kongruenz zwischen tragendem und aufgedrucktem Körper löst sich hier vom Hals abwärts der eine vom anderen. Der leger daleh nend, in den Pullover hineingestrickte Akt fläzt sich so quer über den Oberkörper, während der im Kleidungsstück steckende Leib möglicher weise ganz anders verläuft. Auf den Ärmeln ist jede figürliche Überlappung aufgegeben. An ihre Statt tritt wie ein Zauberreim die in Österreich für Glück, Spiel, Wagnis und Gewinn stehen de Zweiheit »Lotto Toto«. Natürlich ist mit der Verselbstständigung dieser jeweiligen Körper die Dopplung und das gegenseitige Darstellen nicht abgeschafft. Der laszive Jüngling aus Ma
schen erinnert nach wie vor alle daran, dass der base layer jeder Kleidung nackte Haut ist und der tragende Körper leiht dem Schauspiel nicht nur seinen Kopf, sondern hält uns außerdem vor Augen, dass ohne ihn Gewand nicht viel mehr als eine Serie leerer Säcke und Fetzen wäre. Ge meinsam erklären die beiden das Anziehen zum freudvollen Rollenspiel der stolzen Halbwahr heiten. Es gibt keine ehrerbietigere Demaskie rung dieser hybriden Opera buffa, deren tägliche Aufführung zahllose Menschen vor zahllosen Kleiderkästen mit der Frage konfrontiert, wen sie heute darstellen wollen, als einen Körper mit dem Abbild eines anderen zu schmücken. Wer dieses Privileg sehenden Auges feiern will, ist mit Hvala Ilijas Pullover allemal besser bedient als mit einer Gagschürze. roland@thegap.at • @wasichgsehnhab Wer über die Umtriebe von Hvala Ilija im Bilde bleiben will, tut dies am besten über Instagram unter @hvala_ilija.
007
Sie ist ein – und die Bezeichnung wird auf die sen Seiten ganz bestimmt nicht leichtfertig geführt! – ikonisches Kleidungsstück: die mit einem nackten Torso bedruckte Kochschürze. Ihr Konzept ist bestechend in seiner Einfach heit, stringent, und leuchtet sofort ein. Indem sie das, was sich ohne Fehl unter der Kleidung verbirgt, einen nackten Körper nämlich, auf ihre Oberfläche holt, wird die Schürze zur Sub version ihrer eigenen Begrifflichkeit. Zur auf der Hand liegenden Direktheit des Kalauers tritt so eine sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehende Komplexität. In jeder Hin sicht geschieht eine Entblößung (des Körpers, des Begriffes »Gewand«, der Stilsicherheit der TrägerInnen), die in all ihren Geschmacksrich tungen (Renaissanceskulptur, Heimatromantik, Brachialerotik) von erschreckender Effektivität gekennzeichnet ist. Angelpunkt des Schürzen tricks ist der Halsausschnitt, wo tatsächlicher und abgebildeter Körper aneinanderstoßen. Die Spitze des Effekts – so zumindest beim
Gabriel Roland
Fabian Gasperl
privat, Stefan Joham
Einteiler Dick Pulli
The_Gap_184_003-009_Splitter_PACK_korr_mf.indd 7
19.11.20 16:14
J b w a
Astrid Exner
beschäftigt sich hier mit den großen und kleinen Fragen zu Feminismus.
Wir reden gerade viel von Herdenimmunität. Wenn endlich die Corona-Impfung da ist und wir uns alle flink impfen lassen, kann die nervige »Neue Normalität« wieder der alten weichen. Alle machen brav mit und schützen sich und andere. So solidarisch wie bei HPV. Not! ———— Ja, ich hatte schon einmal HPV. Das ist jetzt keine super mutige Enthüllung, die mich wahnsinnig verrucht wirken lässt und mir den Anschein eines hyperaktiven, unvorsichtigen Sexlebens gibt. Diesen Funfact teile ich nämlich mit 75 bis 90 Prozent aller Menschen weltweit. Humane Papillomaviren werden häufig beim Ge schlechtsverkehr übertragen. Das Risiko einer Infektion lässt sich durch verantwortungsbe wusste Nutzung von Kondomen verringern, aber nicht verhindern. Auch weil die Ansteckung oft unbemerkt bleibt, ist HPV eine der weitverbrei tetsten sexuell übertragbaren Krankheiten. Und das, obwohl es einen sicheren, effektiven Impf stoff gegen die häufigsten HPV-Typen gibt. Kann ja dann wohl nicht so ernst sein, oder? Sonst wäre doch wohl viel öfter die Rede davon … Tja. Wenn du, liebeR LeserIn, ein Mensch ohne Gebärmutterhals bist, dann kannst du dich jetzt tatsächlich entspannt zu rücklehnen. Du bist dann bloß weiterhin bliss fully unaware ein Teil des Problems. Darin bist du ja vermutlich geübt, Zwinkersmiley!
Impfen gegen Krebs Tatsache ist: Eine HPV-Infektion kann zu tumor artigem Wachstum der infizierten Zellen füh ren. Bei einigen Virentypen sind diese Tumore gutartig und führen zu nervigen, aber sonst nicht weiter bedenklichen Genitalwarzen. An dere, sogenannte Hochrisikotypen, aber lösen Gebärmutterhalskrebs aus, die zweithäufigste Krebserkrankung bei Frauen. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber die Todesursache Krebs ist eines der größten Schreckgespenster für mich. So oft fühlen wir uns ohnmächtig dieser Krankheit gegenüber. Wie im Mittelalter kom men wir uns vor, wenn wir unseren Lieblings menschen beim langsamen Sterben zusehen
The_Gap_184_003-009_Splitter_PACK_korr_mf.indd 8
müssen und manchmal einfach nichts dagegen tun können. Im Fall von Gebärmutterhalskrebs ist das verhinderbar – ein Hoch auf den medi zinischen Fortschritt! Die HPV-Impfung wirkt dabei nicht nur vor beugend gegen Karzinome und Genitalwarzen, sondern sorgt erwiesenermaßen auch für einen Rückgang von bereits vorhandenen Krebsvor stufen. Eine bahnbrechende Studie aus Schwe den beziffert die Wirkung: Um satte 88 Prozent sinkt das Krebsrisiko bei einer Impfung bis zum 17. Geburtstag. Wer sich zwischen 17 und 30 impfen lässt, senkt die Wahrscheinlichkeit um immer noch beeindruckende 53 Prozent. Österreich hat aus gutem Grund (und als erstes europäisches Land) 2014 die HPVPräventionsimpfung ins Kinderimpfprogramm aufgenommen und bietet sie für Neun- bis Elfjährige kostenfrei an. Und trotzdem be trägt die Durchimpfungsrate hier magere 40 Prozent. Nicht. Einmal. Jedes. Zweite. Kind. Warum bloß? Die allgemein steigende Impf skepsis von Globuli-Gläubigen reicht hier nicht als Erklärung. Ob es wohl damit zu tun hat, dass HPV zwar von allen Menschen über tragen werden kann, die ernsten Folgen der In fektion aber überwiegend biologische Frauen betreffen? Und eben nicht so häufig Buben, die zu Männern mit statistisch mehreren Se xualpartnerInnen heranwachsen und sich bei diesen wahrscheinlich – let’s be honest – mit Argumenten wie »Ohne Kondom spüre ich ein fach viel mehr, Baby« aus der Verantwortung ziehen wollen werden.
Schlafen mit Virenschleudern Frauenkrankheiten, das Wort hat gerne mal eine abwertende Konnotation. Ganz offensicht lich wird der Ernst der Sache auch im Fall von HPV noch nicht erkannt. Männer und Buben sind sich ihrer Rolle als potenzielle Überträger genauso wenig bewusst wie deren Eltern, die sich häufiger gegen als für eine kostenlose Impfung entscheiden. Das bedeutet aber ge nau Solidarität: einen kurzen Piks aushalten,
weil es die Leben anderer retten kann. Und wer es mit Solidarität nicht so hat, dem sei gesagt, dass die Impfung auch vor von Humanen Papil lomaviren verursachtem Krebs an Mund, Anus, Rachen und dem heiligen Penis schützt. Dass österreichischen Kindern von neun bis elf ein kostenloser und bis zum 15. Geburts tag ein vergünstigter HPV-Schutz angeboten wird, ist großartig, aber nicht gut genug. Die Impfung muss auch bei mündigen Erwachse nen, die sie nachholen wollen, finanziell unter stützt werden. Die oben genannte schwedische Studie zeigt nämlich deutlich, dass sie auch dann noch Sinn macht. Obwohl es eine ziem lich teure Angelegenheit war, habe ich mich mit Mitte zwanzig impfen lassen, weil ich auch danach noch mit neuen potenziellen Virenüber trägern geschlafen habe.
Reden über sensible Themen Was sicher auch hilft, die Impfrate zu steigern: Sagt Kindern und Jugendlichen um Himmels Willen nicht, dass sie sich nur impfen lassen sollen, wenn sie noch keinen Sex hatten. In einem Alter, dessen Zeithorizont noch so kurz gesteckt ist, dass ein unmittelbar bevorstehen der Stich oder die Grausamkeit von Teenager gelächter für mehr Unbehagen sorgt als die Aussicht auf eine potenziell lebensgefährliche Krankheit später im Leben, können vermeint liche Kleinigkeiten wie sprachliche Formulie rungen einen Unterschied machen. Wenn etwa auf der Website der Stadt Wien steht: »Am wirkungsvollsten ist die Impfung ge gen HPV, wenn sie noch vor der ersten sexuel len Aktivität durchgeführt wird«, dann braucht dieser formal korrekte Satz den Zusatz, dass sie auch danach noch Wirkung zeigt. Denn ein um 53 Prozent reduziertes Risiko ist immer noch meilenweit besser als nichts. Und darum reden jetzt bitte alle sexuell Ak tiven, die noch kein Gardasil-Pickerl im Impfpass haben, schleunigst mit den ÄrztInnen ihres Ver trauens, ob es auch für sie Sinn macht. exner@thegap.at @astridexner
Michael Exner
008
Gender Gap Geht’s impfen, ihr Virenschleudern
19.11.20 16:14
INS_
Bezahlte Anzeige
Jetzt daheim bleiben, dann wieder nichts auslassen. Wir statt Virus.
Michael Exner
Halten wir alle zusammen und uns an die Regeln. Damit wir dann alle gemeinsam unsere schรถne Stadt wieder genieร en kรถnnen.
Jetzt informieren unter: wien.gv.at/coronavirus The_Gap_184_003-009_Splitter_PACK_korr_mf.indd 9 1 INS_134_Daheim bleiben-nichts auslassen_210x280.indd
19.11.20 18.11.20 16:14 09:18
010
Nach langen Monaten des nicht aufhörenden Stroms an immer schrecklicher werdenden Nachrichten, fragen auch wir uns: Was bleibt nach unzähligen Artikeln, Breaking News, Livestreams, Pressekonferenzen und sogar dem einen oder anderen Buch noch zu sagen? Dann haben wir unsere Redaktion und andere Kulturschaffende gebeten, uns an ihrem Blick auf das Jahr 2020 teilhaben zu lassen – und zwar an einem, der sich ausmalt, wie die letzten Monate aussehen hätten können. »Was hat für dich ganz persönlich 2020 durch die Erschwernisse des Jahres nicht stattgefunden?« – das war der Impuls, den wir allen AutorInnnen mitgegeben haben. Von der großen Revolution im Klassenkampf bis hin zum ersten eigenen DJ-Set war vieles dabei. Eine Einladung zu einer alternativen Realität des Jahres 2020.
Danke für nichts, 2020! Ein Dossier aus alternativen Jahresrückblicken
Erli Grünzweil
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 10
19.11.20 18:05
011 The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 11
19.11.20 18:05
012 The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 12
19.11.20 18:05
Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt ———— Wer weiß eigentlich noch, dass 2020 ein Schaltjahr war? Vermutlich niemand, es gab immerhin genug Anlass, sich mit einer speziellen Sache zu beschäftigen. Ich erinnere mich noch, wie ich Anfang Februar eine ziemlich heftige Grippe hatte. 39 Grad Fieber, null Schlaf, die Schmerztabletten gingen weg wie M&M’s. Zu diesem Zeitpunkt war schon die Rede von dieser merkwürdigen und hochansteckenden Krankheit, die von China aus gerade in die Welt schwappt. Es kostete mich einige Anläufe, bis ich mich traute, die Symptome von Covid-19 zu googlen, weil ich der Überzeugung war, als Österreichs Patient null in meinem Bett zu liegen. Die Grippe habe ich mittlerweile überstanden, ob es vielleicht
»When the world is about to end… take my hand wash your hands.« Aygyul Ein Jahr im »Musikbunker« ———— Zu Beginn jedes Jahres setze ich mich hin und notiere meine Ziele für das kommende Jahr. Der Plan für 2020 war vollgepackt und aufregend: Reisen in neue Länder, Mini-Konzerttouren, in der Wiener Musikszene durchstarten, Youtube-Vlogs zu meinen Reisen, auf Twitch streamen, Musikvideodrehs und die Veröffentlichung meines Debütalbums. Im Februar veröffentlichte ich eine meiner Hauptsingles, »Take My Hand«, als Vorgeschmack auf mein bevorstehendes gleichnamiges Album. Die Hook dieses Liedes »When the world is about to end, take my hand«, stellte sich aufgrund der Pandemie und der damit verbundenen Sorgen und Ängste vieler Menschen bald als prophetisch heraus. Meine Songs entstehen in enger Zusammenarbeit mit der Poetin und Street-Art-Künstlerin Pati Avish. Wir sind immer sehr bedacht, worüber wir schreiben, weil wir beide davon überzeugt sind, dass alles, was wir schreiben, auch Realität wird. Wie konnten wir ahnen, dass nach diesem Release eine Pandemie auf uns zukommt? Wir versprechen jedenfalls, die Welt mit unseren Songs nicht noch mehr in Gefahr zu bringen.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 13
doch das hohe C war, werde ich nie erfahren. Zu dieser Zeit gab es immerhin noch keine Test-Force, die mich hätte besuchen können. Das Unjahr 2020 hatte rund 75 Tage, bevor alles super weird wurde. Wie verheerend es in allen möglichen Bereichen der Gesellschaft war, bedarf keiner genaueren Ausführung. Und trotz der nervenzerreißenden und Facepalmreichen Pressekonferenzen, in denen der Regierungsvierspanner immer weniger nachvollziehbare Maßnahmen referierte, gab es kleine persönliche Hoffnungsschimmer. Um es mit den Worten von Jennifer Rostock aus 2011 zu sagen: »Es war nicht alles schlecht.« Die Zeit des ersten Lockdowns nutzte ich, um meine Bachelorarbeit – samt dem sich schleichend ankündigenden Burnout – um vier Monate aufzuschieben und mich stattdessen in eine finanziell geförderte Psychotherapie zu begeben. Während die Last einer verlorenen Welt täglich schwerer wog, wurde immerhin mein Umgang damit besser und ich emotional stabiler. Außerdem wurde
ich meine FOMO los, weil, na ja, was hätte ich auch verpassen sollen?! Dazu zeigte 2020 Privilegien, wie die eben beschriebenen, deutlich auf. Es war ein Verstärkerjahr. Schnell wurden gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische – kurz: strukturelle – Unzulänglichkeiten offensichtlich. Dass ihnen von offizieller Seite kaum entgegengehalten wurde, steht auf einem anderen Blatt. Allerdings war 2020 auch das Jahr des Aufstehens. Das Jahr der Black-Lives-Matter-Bewegung, die in Wien 50.000 Leute auf die Straße brachte. Damn, what a hell of a ride! 2020, ich glaube, niemand wird dich wirklich vermissen, aber bitte, lasst uns diesen Schwung nicht verlieren. Und vor allem nicht zu einer vermeintlichen 2019er-»Normalität« zurückkehren.
2020 hat zunächst grandios und vielversprechend angefangen. Ich begann, fleißig an meinem Album zu arbeiten und wollte mehr Konzerte in meinem neuen Zuhause Wien spielen. Bis Ende März hatte ich noch eine Aufenthaltsbewilligung als Studentin. Vergangenen Herbst beschloss ich, alles auf eine Karte zu setzen und beantragte mit März zum ersten Mal einen Aufenthaltstitel als selbstständige Künstlerin und war ziemlich sicher, dass ich dieses Jahr eine Menge Konzerte spielen würde. Ich lernte neue Leute kennen und durfte Teil von großartigen Projekten wie Sofar Sounds und »Feng Sushi« sein. Es waren weitere Konzertmöglichkeiten in Aussicht und ich war zuversichtlich. Doch wenig später wurden meine Pläne auch schon durchkreuzt, denn überall auf der Welt wurden allen voran Konzerte abgesagt. Ich arbeitete also weiterhin zu Hause in meinem »Musikbunker«. Mit dem Musikstudio in meiner Wohnung in Floridsdorf darf ich mich glücklich und auch privilegiert schätzen, da ich so nicht auf andere Leute und Räumlichkeiten angewiesen bin. Es fiel mir allerdings schwer, mich zu konzentrieren, weil ich mir viele Sorgen machte, was um mich herum passierte und wie es meinen Verwandten in Russland wohl ginge. Für gewöhnlich sehe ich meine Mama alle zwei Monate im Zuge von Konzerten in meinem Heimatland. Wegen der Pandemie konnte ich sie ganze neun Monate nicht sehen, diese Zeit war daher ganz besonders schwer für mich.
Aufgrund der Informationsflut, der Nachrichten und der kollektiven Angst und Unsicherheit hörte ich bis Ende des Sommers komplett auf, an meinem Album zu arbeiten. Bis ich für ein paar Wochen nach Griechenland reiste, wo ich zum ersten Mal von der Muse geküsst wurde. Während des Lockdowns konnte ich einige Online-Konzerte und -Festivals spielen, was allerdings schlicht nicht vergleichbar ist mit echten Konzerten. Seit März 2020 hatte ich leider nicht wirklich die Chance, meine Songs unisono mit dem Publikum zu singen. Bei Online-Konzerten haben meine Fans zwar immer wieder Kommentare mit einzelnen Songzeilen geschrieben – sie haben quasi im digitalen Raum »mitgesungen« – diese konnte ich oft aber erst nach dem Stream sehen. Die Connection mit einem echten Publikum, die eigentlich eine meiner größten Inspirationen ist, fehlt. Dennoch sollten wir Online-Konzerte neu durchdenken, weil es ganz so aussieht, als würden sie uns noch länger begleiten – und als würden richtige Offline-Konzerte so bald nicht wiederkommen.
Unser Redakteur Sandro Nicolussi ist DJ und Veranstalter im situationsbedingten Zwangsruhestand sowie Medienschaffender unter hohem Status-quo-Frust. Auf Instagram macht er seinem Ärger als @vorarlwiener Luft.
013
Tausche Burnout gegen Totalstillstand Sandro Nicolussi
Aygyul ist eine russische Ex-Opernsängerin straight outta Floridsdorf, die mittlerweile selbst elektronische Musik in ihrem Heimstudio produziert. Sie kombiniert ihre markante Stimme mit elektronischen Beats, Live-Looping und Beatboxing. Das ergibt: eine Fusion aus Pop, Electro und diversen unkonventionellen Einflüssen.
19.11.20 18:05
014
See you next year, Klassenkampf! Nicole Schöndorfer Was für mich durch die Erschwernisse des Jahres 2020 nicht stattgefunden hat: die Revolution ———— Ich bin Ende März umgezogen. Das war mitten in der ersten Phase der kollektiven Corona-Anxiety. Die Stadt war merklich leer, viele Angestellte waren bereits im Homeoffice oder in Kurzarbeit. Es war die Zeit, in der die Singvögel laut Ornitholog*innen entspannter waren, weil sie sich nicht mehr so abmühen mussten, den Straßenlärm zu übertönen, um zu kommunizieren. Rückblickend waren das the most wholesome news of the year. Es war die Zeit, als noch jeden Abend um Punkt 18 Uhr aus den Fenstern geklatscht wurde. Nach neun Monaten der Ausnahmesituation haben die Gehaltsverhandlungen für die ach so hochgelobten Systemerhalter*innen im Handel am Ende nichts als einen Inflationsabgleich und einen sogenannten Corona-Bonus gebracht. Letzterer muss jedoch nur von den Unternehmen ausgezahlt werden, die ihn »sich leisten können«. Autsch. Was für ein Schlag in die vom
Schlechte Zeit für Liebeskummer Oliver Maus Beschäftigungstherapie statt Dating ———— »Fuck Off 2019«, tippe ich. Meine letzte Insta-Story des Vorjahres. Dann filme ich Feuerwerksraketen, die der Partner einer Freundin zündet und lege den Schriftzug »Hi 2020« darüber. Wenig originell natürlich und mein Optimismus für das angebrochene Jahr verebbt auch schon wenig später, als mir der Typ, dem ich verzweifelt die zweite Jahreshälfte 2019 hinterhergelaufen bin, nach drei Monaten zum ersten Mal wieder schreibt: »Frohes Neues« (ArianaGrande-HappyNewYear.gif ). 2020 steht unter keinem guten Stern! Ich bin total der Typ für Neujahrsvorsätze. Das ich mich nicht erinnern könnte, jemals welche umgesetzt zu haben, ändert
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 14
Maskentragen gezeichneten Gesichter derer, die sich der Ansteckungsgefahr täglich aussetzen müssen. Weil die Krise bekanntlich andauert und die Erhalter*innen des Systems es auch weiterhin erhalten sollen, können sie nicht viel machen, außer weiter. Streik? »Um Himmels Willen, doch nicht jetzt!«, würden Liberale schreien. Ja, es ist ärgerlich, dass gerade in einer Zeit, in der sich aufgrund gewisser krisenbedingter Erkenntnisse ein kleines revolutionäres Potenzial aufgetan hat, keine Revolution stattfinden kann, weil man sich dabei mit einem gottverdammten Virus anstecken könnte. In den letzten Monaten hat sich ganz klar gezeigt, welche Jobs in unserer Gesellschaft wirklich gebraucht werden, wie achtlos Unternehmensführungen mit Mitarbeiter*innen umgehen, wenn sich der Profit, den sie dank deren Arbeit Monat für Monat abgeschöpft haben, aufgrund der fehlenden Aufträge dezimieren könnte. Sie setzen sie vor die Tür. Es gibt in Österreich so viele Arbeitslose wie noch nie in der Zweiten Republik. In anderen Ländern sieht es nicht besser aus, während Jeff Bezos, Elon Musk und Co ungebrochen Milliarden einstecken. Nachdem mehrheitlich Frauen immer schon Job, Kinder, Pflege und Haushalt vereinbaren mussten, kam
aufgrund der geschlossenen Schulen noch Homeschooling dazu. Etablierte Medien haben irgendwann wenig überraschend wieder aufgehört, die anfangs noch interessanten »Held*innen des Alltags« zu beleuchten. Dennoch haben mehr und mehr Menschen erkannt, dass das vorherrschende Wirtschaftssystem absolut nicht nachhaltig ist und Regierende beim Krisenmanagement eben nicht das Wohl der Bevölkerung, sondern das des Kapitals im Sinne haben. Diese frohe Kunde verbreitet sich nach wie vor. Trotz all der Erschwernisse war und ist dieses Jahr ein Jahr des Widerstandes und des globalen Klassenkampfes. Man kann nur erahnen, welche massive Wucht die Verzweiflung und Wut der Menschen hätte, wenn es kein Ansteckungsrisiko geben würde, das viele auch zurecht davon abhält, auf den Straßen aufzubegehren. Es gab 2020 zwar noch keine Revolution, aber wenn erst alle geimpft sind, ist es over for you bitches.
daran nichts. Ich wollte dieses Jahr meine Masterarbeit fertigschreiben, fotografieren, monatlich irgendetwas Artsy-Cooles auf Instagram posten und in irgendwelchen Kellern DJ-Sets spielen. Als der Lockdown ausgerufen wird, komme ich gerade aus Indonesien zurück, wo ich an einem Performanceprojekt mitgearbeitet habe und falle nun in ein tiefes Loch. Ins Bodenlose. Vor allem deswegen, weil dieser Lockdown eine Kurzzeitromanze ruiniert, in die ich mich ab Februar komplett verrannt habe. Eine ganz schlechte Zeit für Liebeskummer, habe ich jetzt nämlich viel Zeit, daheim zu sitzen und die Sinnlosigkeit meiner Existenz, unser aller Existenz zu beklagen. Im Homeoffice arbeite ich an Förderanträgen mit, die Projekte skizzieren, von denen niemand weiß, ob sie stattfinden werden können. Alles, was ich mache, wird sich für den Rest des Jahres wie Beschäftigungstherapie anfühlen. Andere Menschen werden kreativ.
Die Clubs haben zu? Dann wird das DJ-Set eben live gestreamt. Die Galerie, die mich ausstellen wollte, sperrt zu? Let’s do digital art! Und es backen jetzt alle. Statt »das Beste aus dem Jahr zu machen«, lenke ich mich einfach nur weiter ab. Alles, was mir unterm Strich von 2020 bleibt, sind in einem Wahn eingekaufte Sukkulenten, zwei überflüssige Syphilis- und ein ChlamydienTest, ein anstaubender DJ-Controller sowie eine im Februar zuletzt verwendete Analogkamera. Alles, was mich im Jänner inspiriert hat, lässt mich ab März absolut kalt. Wieso versuchen, etwas Standhaftes aufzubauen, in einer Welt, in der es keine Stabilität und Verlässlichkeit mehr gibt? Ich freue mich schon auf meine unoriginelle »Fuck Off 2020«-Insta-Story.
Nicole Schöndorfer ist freie Journalistin und Aktivistin in Wien. Sie beschäftigt sich mit feministischen und klassenpolitischen Themen, u. a. in ihrem wöchentlichen Podcast »Darf sie das?«
Unser Bühnen- und Theaterredakteur Oliver Maus, 27, arbeitet überwiegend innerhalb der Kulturszene und ist lebensfroher, als sein Text vermuten lässt.
19.11.20 18:05
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 15
19.11.20 18:05
Ein Jahr ohne Höhepunkte Josef Jöchl
016
Leere Seiten im queeren Kalender ———— Schon am 10. März wollte ich eigentlich aufs DIIVKonzert, darauf hatte ich mich wochenlang gefreut. Am meisten haben mir persönlich aber die Ereignisse gefehlt, die in den letzten Jahrzehnten den Jahreslauf für mich ordneten. Das betrifft zum Beispiel die ganze queere Folklore. Relativ bald nach dem Lockdown wurde angekündigt, dass an Stelle der Regenbogenparade ein Autokorso über den Ring ziehen würde, mit Startgeld und ohne Barrierefreiheit. Was anfangs alle für einen Scherz hielten, wurde Mitte Juni bittersüße Wirklichkeit.
Das ist also dieses Netzwerken, von dem alle sprechen Sarah Wetzlmayr Papierstrohhalm, aber als Lebensgefühl ———— Vor meiner Arbeit für das Wirtschaftsmagazin Sheconomy hatte ich keinen blassen Schimmer davon, dass es rund 200 Frauennetzwerke in Österreich gibt. Genauso wenig wusste ich darüber Bescheid, wie dieses Netzwerken überhaupt funktioniert. Als ich es schließlich verstanden und gerade in mein Leben integriert hatte, war es damit auch schon wieder vorbei. Es ist September 2019 und ich stehe im Innenhof eines Restaurants irgendwo in der außergewöhnlich hässlichen Stadt Frankfurt herum. In einem Meer aus stylishen Hüten bin ich ständig auf der Hut und in meinem zuckersüßen Getränk schwimmt ein biologisch abbaubarer Papierstrohhalm, der sich am unteren Ende bereits aufzulösen beginnt. Schwammig fühlt sich auch mein Gehirn an, das seit rund einer halben Stunde perfekte Small-Talk-Einstiegssätze (»Hi, mein Name ist Sarah, ich schreibe Texte und ich habe zwei Pferde.«) zu memorieren versucht. Ich sehe anderen Frauen dabei zu, wie sie sich lachend unterhalten und Kontakte austauschen. Vermutlich über Linkedin. Ich stelle mein Glas mitsamt Papierstrohhalm auf einem Tableau ab und hoffe, dass mich mein Schwamm
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 16
98 Prozent meiner Bubble besitzen kein Auto und die restlichen zwei haben zwar eins, aber hängen es nicht an die große Glocke. Es gab dann wie immer Pinkwashing und man machte das Beste draus. 200 Leute gingen trotzdem einen Drag-Walk über die Mahü, was dem Tag dann doch noch ein bisschen Zauber verlieh. Aber der gewohnte Feiertag, an dem Wien queere Hauptstadt Mitteleuropas ist, war es nicht. Auch kleinere Fixpunkte wie der Tunta thlon fielen aus, so wie Festivals von Hyper reality abwärts oder auch so ganz banale Sachen wie Geburtstagsfeiern, auf die man jedes Jahr geht. Was hätte ich heuer Lust gehabt, irgendwas zu backen oder eine geheime Whatsapp-Gruppe zu gründen, wo dann irgendeine Überraschung geplant wird. Seit es wieder möglich ist, gehe ich ständig ins Kino, wie von einer Angst getrieben, es könnte sonst plötzlich nicht mehr da sein.
Es fehlten mir alle Dinge, die online nicht dasselbe sind. So wie meine eigene OneMan-Show, mit der ich ebenfalls im März Premiere gefeiert hätte. Das fand ich im Vergleich gar nicht so schlimm, weil ich sowieso nicht fertig geworden wäre. Kurz hatte ich mir überlegt, das Ganze einfach zu streamen. Aber zu der Zeit streamten ja alle, wenn sie nicht gerade an ihren Podcasts schraubten, deshalb hab ich’s dann gelassen. Mein Mitgefühl gilt allen Kulturschaffenden und -ermöglichenden, die mehr Verantwortung tragen, als neun Monate auf ein paar Word-Files aufpassen zu müssen. Es wird dann auf alle ankommen, wieder mit Stadtleben anzufangen und seine Unterstützung an die richtigen Orte zu tragen.
gehirn morgen daran erinnert, mein äußerst spärlich ausgestattetes Linkedin-Profil mit etwas Leben zu füllen. Das ist also dieses Netzwerken, von dem alle sprechen. Es ist November 2019 und ich weiß nicht, was ich von der eben gehörten Panel-Diskussion, die ich für Sheconomy besucht habe, halten soll. Das hat mehrere Gründe, wobei keiner davon für diesen Text von Bedeutung ist. Viel wichtiger ist, dass mir mittlerweile klar ist, dass es in Österreich mehr als 200 Frauennetzwerke gibt. Und ich weiß auch, dass Small Talk gar keine so hohe Kunst ist, wie diverse Ratgeberbücher einen gerne glauben lassen. Wenn ich das für mich immer noch ein wenig furchteinflößende Wort »Netzwerken« von dieser Art des Austauschs subtrahiere, dann habe ich sogar richtig Spaß daran. Ich sehe den anderen Frauen dabei zu, wie sie sich lachend unterhalten und stelle mich dazu, weil ich heute eh noch nicht allzu viel zu lachen hatte. Auf jeden Fall noch nicht genug. Und mit dieser Art des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung habe ich auch noch nicht abgeschlossen. Ganz im Gegenteil. Es ist Mai 2020 und ich bin am Ende einer digitalen Konferenz eines Frauennetzwerks in einer Networking-Session gelandet. Ich habe das Gefühl, dass die anderen Teilnehmerinnen direkt durch mich hindurch in meinen unaufgeräumten Mikrokosmos blicken können, was natürlich absoluter Bullshit ist. Ich denke an mein erstes Netzwerktreffen in Frankfurt zurück, an den schwammigen Strohhalm und
daran, dass ich mir damals zu 100 Prozent sicher war, in einem Meer aus Hüten ertrinken zu müssen. Aber auch daran, wie ich nach dem Event mit Julia, einer Digitalexpertin der Deutschen Bank, durch einen gar nicht so hässlichen (man glaubt es kaum) Teil Frankfurts spaziert bin. Ich habe ihr von meinen Pferden erzählt und sie mir davon, dass sie dauernd zu spät kommt. Ich erinnere mich an die angenehme Nähe all dieser großartigen Frauen, die ich bei weiteren Treffen kennenlernen durfte, an die Wärme, die mich jedes Mal umschlossen hat, wenn ich mich dazu entschlossen hatte, sie zuzulassen. Ich weiß noch, wie verwundert ich am Anfang darüber war, dass es bei diesen Treffen scheinbar dazugehört, die anderen Frauen immer wieder lautstark auf ihrem Weg zu bestärken. Und ich weiß auch noch, wie ich begonnen habe, es selbst zu tun. Bis es plötzlich vorbei und man von einem Tag auf den anderen auf Zoom und die möglichst akkurate Deutung permanent unscharfer Gesichtszüge angewiesen war. Ich widerspreche Tocotronic normalerweise gar nicht gerne, aber in diesem Fall muss es sein: Digital ist nicht (immer) besser.
2020 gab es für unseren Sexkolumnisten Josef Jöchl nix Fixes.
Obwohl ihr Herz damals noch an der Literatur wissenschaft hing, blieb Sarah Wetzlmayr nach ihrem Praktikum bei The Gap 2015 irgendwie in der Medienwelt picken. Aktuell betreut sie die Online-Redaktion des Wirtschaftsmagazins Sheconomy und schreibt für die Magazine Chapter und Bühne. Und eben für The Gap.
19.11.20 18:05
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 17
19.11.20 18:05
Erika Ratcliffe for President Erika Ratcliffe
Rassisten sind scheiße und alle sind Rassisten! Stürzt das System! Welches System? Dieses System! Erfolgreiche und berühmte Menschen haben eine Meinung zu allem und provozieren gerne. Das werde ich jetzt auch machen. 2021 wird mein Jahr! Das chinesische Virus ist chinesisch und Michael Niavarani ist ein Mann! Aber ab wann weiß man eigentlich, dass man erfolgreich ist? Wissen erfolgreiche Menschen, dass sie erfolgreich sind? Wie misst man den Erfolg? Sind nicht im Endeffekt alle Menschen erfolgreich, die genug Essen und ein Dach über dem Kopf haben? Aber ein fetter Mercedes wäre schon nice. Vielleicht ist man erst erfolgreich, wenn man unnötige Dinge besitzt, die zu viel CO2 ausstoßen. Für 2021 nehme ich mir vor, einen Mercedes zu kaufen. Das ist mein Ziel. Und mit Kanye West nach Texas fahren. Keine Steuern zahlen. Zusammen retten wir die Welt.
Mit dem weltweiten »Awakening« der Mehrheitsgesellschaft im Zuge der globalen Proteste, aber vor allem mit dem #BLMHype-Sommer in Wien haben wir nochmals gespürt, wie diese Räume fehlen und dass die Straßen Wiens – sowie auch anderswo – als öffentlicher Raum nicht für alle dasselbe bedeuten. Auch wenn es uns teilweise gleichzeitig die Sprache verschlagen hat, wie viele Personen letztendlich doch mit uns auf die Straße gegangen sind, hat das Ganze doch sehr wohl ein »G’schmäckle«. Denn viele Akteure der Kulturbranche haben versucht, sich mit der Black-Lives-Matter-Bewegung in Solidarität zu üben, doch aktives Übernehmen von Verantwortung in der Clubkultur Wiens blieb größtenteils aus. Es ist schwierig, der ausgesprochenen Solidarität nicht skeptisch gegenüberzustehen, wenn man die oft extrem problematische Türpolitik einiger Clubs dieser Stadt bedenkt, die systematisch nicht inklusiv geführt wird. In dieser Krise wird uns wieder bewusst, wie sehr die Verantwortung und die Lösungsfindung für diese Probleme zum einen auf die Betroffenen selbst und gleichzeitig auf das
Individuum gestülpt werden, statt beispielsweise eine Infrastruktur bereitzustellen, die Betroffene nachhaltig unterstützt. Ohne den Artikel mit Toxic Positivity abschließen zu wollen: Doch auch diese Krise zeigt uns einfach, wie wichtig die Räume, die wir schaffen, sind – seien es die Partys oder die Panels. Wie wichtig es ist, in Wien einen Raum zu schaffen, in dem wir sein können, haben die Proteste verdeutlicht, die dieses Jahr im großen Stil stattgefunden haben. Seien es #BLM-Demos, die #Endsars-Proteste in Solidarität mit jenen in Nigeria oder auch die, die sich gegen die entwürdigenden Verhältnisse in Moria ausgesprochen haben.
Erika Ratcliffe ist eine aus Wien stammende Stand-up-Comedian und lebt in Berlin. Sie ist im Bezirk Donaustadt aufgewachsen, wo sie zu schimpfen gelernt hat.
018
Konkurrenzanalyse, ohne Namen zu nennen ———— Leider hat wegen der Pandemie mein großer Durchbruch als Comedian, Genie und Allroundtalent nicht stattgefunden. Ich gebe voll und ganz Covid-19 die Schuld dafür. Natürlich hinterfrage ich aber als reflektierter Comedian auch meine Kunst: Erzähle ich vielleicht zu viele Furzwitze? Sollte ich auch sagen, dass Juden willige Weiber wollen und nicht nur Geld? Oder soll ich sagen, dass Juden nur Geld wollen und keine Weiber? Was kam zuerst, die Weiber oder das Geld? Das Huhn oder das Ei? Der Holocaust oder die Satire? Ab wann ist man antisemitisch und ab wann ist man eine intellektuelle Satirikerin? Ich denke, sobald drei weiße Männer die gleiche Meinung haben, gilt man automatisch als kluge Kabarettistin. Somit ist man vom Antisemitismus und Rassismus befreit.
Die drei weißen Männer: Gerhard, Hans und Wilhelm sind der gleichen Meinung. Genau, das N-Wort kann ich benutzen. Gerhard sagt, das ist okay! Zurück zum Thema. Oder soll ich sexy Bilder von mir posten, um erfolgreich zu werden? Fuck, das habe ich schon versucht. Soll ich auf Tiktok tanzen und eine Wassermelone mit meinem Gesicht zerschlagen? An mangelnder Intelligenz oder an meinem Aussehen kann es nicht liegen, dass ich den großen Durchbruch dieses Jahr nicht geschafft habe. Schließlich bin ich überdurchschnittlich intelligent und ich schaue aus wie eine asiatische Sexbombe. Vielleicht sollte ich als US-amerikanische Präsidentin kandidieren, um erfolgreiche Kabarettistin in Österreich zu werden. So wie Kanye West. (Okay, Kanye West ist kein erfolgreicher österreichischer Kabarettist. Aber ihr wisst, was ich meine.) Ich sage, ich bin der Messias, der die Freiheit und den freien Willen verteidigt. Scheiß drauf. Von mir aus erzähle ich auch, dass Masken scheiße sind und man von 5G Krebs bekommt. Man muss außergewöhnlich sein. Schwarz-weiß denken. Alle
Uff, 2k20! Bad & Boujee Verantwortung und Lösungsfindung ———— Was dieses Jahr für uns nicht stattgefunden hat? Unsere Partys, natürlich. Es waren einige Indoor- und Outdoor-Events geplant sowie die Tour mit der Rapperin Ebow, auf die wir eben auch durch das Veranstaltungsverbot verzichten mussten. Wir haben, wie viele andere, mal hier, mal da aufgelegt: Stand 129, Kultursommer Wien, Motto am Fluss, Alvozay InstagramLivestream und Festival, #BLM- und #Endsars-Demos in Wien. Aber zum einen: What’s a DJ without a crowd? – bedenkt man die Gigs, die nur virtuell stattgefunden haben. Und zum anderen geht es bei unseren Partys in erster Linie nicht um das bloße Feiern, nicht um den bloßen Hedonismus. Wir versuchen vielmehr, den ursprünglichen Charakter der Clubkultur wieder aufblühen zu lassen, indem wir Räume schaffen, die vor allem marginalisierten Gruppen ein Zusammenkommen erlauben. Uns wurde dieses Jahr die Wichtigkeit dessen noch einmal vor Augen geführt.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 18
Bad & Boujee, Österreichs erstes »all black femme DJ / MC collective«, wurde von den gebürtigen Wienerinnen Elisabeth Mtasa und Enyonam Tetteh-Klu gegründet. Gemeinsam mit ihren Resident-DJs Tonica Hunter und Tmnit Ghide sowie Resident-MC Tanya Moyo veranstalten sie Events und schaffen dabei Räume, die sich als inklusiv verstehen, für Personen jeglicher Herkunft oder sexueller Orientierung und Identität.
19.11.20 18:05
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 19
19.11.20 18:05
020 The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 20
19.11.20 18:05
Golden Frame Zeitgenössische Kunst im angemessenen Rahmen
Linda Steiner und David Leitner, »Ohne Titel«, 2020, Acryl auf Leinwand. Foto: Blanca Amoros The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 21
»Ohne Titel«, das Bild mit den beiden Gesichtern, die wie ein Puzzle aus geometrischen Formen, Blumen und Händen über einen Nachthimmel fließen – es hätte eigentlich seit Anfang November in der AG18 Urban Art Gallery in Wien im Rahmen der Ausstellung »Beyond Dystopia – Hopeful And Catastrophic Futures Of Public Spaces & Cities« zu sehen sein sollen. Aber dieses Jahr verlaufen die Dinge ja schon längst nicht mehr nach Plan. ———— Bereits Anfang 2020 schloss sich die AG18 Urban Art Gallery mit der Kulturplattform Improper Walls zusammen, um gemeinsam mit der Entwicklung des Ausstellungskonzepts zu beginnen. »Wie stellt sich eine globalisierte und mobile Generation, die in verschiedene Länder reist, um Erfahrungen und Inspiration zu sammeln, die urbane Zukunft vor?«, lautete die Ausgangsfrage. Deren Bedeutung und Aktualität waren zu diesem Zeitpunkt allerdings noch ungeahnt. Es wurden die zwölf jungen in Österreich lebenden Urban Artists und MalerInnen Linda Steiner, Käthe Löffelmann, Mariella Lehner, Moiz, Colin Linde, HNRX, David Leitner, NDZW, Jakob der Bruder, Golif, Vunik und FATI ausgewählt, um eine Ausstellung zu erschaffen, die diesen Grundgedanken widerspiegelt. Die Kunstwerke sollten dabei nicht die Zukunft abbilden, sondern den aktuellen und realen Zustand der Welt zeigen. Das Ergebnis ist ein offener Diskurs über eine hoffnungsvolle und katastrophale Zukunft geworden, in dem den BesucherInnen die Möglichkeit bleibt, sich ihre eigenen Geschichten auszudenken. Dieser Blick in die Zukunft kann mitunter als Motivation dienen, die Art und Weise der täglichen Arbeit zu ändern. Auch kann er die vorherrschenden Trends in Frage stellen. Oder aber Strategien schaffen, um voranzukommen. Das hier abgebildete Ausstellungsstück »Ohne Titel« von Linda Steiner und David Leitner ist ohne wirkliches Konzept, sondern kollaborativ und intuitiv entstanden, indem die KünstlerInnen ihre Stile haben zusammenfließen lassen. »Das ist das Gute an Kollaborationen, wenn beide einen eigenen Stil haben und nur durch die Kombination dieser etwas Neues entsteht«, findet David. Aus Lindas ursprünglicher Idee, eine Wand im öffentlichen Raum zu malen, wurde eine Leinwand. »Das war für mich das erste Mal, dass ich eine Leinwand mit jemandem bemalt habe«, erzählt Linda. Während die Geometrie in Davids Arbeiten eine charakteristische Rolle spielt, waren Farben bis jetzt noch Neuland für ihn. »Linda hat da ein besseres Auge«, sagt er. »Durch die ungewohnte Zusammenarbeit haben wir uns gegenseitig gepusht, aus unserer Komfortzone herauszutreten«, beschreibt Linda den Prozess. Zum Ergebnis sagt sie: »Die / der BetrachterIn ist eingeladen, selbst darin nach Bedeutung zu suchen. Wir haben alle Voraussetzungen dafür gegeben.« Und das könne durchaus auch gar nichts sein, findet David. Im Vergleich zu Bewegtbild ist Malerei für ihn viel subtiler: »Sinnlich und poetischer. Sie muss nichts auslösen.« Emily Staats
021
Linda Steiner und David Leitner: Geteilte Leinwand »Beyond Dystopia« in the Middle of Dystopia
Unter anderem Linda Steiners und David Leitners kollaborative Arbeit ist nach dem Lockdown bis 30. Jänner im Rahmen von »Beyond Dystopia« in der Galerie AG18 in Wien zu sehen. Die Ausstellung wurde gemeinsam mit Improper Walls umgesetzt.
19.11.20 18:05
This art is bananas Street-Art ist in Linz zu Hause
022
Die Ausstellung »Graffiti & Bananas« im NORDICO Stadtmuseum und zahlreiche Outdoor-Werke im Mural Harbor geben Linzer Street-Art einen gebührlichen Rahmen. Wer mehr über die Szene in der oberösterreichischen Landeshauptstadt erfahren will, wird hier schlauer.
© OÖ Tourismus / Robert Maybach
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 22
19.11.20 18:05
Graffiti im NORDICO Stadtmuseum Auch in Linz sind zahlreiche renommierte Street-Art-KünstlerInnen beheimatet, bereits in den 1980er-Jahren hat sich hier eine richtige Szene formiert. Das NORDICO Stadtmuseum widmet sich in der ausführlichen Ausstellung »Graffiti & Bananas« den Strukturen und der Entstehung dieser Street-Art-Szene. Mit gesellschaftspolitischen Fragen nach öffentlichem Raum und Fremdbestimmung im Hinterkopf legt Kuratorin Klaudia Kreslehner ein besonderes Augenmerk auch auf unautorisierte Kunstaktionen. Ähnlich wie das illegale Rave die Clubkultur bestimmt, spielt die gesetzwidrige, künstlerische Bearbeitung von öffentlichem Raum eine große Rolle in den örtlichen Kunstszenen. »Wenn man mit offenen Augen durch die Stadt geht, ist das wie eine Entdeckungsreise – eine Stadt in der Stadt. Subversiv, widersprüchlich, charmant, rotzfrech, systemkritisch, politisch«, sagt Kreslehner. Dass Linz bereits in den 1980ern eine beachtliche Street-Art-Szene vorweisen konnte, erklärt sich die Kuratorin übrigens mit der Nähe zu München, das als eine der ersten »Graffiti-Städte« in Europa
Auf 135 Hektar Außenfläche zeigt der Mural Harbor unter anderem 23 Murals über hundert Quadratmeter Wandfläche und acht Murals über 500 Quadratmeter Wandfläche.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 23
Ausstellungsansicht »Graffiti & Bananas. Die Kunst der Straße«, NORDICO Stadtmuseum Linz, 2020, Foto: Norbert Artner
gilt. Der Sprung von Street-Art als Jugend- und Subkultur hin zur Erwerbsarbeit durch bezahlte Aufträge konnte so auch in Linz vor allem jenen, die seit Anbeginn dabei waren, gelingen.
Der Linzer Hafen als Outdoor-Galerie Laut Cambridge Dictionary ist ein »mural« ein »großes Bild, das auf die Wand eines Raumes oder Gebäudes gemalt wurde«. Von jenen gibt es im Linzer Mural Harbor sehr, sehr viele – um genau zu sein mehr als 300 Werke von heimischen und internationalen KünstlerInnen wie dem Spanier Aryz, dem Belgier Roa oder dem kalifornisch-österreichischen Kollektiv Lords. Somit steht in Linz Europas größte Graffiti- und Muralismo-Galerie. Aber auch im weiteren Stadtgebiet sind immer mehr Murals und Fassadenmalereien zu finden. Zum Beispiel am Gebäude des Kulturvereins Kapu – ein zentraler Treffpunkt der oberösterreichischen Musikszene, wo etwa auch die ersten beiden Alben des Pop-Duos Leyya entstanden sind. Und weil es die Außenmauern so an sich haben, dass sie outdoor bestaunt werden können, ist der Mural Harbor die perfekte Corona-sichere Kunstgalerie. Von schwarz-weißer Skizzenästhetik über neonfarbene Comicvibes bis hin zu klassischeren Gemäldetechniken deckt die künstlerische Bandbreite der Murals viele Street-Art-Facetten ab. Der Mural-Walk-Rundgang mit der rahmenden Expertise eines Tour-Guides dauert übrigens circa eine Stunde. Danach dürfen die BesucherInnen sogar selbst zur Spraydose greifen – vielleicht wirst ja gerade du der nächste große Name in der Street-Art-Szene. Wenn der Sprayfinger bei dir nun schon gehörig locker sitzt, solltest du nach dem Lockdown ein Linz-Wochenende voller Street-Art buchen. Als besonderes Angebot bietet Linz Tourismus ein Wochenende Linz in voller Pracht mit zwei Übernachtungen in einem selbstgewählten Hotel inklusive Frühstück und einer 3-Tages-Linz-Card an. Alle Infos hierzu auf www.linztourismus.at. »Graffiti & Bananas« im NORDICO Stadtmuseum ist noch bis Frühjahr 2021 zu sehen. Der Mural Harbor ist ganzjährig rund um die Uhr zu besichtigen – Termine für Guided Tours findest du auf www.muralharbor.at.
PR O MOTI ON
Street-Art war lange die Stieftochter in der Kunstfamilie. Abgetan als Problem für die jeweiligen Stadtregierungen, wurde das künstlerische Potenzial von Fassadenkunst lange kleingeredet. Doch allerspätestens mit dem globalen Hype um den / die anonyme KunstaktivistIn Banksy hat sich auch die Kunstwelt damit abgefunden, dass Großartiges manchmal einfach auf der Straße liegt.
023
Das NORDICO Stadtmuseum zeigt in der Ausstellung »Graffiti & Bananas«, wie die Linzer Street-Art-Szene gewachsen ist.
19.11.20 18:05
Michel Attia gilt als »einer der Kenner des Musik- und Szenegeschehens« (Rainer Krispel in The Gap 057). Er ist Head of Booking & Events bei FM4 und zählte zu den ersten The GapRedakteurInnen überhaupt. Für die finale Ausgabe des laufenden Jahres hat er für uns die seiner Meinung nach erfolgversprechendsten österreichischen Acts 2021 zusammengestellt. ———— Die zehn Acts auf dieser Liste zählen meiner unbescheidenen Meinung nach aktuell zu den aufregendsten Must-Watch-Talenten aus Österreich. Im Wesentlichen gab es nur ein einziges Kriterium, um als NewcomerIn zu gelten: Es darf noch kein Album erschienen sein. Aber worum genau geht es bei Michel’s Sound of Music 2021? Angelehnt an die legendäre Shortlist der BBC (»Sound of …«) geht es in erster Linie darum, Potenziale aufzuzeigen – kreative und künstlerische, professionelle und exporttaugliche. Ich wage mich an ein Best-of aus zwei Welten: Musik und Business, die sich seit geraumer Zeit mehr und mehr verschränken. Es fällt auf, wie jung die meisten Musi kerInnen in dieser Liste sind (fast alle deutlich unter 30). Wie hoch der Anteil an Musikerinnen mittlerweile ist (die ersten vier in den Top Ten). Wie groß die Rolle der Familie bei vielen Acts spielt (Billie Eilish und ihr Bruder Finneas O’Connell lassen grüßen). Wie viele davon noch nie live aufgetreten sind (vor allem natürlich wegen Corona). Es ist schön zu beobachten, dass neue Musik aus Österreich und das Set-up drumherum wie selbstverständlich international geworden sind. Diese Top-Ten-Liste soll dazu beitragen und Lust machen reinzuhören – egal ob als MusicLover oder -Professional. Michel Attia
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 24
Florence Arman Selten hat mich eine Newcomerin so überzeugt wie die in Wien lebende 25-jährige Britin Florence Arman. Und nicht nur mich: Acht Label-Offers (ohne einen einzigen Release) und 35 Anfragen von A&R-ManagerInnen in der ersten Woche nach dem Release ihrer Debütsingle »Naked« Mitte Juli 2020 sprechen eine deutliche Sprache. Und sie hatte noch nicht mal einen einzigen Liveauftritt als Florence Arman (bzw. nur einen unter dem Pseudonym Klei). Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wann ein Act aus Österreich das letzte Mal ein derart großes internationales Potenzial, kombiniert mit einem derart guten internationalen Setup, hatte. Selbst auf BBC Radio 1 gab es schon erste Handeinsätze ihrer zweiten Single »In A Heartbeat«. Und die kommenden zwei Singles »Home« und »Out Of The Blue« sind sogar noch stärker. Nachdem sie im Hintergrund schon seit knapp drei Jahren erfolgreich als Songwriterin tätig ist und mit Acts wie The Kooks, G Flip oder Cro zusammengearbeitet hat, ist es jetzt Zeit für ihre eigene internationale Popkarriere.
01
Flo Moshammer, Tim Cavadini (2), Rea von der Liszt
024
Michel’s Sound of Music 2021 Die zehn spannendsten NewcomerInnen aus Österreich
19.11.20 18:05
Flo Moshammer, Tim Cavadini (2), Rea von der Liszt
Sharktank Mit Sharktank haben wir den aktuell wohl meistgespielten Radio-Act in den Top Ten. Die Single »Washed Up« hielt sich nicht nur für mehrere Wochen an der Spitze der FM4-Charts, sondern eroberte auch international die Radiosender und verzeichnete weltweit mehr als 600 Einsätze pro Woche. Es ist tatsächlich nur schwer möglich, der charmanten Fusion von Indie-Pop und HipHop zu widerstehen, zu verspielt und catchy kommen die Songs des Wiener Trios daher. Eigentlich ein Soloprojekt des Rappers Mile, dem sich nach wenigen Studiotagen Produzent Marco Kleebauer (der u. a. bei zwei Bilderbuch-Alben maßgeblich beteiligt war) angeschlossen hat und das kurze Zeit später von Katrin Paucz (die u. a. in der Live-Band von Oehl spielt und mit 20 Jahren die jüngste Musikerin in diesen Top Ten ist) endgültig ergänzt wurde. Sharktank sind noch nie live aufgetreten und dennoch ist es von allen hier gelisteten Acts gerade ihr Konzert, auf das ich mich am meisten freue. Crossover im allerbesten Sinne, Genres überwindend und auf der Höhe der Zeit. Ihr Feel-Good-Sound wird noch viele Menschen glücklich machen.
Oska Florence Arman ist ebenfalls Fan von Maria Burger alias Oska und hat sogar bei dem Song »Somebody« mitgeschrieben. Wenn ein weiblicher Act einen männlichen Namen – ihr ältester Bruder heißt Oskar – und so einen Sound hat, muss ich an das weibliche Musikduo Boy denken. Ein Song wie »Love You’ve Lost« könnte, rein musikalisch gesehen, locker auch von denen sein. In den Niederlanden hatte die 24-Jährige im Herbst 2019 einen Auftritt in einer großen TV-Show (als Gast von Haevn) und im Winter wurde »Come Home« für die landesweite TV-Kampagne von ANWB (vergleichbar mit unserem ÖAMTC) verwendet. Anfang 2020 wurde der Nettwerk-Label-Chef höchstpersönlich auf sie aufmerksam und wenig später war Oska aus dem Waldviertel auch schon in Kanada gesignt. Mit ihrer ausdrucksstarken, gefühlvollen Stimme und ihren schönen, melancholischen Liedern hat sie vor wenigen Wochen den vom Waves Festival initiierten XA – Music Export Award 2020 gewonnen. Da kommt garantiert noch viel mehr auf sie und uns zu.
02
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 25
025
03
Wallners Nicht nur Florence Arman kommt aus einer musikalischen Familie, auch die Wallners musizieren seit frühester Kindheit miteinander. Die vier Geschwister aus Wien sind in dieser Konstellation trotzdem noch nie live zusammen aufgetreten. Nicht mal ein Management haben sie. Ziemlich mutig so eine gänzlich unbekannte, Demos verschickende Band zu signen – noch dazu für ein Major-Label. Aber vielleicht hat Universal Music Österreich damit nach langer Zeit wieder einen international erfolgreichen Act an Land gezogen. Vorausgesetzt, die Partnerländer ziehen mit. Der geschliffene Dreampop der Wallners hätte jedenfalls das Potenzial: hypnotisch, harmonisch und harmlos. Der starke Hall tut ein Übriges und haucht den Songs eine leichte melancholische Sehnsucht ein. Schönere Wiegenlieder wird es aus Österreich jedenfalls nicht so bald geben. Das kann man – ähnlich wie bei artverwandten Bands wie Cigarettes After Sex oder Beach House – spannend oder langweilig finden. Ich bin sehr für spannend.
04
19.11.20 18:05
Freude Cley Freude alias Freude ist bei Sony Music Österreich unter Vertrag und einer von nur zwei auf Deutsch singenden Interpreten in dieser Liste. Der 24-jährige Singer-Songwriter erinnert beim ersten Hören an eine Wiener Version von Faber. Die Hamburger Schule ist ihm wohl auch ein Begriff. Seine größte Stärke ist seine größte Schwäche: Er sitzt mit seinem Sound und seinen Texten zwischen den Stühlen. Die Songs sind treibend und fordernd, die Texte eigen und engagiert und nicht unbedingt radiokompatibel. Es geht um Themen wie Tod, Stalking oder Alkoholismus. Für die deutsche Medienlandschaft soll das die zuverlässige PR-Agentur Factory 92 richten. In Österreich gab es bei Ö3 abends immerhin schon ein paar Handeinsätze seiner Debütsingle »Sabine« – zugleich auch sein erster musikalischer Gehversuch überhaupt. Das nenne ich talentiert. Und so ganz nebenbei moderiert Freude noch einen Podcast (»Ein Leben redet mit C. Freude«) und gibt ein Magazin (Achterbahn) heraus. Ex-Musikjournalist Benjamin von StuckradBarre hat sich schon als Fan geoutet. Weitere werden bald folgen.
Mike Vallas Streng genommen hat Mike Vallas hier bei den NewcomerInnen nichts verloren: Er war nämlich schon 2018 bei Sony Norwegen gesignt und hatte da zwei millionenfach gestreamte Singles. Aber das hat außerhalb von Norwegen kaum jemand mitbekommen. Zwei Jahre später wurde er von Universal Music Österreich unter Vertrag genommen, die bei seinem Mainstream-Pop mit leichtem EDM-Einschlag nach wie vor großes Potenzial sehen. Dass er im deutschsprachigen Raum bereits einer der größten Storyteller auf Tiktok ist (1,3 Millionen Follower), war dafür gewiss mitausschlaggebend. Und auch auf Instagram (220.000 Follower) ist er stark. Mit »The Other Side« war er sogar in den Top 40 der österreichischen Airplay-Charts vertreten. Live ist er bisher allerdings noch nie aufgetreten. Einer seiner beiden Manager ist aus Schweden und das zeigt auch schon ganz gut welches Swedish-House-Mafia-Potenzial in ihm stecken könnte. Der 24-jährige Oberösterreicher Mike Vallas ist jedenfalls auf Kurs.
026
05
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 26
Cloudelvis Das Wiener Trio Cloudelvis hat von allen Acts hier vielleicht den eigenständigsten Sound und ist sozusagen der Underground-Tipp in den Top Ten. Die »boyband on acid« kam im August 2020 plötzlich mit ihrer Debütsingle »Diamondring« um die Ecke und gibt sich ziemlich geheimnisvoll. Ein verwirrendes Pressefoto, ein sphärisches Musikvideo und ein verstörendes Interview auf FM4 waren die ersten Lebenszeichen einer Band, die wie ein anonymes, unfertiges Kunstprojekt wirkt. Wer dahintersteckt, weiß man jedenfalls nicht so genau (es handelt sich angeblich um bereits bekannte Musiker). Live sind Cloudelvis noch nie aufgetreten. Was da noch auf uns zukommt, weiß man hingegen schon etwas genauer: hipper, analoger Elek tro-Pop, der immer wieder an die Kollegen von Tame Impala, manchmal auch an New Order oder The Flaming Lips erinnert. Mit ein bisschen Glück und ganz viel Geschick könnte das nächste Jahr ein richtig guter Trip für die richtig weirden Cloudelvis werden.
06
Kidizin Sane (2), Daniel Samer, Miriam Zach, Nic Nitsche, Matthias Aschauer
07
19.11.20 18:06
Kidizin Sane (2), Daniel Samer, Miriam Zach, Nic Nitsche, Matthias Aschauer
Palffi Der 23-jährige Niederösterreicher Sebastian Spörker alias Palffi hat schon ganz schön viel drauf: Er ist Multi instrumentalist, Singer-Songwriter und Produzent und musiziert seit klein auf. Sein größter musikalischer Hero ist Cro, weitere wichtige Einflüsse für seinen MainstreamPop sind Lauv, Blackbear oder Dominic Fike. Sanfte Beats und glatte Sounds – das gehört definitiv auf Ö3 gespielt und zwar auf Heavy Rotation. Braucht es eine österreichische Shawn-Mendes-Kopie? Nein, natürlich nicht. Und dennoch finde ich durchaus Gefallen an dieser Idee. Dass Florence Arman hier bei einem Song (»Off My Mind«) mitgeschrieben hat, erwähne ich nur beiläufig. Palffis erste Single erschien bereits 2018, und es ist schwer abzuschätzen, wie sich seine Karriere noch entwickeln wird, aber mit seinem neuen Management Earcandy im Rücken bin ich doch recht zuversichtlich.
08
Alix Oder Nix
Alexander Leuschner alias Alix Oder Nix ist der einzige Hip-Hop-Act in diesen Top Ten. Wäre auch schlimm gewesen ganz ohne. Lent, Bibiza oder T-Ser sind definitiv die heißen Kandidaten für nächstes Jahr. Der heißeste Newcomer ist aber der Älteste in der Runde: Der 32-jährige Berliner Alix Oder Nix ist seit zehn Jahren in Wien zu Hause und war sechs Jahre bei Dunkelbunt und Erwin & Edwin als Live-MC tätig. Bis er bald nach dem ersten Corona-Lockdown angefangen hat, äußerst erfolgreich musikalischen Content auf Tiktok (515.000 Follower) zu posten – und so solo mit seinem cleveren, facettenreichen Hip-Hop einen kompletten Neuanfang gewagt hat. Seit seinem Debüt im September 2020 wurden schnell mal fünf Singles veröffentlicht, weitere sind neben der ersten EP in der Pipeline und damit einhergehend diverse wichtige Playlist-Entries. Capital Bra ist schon Supporter und auch Greeen hat seine Begeisterung für Alix Oder Nix öffentlich gezeigt.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 27
Earl Mobley Vielleicht kennt man den umtriebigen Musiker Konstantin Heidler alias Earl Mobley schon von seinen Bands Vague (Sänger, Gitarrist) oder Sluff (Schlagzeug). Sein Soloprojekt und die neuen Songs sind erfreulicherweise deutlich eingängiger – immer noch Indierock, aber eben offener und ideenreicher. Mit dem Titeltrack seiner Debüt-EP »For You To Hide« gibt es bereits einen winzig kleinen Indie-Hit. Der Name Earl Mobley entstammt einer Figur aus dem Helge-Schneider-Film »Jazzclub – Der frühe Vogel fängt den Wurm«. Und ähnlich wie beim Musiker Helge Schneider sind die Stücke vielseitig instrumentiert und verdammt lässig gespielt. Mit dem Produzenten Wolfgang Möstl an seiner Seite arbeitet er gerade am Debütalbum. Und mit dem richtigen Management an seiner Seite – es gibt übrigens noch keines – hat der 28-jährige Tiroler durchaus Chancen über Indie-Kreise hinaus für Aufsehen zu sorgen.
10
027
09
19.11.20 18:06
Ingo Pertramer, Andreas Rentz / Getty Images für das Zürich Film Festival
028
»Ich mag es, wenn wer am Abgrund steht« Evi Romen im Interview zu »Hochwald«
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 28
19.11.20 18:06
Bei »Hochwald« hat Evi Romen zum ersten Mal Regie geführt – und ist prompt beim Zürich Film Festival ausgezeichnet worden.
Der Kampf mit sich selbst »Ich mag es, wenn wer am Abgrund steht und man nicht weiß, fällt er oder fällt er nicht.« In »Hochwald« ist es Mario, dessen Leben allmählich aus den Fugen gerät, als sein Jugendfreund und Schwarm Lenz (Noah Saavedra) bei einem Anschlag auf eine Gay-Bar stirbt. Mario, der mit ihm vor Ort war, ist nun nicht nur vom Überlebensschuld-Syndrom geplagt, sondern auch von den eisigen Anfeindungen seiner kleinen Südtiroler Gemeinde. Denn Lenz hätte mehr Perspektiven gehabt im Leben. Warum hat gerade Mario überlebt? Und überhaupt: Warum kann er nicht wie ein normaler Mensch trauern?
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 29
gen, ›der ist schwul, der ist hetero, der ist dies, der ist jenes‹. Wenn ich junge Leute beobachte, habe ich immer das Gefühl, ›who cares?‹.« Dieses Rütteln an den starren Konventionen ist für Romen auch Mitgrund, warum sie als »alte Frau«, wie sie sich selbst bezeichnet, nun einen Film über junge Männer gemacht hat. »Schöne, junge Frauen werden immer von alten Männern inszeniert.« Sie habe den Spieß umdrehen wollen. Die Inspiration für ihre Figuren? Das eigene Familienumfeld.
Inspiration aus der Heimat Mit seiner exzentrischen, sensiblen Art eckte Mario in dem konservativ-katholischen Dorf schon immer an. Der ambitionierte Tänzer wollte ursprünglich, genau wie sein nun verstorbener Freund, aus der Enge der Provinz ausbrechen und sein Glück in Rom suchen. Doch ungleich Lenz, Sohn einer gut situierten Winzerfamilie, stand das bei Mario vermutlich schon vorab nie in den Karten. »Es ist ein noch oft vorhandenes soziales Gefälle«, erklärt Romen die fein in den Film eingewobene Sozialkritik. »Mit all den Stipendien heutzutage könnte man meinen, dass man aus fast jedem Milieu entfliehen kann. So ist es aber nicht. Wo du hineingeboren wirst – das gibt dir deine Zukunftschancen mit.«
»Schöne, junge Frauen werden immer von alten Männern inszeniert. Ich wollte den Spieß umdrehen« — Evi Romen Romen drückt diese Sonderstellung Marios in seinem Dorf durch passionierte Tanzszenen aus. Schon in der ersten Einstellung, in rotes Licht getaucht, mit der Kamera immer nah am Körper, dreht Mario seine Runden im Gemeindesaal. Optisch wie frisch aus »Saturday Night Fever«, variiert sein Stil zwischen John Travolta und Patrick Swayze, während aus den Lautsprechern Disco dröhnt. Ein perfekter, idyllischer Moment. Es sei ihr nicht darum gegangen, zu zeigen, ob Mario ein guter oder schlechter Tänzer ist, so Romen. Ins Zentrum rückt die Verwandlung. Die Möglichkeit der Figur, in andere Rollen zu schlüpfen. Gerade dieses Fluide in der Sexualität ihrer Figuren war Romen sehr wichtig: »Das ist nicht mehr unsere Zeit, zu sa-
Es seien die eigenen Brüder gewesen, erklärt die Regisseurin mit einem weiteren amüsierten Lachen. »Die bemitleidenswerteren waren immer die männlichen Familienmitglieder, die mehr im Leben gestrugglet haben als die Frauen.« Es sei nicht so, dass weibliche Herausforderungen sie nicht berühren würden. Aber Männer finde sie als Beobachterin interessant. »Wie gehen die mit solchen Situationen und solchen Gefühlen um?« Doch die Inspiration aus der eigenen Familie und das Setting im heimatlichen Südtirol sind nur Mittel zum Zweck. »Die Geschichte an sich ist ja weltweit vorhanden. Das kann man von Island bis Südafrika erzählen.« Vielmehr erlaube ihr das Setting nicht nur, sich im bekannten Terrain zu bewegen, sondern auch den idyllischen Blick auf das Panorama der Landschaft auszusparen. »Ich möchte im Film den Blick haben, den man hat, wenn man tatsächlich dort lebt.« Dass Südtiroler Geschichten in Zukunft öfter im Kino präsent sein werden, bleibt zu hoffen. Die Szene baut sich langsam auf, es gibt auch eine Filmschule. Aber »es ist leichter wegzugehen und dann zurückzukommen und einen Film vor Ort zu machen«, erklärt Romen. Über die österreichische Filmbranche, in der Romen hauptsächlich arbeitet, lasse sich nur Gutes berichten. »Ich höre oft: ›Wahnsinn, so eine kleine Landschaft, so viele Filme und so viele Festival erfolge!‹ Ich muss sagen, ich bin ziemlich stolz auf den österreichischen Film.« Als österreichische Produktion mit Südtiroler und italienischer Unterstützung reiht sich »Hochwald« nun ebenfalls in diese Liste von erfolgreichen, ausgezeichneten Werken ein. Nach dem ersten Erfolg in Zürich wurde der Film auch auf der Viennale, in Tallin und in Turin gezeigt. Im Geiste arbeitet Romen bereits an weiteren Projekten. »Ich habe beschlossen, dass ich erst mal nicht zum Schnitt zurückkehre, um in der Regieenergie zu bleiben, und schreibe bereits an neuen Projekten.« Welche Geschichte möchte sie erzählen? »Es wird wieder ums Heimkommen gehen, es wird wieder um Herkunft gehen, und es wird wieder eine Person am Abgrund sein.« Susanne Gottlieb
029
Im Film »Hochwald« kämpft ein junger Mann aus der Südtiroler Provinz mit dem Leben, dem Tod des besten Freundes sowie seinem Umfeld. Regisseurin Evi Romen mag es, Grenzen auszuloten und die Räume zwischen den Konventionen zu erforschen. ———— Mit dem Regiedebüt gleich einen Filmwettbewerb zu gewinnen, ist eine besondere Leistung. Evi Romen aber lächelt, wenn man sie fragt, wie sich das anfühlt. Die knallrot lackierten Fingernägel umspielen entspannt ihre Teetasse. In ihren braunen Augen, umrahmt von dem ebenfalls braunen, hochgesteckten Haar, blitzt es. »Das war ein bisschen das Hadern. Zeige ich den Film jetzt in Berlin oder Zürich? Gott sei Dank habe ich Zürich gemacht«, erklärt sie, gefolgt von einem kernigen Lachen. Evi Romen lacht viel, man fühlt sich in ihrer Gegenwart sofort wohl. Ganz anders als bei ihrem unangepassten Protagonisten Mario (Thomas Prenn), dessen tragische Geschichte ihr Anfang Oktober beim 16. Zürich Film Festival das Goldene Auge für den besten Film im Fokus Wettbewerb eingebracht hat. Dabei ist Evi Romen streng genommen kein Filmneuling, sie arbeitet bereits seit 30 Jahren erfolgreich als Cutterin. Die Leidenschaft für die bewegten Bilder entdeckte die Südtirolerin, die in einem kleinen Dorf nahe Bozen aufwuchs, schon in jungen Jahren bei einem Fotoworkshop in Salzburg. Ihre Momentaufnahmen entpuppten sich immer mehr als zusammenhängende Story. »Irgendwann kam der Fotografieprofessor zu mir und sagte, dass das, was ich mache, filmische Montage sei.« Bald darauf heuerte Romen in einem Programmkino an, um sich ihr Taschengeld aufzubessern – »da war’s dann um mich geschehen«. Der Weg führte die ambitionierte Filmemacherin an die Filmakademie in Wien, wo sie sich zunächst für Kamera interessierte. Dort, so Romen, sei ihr dann der Schnitt dazwischengekommen. »Obwohl«, unterbricht sie sicht selbst, »das kann ich so nicht sagen, weil es an sich der schönste Beruf beim Film ist.« Dass Romen nun erstmals selbst Platz im Regiesessel nahm, liegt daran, dass der sonst gut beschäftigten Cutterin ein Projekt ausfiel. Nun konnte sie jene Geschichten schreiben, die sie auf der Leinwand sehen wollte.
»Hochwald«, das Regiedebüt von Evi Romen, startet am 1. Jänner 2021 in den österreichischen Kinos.
19.11.20 18:06
Während im englischsprachigen Teil von Youtube das Video-Essay boomt, sucht man das Format auf Deutsch nahezu vergeblich. Stattdessen erklären uns glatt produzierte Video-Erörterungen die Welt. Was ist der Unterschied? Und warum sollte uns das sorgen? ———— Unter den Kurzformaten der sozialen Medien sind Video-Essays die eigentümliche Ausnahme. Statt 280 Zeichen auf Twitter, einzelnen Bildern auf Instagram oder 60 Sekunden auf Tiktok dauern Video-Essays regelmäßig eine Stunde oder sogar länger. Unangefochtene Hauptplattform für Video-Essays ist hierbei Youtube. Große Kanäle wie Contrapoints oder Lindsay Ellis haben jeweils über eine Million AbonnentInnen mit Aufrufen, die regelmäßig mehrere Millionen pro Video überschreiten. Und dies bei Videothemen wie etwa »Why Is Cats?« (Lindsay Ellis, 57:30, 2,4 Millionen Views) oder »Canceling« (Contrapoints, 1:40:28, 2,6 Millionen von Views).
Disney und Queer Theory Was unterscheidet ein Video-Essay von anderen Formaten? Jake Bellissimo beschäftigt sich auf dem Channel Dreamsounds mit einer musikalischen Analyse von Disney – von den Filmen bis hin zu den Themenparks. Jake kommt ursprünglich aus der Musikwissenschaft und forschte zu klassischer Musik sowie queerer Theorie. Für sie waren VideoEssays die Möglichkeit, aus persönlicher Sicht, mit emotionalem Bezug und trotzdem analytisch über Disney zu sprechen. Ohne akademisches »side-eye«, wie Jake sagt. Und sie erreicht damit andere Menschen, die denselben emotionalen Bezug haben: »Indem ich direkt die Leute anspreche, die sich darin einfühlen können, findet eine andere Form von Diskussion statt, die weniger theoretisch und mehr persönlich ist.«
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 30
Gerade dieser persönliche und empathische Zugang zu komplexen Themen, ist es, der Video-Essays auszeichnet. Statt destruktiver oder spöttischer Kritik, betreiben Video-Essays in der Regel eine Form von affirmativer Kritik. Sie sind, wie Jake es nennt »sorgfältig«, in beiden Bedeutungen des Wortes. Sorgfältig kritisieren die FilmemacherInnen ihre Themen, nehmen sie und ihre Kontexte ernst, und analysieren genau. Weil sie aber selbst einen emotionalen Bezug dazu haben, ist stets auch eine Affinität zu spüren, eine Sorgfalt für ihre Themen und
»Popkultur spiegelt die Gesellschaft wider, in der sie entstanden ist.« — Jake Bellissimo dafür, was sie ihnen und anderen bedeuten. »Es ist eigenartig, wenn du jemanden zwingst, Empathie mit etwas zu haben, ohne dass davon Empathie zurückkommt,« sagt Jake, »es wäre einfach, das konservative Unternehmen Disney als problematisch abzutun und alle Beziehungen damit auch. Aber es interessiert mich mehr, darauf zu schauen, wie Disney genuine Freude für LGBT+-Menschen bietet und wie Disney auf der Kehrseite queerphobe Tropen repräsentiert.«
Im englischsprachigen Raum hat sich um diese sorgfältigen Video-Essays eine Szene gebildet, die von vielen als »Breadtube« bezeichnet wird. Das lose Label bezeichnet englischsprachige, politisch linke Kanäle, wie etwa Lindsay Ellis, Contrapoints oder eben auch Dreamsounds. Die Inhalte von Breadtube sind Video-Essays über Gesellschafts- oder Medienkritik, meistens in Verbindung miteinander, wie Jake beschreibt: »Popkultur spiegelt die Gesellschaft wider, in der sie entstanden ist. Wenn du ein Unternehmen wie Disney hast, das so verbunden mit amerikanischen Idealen ist, dann kann das Sprechen über Disney auch ein hervorragender Weg sein, über die amerikanische Gesellschaft und ihren weiteren Einfluss zu sprechen.« Zwar haben sich Video-Essays erst im Zuge der letzten fünf Jahre auf Youtube etabliert, dennoch wächst die englischsprachige Szene rasant, sowohl in Hinblick auf ZuschauerInnen wie auch auf FilmemacherInnen.
Deutsche Video-Essay-Wüste Um die deutsche Szene ist es hingegen eher mau bestellt. Vereinzelt finden sich VideoEssays, etwa von größeren Kanälen wie Rezo über »Die Zerstörung der CDU« oder »Die Zerstörung der Presse«. Aber auch ab und an von kleineren, wie etwa die hervorragenden Essays von Kultur mit Maite über »Frauen im Musical«. Es lässt sich allerdings kaum eine zusammenhängende Szene, vergleichbar zu Breadtube, ausmachen. Dem am nächsten kommt hier vielleicht noch Funk, ein Content-Netzwerk von ARD und ZDF. Hierzulande wurde dem ORF 2018 von der Medienbehörde Komm Austria untersagt, einen Youtube-Kanal zu betreiben. Hingegen konnten die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland, trotz Kritik, ein weitreichen-
Rocco Rinaldi-Rose
030
Ein Mangel an Sorgfalt Warum wir mehr VideoEssays und weniger VideoErörterungen brauchen
19.11.20 18:06
Erklär- und Aufklärvideos Doch Funk unterscheidet sich nicht nur in der öffentlich-rechtlichen Maxime, scheinbar ohne Reflektion das gesamte Meinungsspektrum abzubilden. Denn obwohl einige wenige Kanäle – wie etwa Franziska Schreiber – klar Position beziehen und argumentative VideoEssays liefern, fällt der Großteil in die Kategorie Erklär- und Aufklärvideos, oder im
Funk-Marketing-Sprech: »Information, Orientierung und Unterhaltung«. Die Videos, die dabei herauskommen, sind gut produziert, man merkt Budget und Know-how. Doch sie zeigen wenig Affinität, wenig Emotionalität, wenig Sorgfalt. Aus neutraler Position erzählen und erklären sie uns die Welt. Wir sehen Video-Erörterungen, keine Video-Essays. Warum uns die erörterte Welt etwas kümmern und warum wir uns um sie kümmern sollten, wird dabei selten klar. Genau das ist die Stärke von VideoEssays. Sie affizieren, sie sprechen uns an. Diese Ansprache ist persönlich. Sie funktioniert nur, wenn die FilmemacherInnen uns glaubhaft machen können, dass sie sich um ihre Themen auch selbst sorgen. Ein öffentlich-rechtliches Netzwerk, welches sachliche, neutrale oder zumindest ausgewogene Inhalte fordert, ist hierfür kein guter Nährboden. »Die Funk-Zentrale in Mainz trifft strategische Entscheidungen, entwickelt das Angebots portfolio und optimiert zusammen mit den Partnern die Formate,« so die Website von Funk.
Das in diesem Klima dann kaum Platz für persönliche Ansprache bleibt, sollte nicht verwundern. Das Problem von öffentlich-rechtlichen Sendern in sozialen Medien ist nicht – wie oft von der Kritik vorgebracht – Wettbewerbsverzerrung. Das Problem ist eine Verschiebung der Handlungsmacht. Wenn die Zentrale optimiert und entwickelt, dann verschiebt sich die Handlungsmacht weg von den FilmemacherInnen.
Reizvolle Handlungsmacht Für Jake ist es gerade diese Handlungsmacht, die den Reiz ausmacht: »Um die eigene Meinung zu verbreiten, hat es früher immer eine Form von äußerer Erlaubnis durch Organisationen mit Geld, Reichweite und Zugang gebraucht. Für mich als aufwachsende Trans*Person bot das Internet aber all diese Räume um mein wahres, mein authentisches Selbst zu verwirklichen. Ich sehe diese Dynamik überall auf Youtube: queere Menschen, die sich verwirklichen, die sich exakt so präsentieren, wie sie präsentiert werden wollen. Es ist oft die Rede davon, wie fake das Internet ist, dass die Menschen auf Instagram nicht so sind, wie sie sich geben. Das ist eine valide Kritik an kapitalistischen Medien. Aber gleichzeitig ist es auch eine Rettungsleine für queere Menschen.« Um diese Rettungsleine nicht zu kappen, dürfen äußere Erlaubnismechanismen wie Funk nicht wieder zur Norm werden. Sonst wird es im deutschsprachigen Raum immer nur Videos geben, die uns die Welt erklären, und nie welche, die sie uns näherbringen. Bernhard Frena
031
des Angebot auf die Beine stellen. Zu Funk gehören mittlerweile viele bekannte Kanäle wie etwa Kurzgesagt, Mailab, Cinema Strikes Back oder Y-Kollektiv. Beim Durchklicken durch die Videos von Funk fallen jedoch schnell Unterschiede zu Breadtube auf. Zunächst einmal augenscheinlich in der politischen Ausrichtung. Während Breadtube klar linkspolitisch ausgerichtet ist, haben auf Funk auch Leute wie Franziska Schreiber Platz. Die Ex-AfD-Politikerin erklärt in ihren Videos, was sie am Feminismus nervt, fordert mehr Patriotismus in Deutschland und regt sich bei so ziemlich jeder Gelegenheit über Greta Thunberg auf.
»Es ist eigenartig, wenn du jemanden zwingst, Empathie mit etwas zu haben, ohne dass davon Empathie zurückkommt.«
Die Video-Essays von Jake Bellissimo zu Disney und Queer Theory finden sich auf dem Channel Dreamsounds. Ihr neues Album »Swansongs« erscheint am 29. November 2020.
Jake Bellissimo reflektiert auf ihrem Kanal Dreamsounds das Verhältnis von Disney und Gesellschaft – und zeigt so, welche Diskursfunktion Video-Essays haben können.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 31
19.11.20 18:06
In seinem Selbstversuch mit der Plattform Onlyfans, die vor allem von SexarbeiterInnen genutzt wird, um Nudes zu verkaufen, stellte sich unser Autor Sandro Nicolussi die Frage, wie sich monetarisierte Selbstdarstellung und nachhaltiges Self-Empowerment zueinander verhalten.
Mein Versuch, einen anonymen OnlyfansAccount zu betreiben, scheiterte und ich lernte dabei einen Haufen über Privilegien und meine Blauäugigkeit. Eine Abbitte. ———— Das Krisenjahr 2020 verschaffte der Online-Sexarbeit einen enormen Boost, was in weiterer Folge immer wieder besonders eine Plattform in das öffentliche Interesse rückte: Onlyfans. Onlyfans, das ist Sexarbeit im Homeoffice. Sich von Leuten abonnieren lassen, die einen monatlichen Beitrag zahlen, interessanten Content hochladen, seinen Fans ab und zu Nachrichten schreiben und individuellen Content für Trinkgeldzahlungen vereinbaren. Klingt doch eigentlich ganz einfach, oder? Na ja. Es folgt die Geschichte einer bitteren Erkenntnis. Es ist eine Weile her, dass ich erstmals von der Plattform Onlyfans hörte. Als Mensch, der sich für Musik interessiert, kommt man schon mal in Kontakt mit der Plattform, auf der dann Releases vorab zu sehen und hören sind. Auch im Kontext meiner Arbeit als Medienschaffender sprach ich bereits mit einigen SexarbeiterInnen, die die Vorteile für ihre Arbeit in Zusammenhang mit Onlyfans immer wieder erläuterten. Mein Interesse war also irgendwann zwischen den vergangenen Lockdowns und Semi-Lockdowns geweckt und ich begab ich mich auf den blauäugigen Weg, selbst herauszufinden, wie sich Onlyfans als Plattform für gelegentlichen anonymen ContentUpload und die Pflege der Beziehung zur eigenen Sexualität macht. Dabei stellte ich mir
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 32
vor allem die Frage, wie sich monetarisierte Selbstdarstellung und nachhaltiges Self-Empowerment zueinander verhalten. Sie wurde mir beantwortet, aber gelernt habe ich um einiges mehr – vor allem über mich selbst. Der Weg, bis ich mich tatsächlich bei Onlyfans angemeldet habe, war ein langer. Wie geht man so etwas an? Wie weit will ich das Ding treiben? Wem erzähle ich davon? Und was zur Hölle ist eigentlich das Problem, wenn das Leute sehen, die mich kennen?! Auch wenn ich mit meinem Körper relativ im Reinen bin, war ich es doch nicht gewohnt, ihn vor der Kamera zu inszenieren – vor allem nicht für Leute, von denen ich noch nicht mal wusste, wer sie überhaupt sein werden.
How to sell nudes online (fast)? Zufälligerweise traf ich in den Tagen, in denen ich mal wieder intensiv (aber im Endeffekt wohl nicht gut genug) über das Vorhaben nachdachte, einen Fotografen, den ich über Instagram kennengelernt hatte. Der Flow war gut und irgendwann entschieden wir uns, ein paar Fotos ohne Kleidung zu machen. Für ihn war es ungewohnt, einen nackten Mann vor der Linse zu haben, für mich war es ungewohnt, zu wissen, dass ich diese Fotos nicht nur für mich machte. Nach dem Shooting war es also gedanklich fix, dass mein Login auf Onlyfans passieren muss. In den Tagen zuvor hatte ich mir natürlich schon einen Nutzernamen überlegt, der möglichst fern von allen meinen anderen ist, und so stand mir nun nichts mehr im Wege.
Daniel Nuderscher / @portraithanoi
032
Abonnier doch deine Vorurteile! Onlyfans done wrong
19.11.20 18:06
Fast nichts. Dass nicht nur meine Tätowierungen ein Anonymitätsproblem darstellen sollten, zeigte sich erst später. Laut Eigenangaben sind derzeit rund 24 Millionen NutzerInnen auf Onlyfans aktiv, 500.000 davon kreieren kostenpflichtigen Content. Für die Welt der Sexarbeit ist das insofern revolutionär, als dass die Personen selbst entscheiden, was sie zeigen und wie viel sie dafür verlangen. Außerdem sind Porno-PerformerInnen auf Onlyfans nicht mehr willkürlichen und sich ständig ändernden Zensur-AGBs ausgesetzt.
033
»SexarbeiterInnen haben auf Onlyfans mehr Kontrolle als auf jeder anderen Plattform.« — Theresa Lachner, Sexbloggerin (Lvstprinzip)
Geld direkt aufs Konto »SexarbeiterInnen haben auf Onlyfans mehr Kontrolle als auf jeder anderen Plattform und sie können handeln, ohne dass jemand mit drin hängt und finanziell mitschneidet«, sagt Theresa Lachner dazu. Sie ist systemische Sexualberaterin, Journalistin und Gründerin des größten deutschsprachigen Sexblogs Lvstprinzip, Autorin des gleichnamigen Buches und moderiert den nochmals gleichnamigen Podcast, der vom Wiener Podcast-Label Oh Wow produziert wird. Das Geld schüttet Onlyfans nach einem 80/20-Modell direkt auf das mit dem Account verknüpfte Konto aus. Wird das Betreiben des Accounts gewerblich und übersteigt man damit gewisse finanzielle Sockel, muss man sich in Österreich bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (SVS) sowie beim Finanzamt melden. Manche IntimfluencerInnen – zugegeben, der Begriff hat schon einen gewissen Boomer-
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 33
19.11.20 18:06
Wer sich dafür interessiert, OnlyfansCreator zu werden, kommt schnell zur Erkenntnis, dass Privilegien auch in der Branche der Sexarbeit einen riesigen Unterschied machen.
übersteigt, aber im Endeffekt in die gleiche Richtung läuft: Eine privilegierte weiße CisFrau setzt sich in das Nest von SexarbeiterInnen, die in ihrem Alltag regelmäßig Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sind, und macht es auch noch nachhaltig kaputt. Aber der Reihe nach: Die Schauspielerin Bella Thorne kündigte auf Twitter an, Nudes auf Onlyfans zu zeigen (später dementierte sie das), was dazu führte, dass sie auf ihrem dortigen Profil in 24 Stunden über zwei Millionen US-Dollar lukrierte. Nacktfotos gab’s keine, dafür einen Haufen Rückzahlungsaufforderungen von verärgerten Fans. Onlyfans reagierte mit einer Änderung ihrer AGBs, was dazu führte, dass Abopreise und Trinkgeldzahlungen mit Limits versehen wurden. Mehrere SexarbeiterInnen äußerten sich verärgert über den Fuck-up Thornes. Sie sind immerhin die, die nun mit den Konsequenzen leben und arbeiten müssen.
034
Wenn die eigene Rationalität täuscht Vibe – veröffentlichten ihre Onlyfans-Abrechnungen, um zu beweisen, wie viel Kohle sie auf der Plattform verdienen. Spannend ist dabei, dass die Einnahmen von Trinkgeldern und einmaligen Direktzahlungen aus Privatnachrichten teilweise die Summen der Abo einnahmen übersteigen. Das kann einerseits am individuell produzierten Content liegen oder an der Interaktion, die wie bei jedem anderen sozialen Medium auch bei Onlyfans entscheidend ist: »Als User kannst du deine Lieblings-Creators direkt unterstützen. Und auch die vermeintliche Intimität im Nachrichtenaustausch ist etwas, das Sexarbeit immer mehr ausmacht«, erklärt Lachner. Parasoziale Beziehungen at their best.
Das Scheitern an der digitalen Anonymität So weit, so okay. Schließlich öffnete ich eine Incognito-Session in meinem Browser und meldete mich mit einer über zehn Jahre alten E-Mail-Adresse an. Natürlich habe ich zuerst gegooglet, ob mich die Suchergebnisse nach der Mail-Adresse enttarnen könnten. Was folgte, war ein relativ peinlicher Ausflug in diverse Accounts meiner Vergangenheit, aber die Anonymität schien noch aufrecht. Ein paar Klicks später hatte ich den Account, sah aber keinen Content und auch die Suche nach Accounts war erfolglos. Nach einigen Recherchen ( ja, es gibt Onlyfans-Tutorials) war klar: Ohne Kreditkarte läuft die G’schicht nicht. Und meine Bankdaten wollte ich nicht
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 34
hinterlegen, weil das natürlich die (eh nur vermeintliche) Anonymität wieder zerstört hätte. Eine Paypal-Variante wäre von Vorteil gewesen, aber es ist auch klar, dass sich die Plattform in gewisser Weise absichern muss – die Porno-Thematik bleibt schließlich auch eine Frage des Alters. Mein Versuch war vorbei und ich begann, mich mit der steigenden Anzahl an Fragen, die in mir aufkamen, schlechter zu fühlen. Aber warum wollte ich das Ganze eigentlich anonym machen, wo ich mir doch sicher war, dass es mir wurscht ist, wenn das jemand doch auf mich zurückführen könnte? Es war mir wohl einfach nicht wirklich egal, sondern ich war naiv, privilegiert und nicht in der Lage, die Tragweite von Sexarbeit zu verstehen. Lachner erinnert: »Man sagt schnell mal, dass man einfach nicht mit Leuten zusammenarbeiten will, die einen nicht komplett so akzeptieren, wie man ist. Aber dieses Privileg kommt eben nicht allen zugute. Bei all dem Optimismus darf man nicht vergessen, dass die reale Welt noch immer eine sehr verklemmte und konservative ist, vor allem wenn es ums Thema Sex geht.«
Der Fall Bella Thorne Eine Freundin, der ich kurz vor Entstehung dieses Textes von meiner Odyssee berichtete, fragte mich, ob mir der Onlyfans-Skandal rund um Bella Thorne etwas sagte, und erzählte mir anschließend die ganze Geschichte, die meine zwar in der Tragweite um einiges
Das war der Moment, an dem mich die ganze Wucht meiner Naivität traf. Die Sahnehaube der Schuppen-von-den-Augen-Erkenntnis. Der Drang nach dem Kick, die Suche nach einer aufregenden Erfahrung außerhalb meiner Komfortzone wurde zu einer Shitshow mit Zugabe einer dringend notwendigen Selbstreflexion. Ich habe nicht nur eine ganze Branche – mit der ich ansonsten keine Berührungspunkte habe –, sondern auch mich und meine vermeintlichen Überzeugungen an meine blinden Flecken verraten. Ich habe mir etwas angeeignet, das mir nicht zusteht und bin dabei zum Glück mein eigenes Opfer. Von meiner Aktion war schlussendlich nur ich selbst betroffen. Ich habe niemandem real geschadet, was letztlich mehr an meiner Unfähigkeit als an anderen Faktoren lag. Digital native my ass. Man kann Sexarbei terInnen auch supporten, ohne selbst in deren Arbeitswelt herumzustöbern. Sexarbeit ist Arbeit – mit gleichem Fulltime-Potenzial wie wöchentliches Bürostuhlschaukeln. Das lernte ich schmerzlich in der peinlichen Aktion, die glücklicherweise zu Ende ging, bevor sie angefangen hatte. Von nun an werde ich jedenfalls Wege suchen, mit meinem Körper und dessen Darstellung umzugehen, ohne dabei in fremde Lebensrealitäten einzugreifen und meine Ideen gründlicher mit meinen Privilegien gegenchecken. Sandro Nicolussi
Die Artikel und Podcasts von Theresa Lachner sind unter lvstprinzip.de sowie auf Instagram (@lvstprinzip) zu finden.
19.11.20 18:06
P R OM OTION
Big in Europe Österreichische Acts im European Talent Exchange Programme
2020 im ETEPTalente-Pool: My Ugly Clementine
035
Mavi Phoenix landete 2019 auf Platz vier der ETEP-Charts.
Fotos Nils Müller, Hanna Fasching
Als Initiative des Showcase-Festivals Eurosonic Noorderslag hat ETEP schon so manche Hype-Artists hervorgebracht. Dabei erzählt das European Talent Exchange Programme auch einige Erfolgsgeschichten aus Österreich.
Das European Talent Exchange Programme wurde 2003 gegründet, um den Austausch vielversprechender Acts innerhalb europäischer Musikmärkte zu vereinfachen und zu fördern. ETEP unterstützt dich also dabei, dass dein Name häufiger in Line-ups der europäischen Festivals steht und internationale Medien auf dich aufmerksam werden. Global sehr erfolgreiche Acts wie beispielsweise Mø, James Blake oder Years & Years haben in ihren frühen Jahren vom ETEP-Support profitiert. Damit das auch für alle aufstrebenden KünstlerInnen funktioniert, nominiert ETEP jährlich einen Pool an Talenten, die unter anderem auf dem Eurosonic Noorderslag Festival in Groningen (NL) spielen. 2020 waren sechs österreichische Acts unter ihnen: Das Surfrock-Trio Dives, das Südtiroler Dreampop-Duo Anger (beide Acts GewinnerInnen des XA – Austrian Music Export Award), die feministische Supergroup My Ugly Clementine, das Jazz-Fusion-
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 35
Quintett 5K HD, die Alt-Rock-Band Friedberg (rund um das bekannte Gesicht Anna F.) und Eurovision-Ikone (Conchita) Wurst. Und wenn wir schon nicht müde werden, das Thema Preise zu betonen: My Ugly Clementine sind auch für den Music Moves Europe Talent Award 2021 nominiert. Welche Acts made in Austria für kommendes Jahr von ETEP unterstützt werden, ist noch nicht spruchreif. Die Hypes der Zukunft bleiben also bis auf Weiteres noch offen.
European Talents aus Österreich Die österreichischen Hypes der Vergangenheit aber können wir auch mithilfe von ETEP-Nominierungen nachzeichnen. Unser liebster oberösterreichischer Rapper Mavi Phoenix stand zum Beispiel auf Platz vier der europäischen ETEPCharts von 2019. Diese messen jedes Jahr, wie viele europäische Festival-Bookings jede/r Artist nach seiner/ihrer Performance beim Eurosonic Noorderslag verbuchen konnte. Mavi war
im letzten Jahr mit acht nachfolgenden Festivalshows also besonders gut dabei. Im Jahr zuvor sorgte ein anderer österreichischer Act für Furore in den ETEP-Charts: Cari Cari. Mit ebenfalls acht Bookings von Showcase-Festivals landete das Duo mit seiner ganz eigenen 70er-RetroÄsthetik 2018 auf Platz sechs der meistgebuchten ETEP-Acts aus ganz Europa. Europäische Superstars aus Österreich gibt es also unter anderem auch mit freundlicher Unterstützung des European Talent Exchange Programmes. Alles andere ist Zukunftsmusik. ETEP, ein Projekt des Eurosonic Noorderslag Festivals, arbeitet in Österreich eng mit lokalen PartnerInnen zusammen – nämlich mit dem Austrian Music Export (Mica – Music Austria und Österreichischer Musikfonds), Radio FM4, dem Acoustic Lakeside Festival, dem Frequency Festival, dem Szene Openair und dem Waves Festival.
19.11.20 18:06
Zu Haus’ mit Flausch Kulturschaffende und ihre Haustiere
036
Dieses Jahr haben sich wohl einige unserer LeserInnen schon mal die Frage gestellt, ob so ein Lockdown mit Haustier nicht viel erträglicher wäre. Wir haben fünf KünstlerInnen und Kulturmenschen mit ihren iconic Wuffis und Mauzis getroffen – und mehr als gute Beispiele für die einzigartige Beziehung zwischen Mensch und Haustier gefunden.
Mit tapsenden Pfoten in der Wohnung ist man weniger allein. Deswegen sehnten sich im Frühjahr plötzlich sehr viele tierlose Menschen nach nicht-menschlichen BegleiterInnen. Tierheime berichteten während und nach dem ersten Lockdown von einer sehr viel stärkeren Nachfrage nach zu vermittelnden Tieren. Natürlich war hier ein besonderes Auge auf die Motive und Lebensumstände der potenziellen TierhalterInnen gefragt. Denn Haustiere sind bekanntlich sehr viel mehr als ein Pflaster für Anxiety-geplagte Alleinwohnende. Wer einen Self-Care-Kauf für den Serotoninspiegel braucht, sollte sich eher eine gewichtete Decke oder eine Tageslichtlampe zulegen. Wer das aber weiß und sich aus den richtigen Gründen dafür entscheidet, die unbeschreiblich schöne Verbindung zwischen Pfote und mehrmals täglich desinfizierter Hand einzugehen, hat die Bereicherung durch ein
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 36
Haustier auch redlich verdient. Unser Fotograf Alex Gotter hat sehr unterschiedliche Personen getroffen, die auf ebenso unterschiedliche Art mit ihren Haustieren verbunden sind. Wer zum Beispiel dem DJ Gerald van der Hint und seinen beiden Hunden Kottan und Yuna auf Instagram folgt, weiß, wie brav sie alle in die Hundeschule gehen. Musiker Topoke postet für seinen Hund Nacho sogar auf einem ganz eigenen Instagram-Kanal. Patricia Ziegler hat sich so intensiv mit ihren gefiederten FreundInnen auseinandergesetzt, dass sie einen Podcast über Hühner starten wird. Rapper Yugo wird mit seinen beiden Schmusekatzen selbst zu einer. Darija Kasalo wiederum, auch bekannt als »Die Wirtin«, erzählt gerne die schicksalhafte Geschichte, dass ihr ihr Da Vinci mitten im siebten Bezirk zugelaufen ist – wer da nicht weint, ist selber Theresa Ziegler schuld.
19.11.20 18:06
037 Gerald van der Hint, Techno-Aktivist, -DJ und -Musiker mit einer Verwurzelung in der LGBTIQ+-Community, mit Bullterrier Kottan (im Bild) und American Staffordshire Terrier Yuna (nicht im Bild): »Ein*e Außenstehende*r würde ganz klar urteilen: klassischer Kinderersatz. Das kann ich auch nicht ganz abstreiten. Wir leben gemeinsam im fünften Bezirk und fahren viel in die Natur. Regelmäßig besuchen wir eine Hundeschule in Gänserndorf. Die meiste Zeit liegen wir gemeinsam auf der Couch und schauen Serien oder Filme. Jeden Tag gibt es ganz viele Reißspiele, Streicheleinheiten und Kratzis.«
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 37
19.11.20 18:06
038 Darija Kasalo, »Die Wirtin«, Gastgeberin (vormals Ungar Grill, heute Shalimar), Veranstalterin und Kuratorin, mit Münsterländer-Dackel-Mischling Da Vinci: »Mein treuester Begleiter. Immer an meiner Seite. Große Liebe.«
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 38
19.11.20 18:06
Topoke, Künstler und Lehrer, mit Basenji Nacho Amillo Libre: »Ohne meine Tochter hätten wir kein Haustier. Ihr habe ich es zu verdanken, dass mein Herz von Nacho immer wieder weichgeklopft wird.«
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 39
19.11.20 18:06
040 Yugo (vormals Jugo Ürdens) Musiker, Rapper und Produzent, mit Katzen Igor (rot) und Susi (schwarz-weiß): »Ich wollte ursprünglich einen Hund haben und nie Katzen. Seitdem ich sie habe, liebe ich nichts mehr auf dieser Welt. Ich sehe mich als ihr überfürsorglicher Papa, der zu viel Liebe gibt und nie genug bekommt.«
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 40
19.11.20 18:06
041 Patricia Ziegler, Betreiberin des Co-Working-Space The Nest und Musikmachende bei Bitten By und Oehl, mit zwei ihrer Hühner Missy Eggliott, Lil Piep, Chickira und Lady Gack Gack: »Was aus einem Interesse heraus angefangen hat, wurde schnell zum Herzensprojekt und ich kann nur jedem schwer empfehlen, sich besser mit diesen tollen Tieren auseinanderzusetzen.«
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 41
19.11.20 18:06
Das könnt ihr euch schenken Weihnachtstipps für Fortgeschrittene
042
Ob man Xmas als Fest des Konsums oder als Fest der Liebe feiert, ändert selten etwas an der Tatsache, dass man die Menschen in seinem Leben, die einem wichtig sind, beschenken möchte. Und da soll das auserwählte Präsent natürlich sitzen und mindestens für Freude, wenn nicht sogar für ein mächtiges »Oho!« sorgen. Welche Finessen das Schenken heuer so hergibt, haben wir auf den folgenden Seiten für euch zusammengefasst.
Gutes Goodie Klingt gut, schaut gut aus Anspruchsvolle GitarristInnen werden diese Gitarre nicht mehr aus der Hand geben wollen: Die Yamaha CSF ist eine kompakte PremiumAkustikgitarre mit sattem Klang und wunderbar bespielbarem Griffbrett. Jetzt neu auch in den Farben Crimson Red Burst (im Bild) und Translucent Black erhältlich. Inklusive Zero Impact Tonabnehmer und Deluxe Hard Bag für den sicheren Transport. UVP ab € 574,— at.yamaha.com
Geschenke sollen oft auch ein Reminder dafür sein, sich mal wieder etwas Gutes zu tun. Ausgesprochen gut sind die Produkte der grünen Eigenmarke von BIPA namens »bi good« – tierlieb, vegan und umweltfreundlich verpackt. In Kooperation mit der österreichischen Lifestyle-Bloggerin berries & passion hat »bi good« nun eine Limited-EditionPflegeserie im Angebot: eine Pflege dusche und die dazu passende Handcreme. Ideal als kleine Aufmerksamkeit. Schenken mit gutem Gewissen! ab € 2,29 www.bipa.at/bi-good
Natürlich weich Winterzeit ist Saunazeit, aber die traditionell gewebten Hanf Hamamtücher von LeStoff überzeugen nicht nur dort, sondern auch im alltäglichen Badezimmereinsatz oder outdoor – zum Beispiel beim Sport, am Strand oder als Picknickdecke. Die Tücher bestehen aus einem Gemisch aus Baumwolle und Hanf, sind zu 100 Prozent natürlich, sehr saugfähig und angenehm weich, dabei aber äußerst robust und sie trocknen schnell. 100 µ 180 cm, in fünf Farben erhältlich. € 34,90 www.lestoff.eu
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 42
19.11.20 18:06
PR OMOT I O N
Gutschein in cool Die Initiative KINO VOD CLUB hat sich dem Auftrag verschrieben, Filmen aus Österreich eine Online-Plattform zu geben. Von Kino betreibenden gegründet, versteht sich KINO VOD CLUB als digitale Leinwand für die hiesige Kinolandschaft. Mit jedem Film, der dort gestreamt wird, werden auch die Filmschaffenden und das ausgewählte Lieblingskino jeweils mit einem Drittel des Erlöses finanziell unterstützt. Gutscheine für den KINO VOD CLUB sind so die perfekte Geschenkidee für conscious CineastInnen. € 4,90 pro Film www.vodclub.online
Geschenke, die Spaß machen
Auf uns!
Glossy Freude
Gerade weil wir in letzter Zeit darauf verzichtet haben, mit FreundInnen im Lieblingsclub die eine oder andere Runde zu bestellen, wollen wir uns in Sachen Weihnachtsgeschenk an dieses vermisste Lebensgefühl erinnern. Jägermeister hat hierfür zwei verschiedene winterliche Geschenk-Editionen herausgebracht: entweder inklusive rauchgrauen ShotGläsern oder in einer Design-Tin-Box, fertig als Geschenk verpackt. Erhältlich im teilnehmenden Lebensmittelhandel. www.jagermeister.at
043
Lieber be sc h als selbst enkt werden sc Wir verlo henken? s dieser wu en viele nderbare Weihnach n ts-G www.theg oodies! ap.a gewinnen t/
Ein Modelabel, das uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern möchte. Rund 35 Charaktere mit Namen wie Nerd, Wizard oder Hula, alle in Schwarz-Weiß gehalten, zieren Pullis, T-Shirts, Socken, Gesichtsmasken, Sticker und vieles mehr aus dem Hause Quipster. Jedes Item ein potenzielles Lieblingsstück. Erhältlich online oder in einem der drei Quipster-Stores in Salzburg und Wien. ab € 3,50 www.quipster.eu
Es gibt Päckchen, die beim Öffnen einfach noch ein bisschen mehr Spaß machen als andere. Dazu gehört für alle, die ein Herz für Wellness und Beauty haben, die Glossybox. Dass der Glossybox Adventskalender schon ausverkauft ist, ist zwar schade, aber nicht so tragisch, denn auch das Beauty-Abo ist ein klassisches »gift that keeps on giving«. Fünf Pflege- oder Make-upProdukte, die monatlich neu geliefert werden – im Abonnement für einen, drei, sechs oder zwölf Monate. ab € 20,— www.glossybox.at
Kunst-Klassiker Ein Museum für die Kunst der Moderne liegt meistens näher, als man denkt – für WienerInnen ist das größte Zentral europas vielleicht sogar in Gehweite. Das mumok im Museumsquartier ist seit seiner Gründung Pilgerstätte für alle, die sich für zeitgenössische Kunst interessieren. Genau für jene ist eine Jahreskarte für die riesige Sammlung an Hauptwerken der Klassischen Moderne, der Pop Art, des Fluxus und des Wiener Aktionismus ein klassisches Geschenk. ab € 15,— www.mumok.at
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 43
19.11.20 18:06
P RO MOTION
Japanisches Trinkvergnügen Es gibt Gin und es gibt Gin der ganz besonderen Art. Der Japanese Craft Gin ROKU zählt definitiv zu letzterer Gruppe. ROKU besteht aus sechs japanischen Botanicals, die mit traditionellen Gin-Zutaten kombiniert werden. Mehr als nur ein Gin Tonic, sondern ein einzigartiges Ritual, das am besten mit Freunden geteilt wird. In der äußerst ansprechenden GeschenkEdition – inklusive zum Stil der Flasche passendem sechseckigem Glas – ist er das ideale Präsent für Gin-Fans, die gerne Neues probieren. Gesehen bei Interspar, Spar Gourmet, Merkur und MPreis. € 29,90 www.rokugin.at
Grenzenlose Streaming-Highlights
044
Fantastische Inhalte für Entertainment-Fans mit dem Sky X Fiction Binge Pass: über 1.000 Filme mit aktuellen Blockbustern wie »Hexen hexen« gleich nach dem Kinostart. Dazu über 500 Serien-Highlights mit Sky Originals wie »Riviera« oder »Der Pass« und globalen Hits – von »Game Of Thrones« bis zum neuesten HBOStreich »The Undoing«. Die neue TV-Magie: Streaming und deine Lieblings-Free-TV-Channels aus einer Hand! ab € 10,— pro Monat skyx.sky.at
3 x 3 Monate Sky X Fiction & Live TV gewinnen!
Staffel 3 ab Dezember © Sky UK Limited.
Kuschelig unterwegs Dass die Wiener Linien Style haben, haben sie schon des Öfteren bewiesen. Und auch Wiener Wonderland, ihre neue kuschelige Winterkollektion, kann sich sehen lassen. Erstmals gibt es wärmende Wintermode für Jung und Alt. Pullover, Haube, Schal und Socken im nostalgischen Straßenbahndesign sind im Wiener-Linien-Fanshop erhältlich. Zeig’ deine Öffi-Liebe! ab € 9,90 shop.wienerlinien.at
rd e n kt we ? n e h c nken r bes Liebe elbst sche viele als s erlosen ren Wir v underba s! ie rw diese chts-Good / a t n a . h i p We hega www.t innen w ge
Hygiene am Handgelenk
Heiße Weihnacht
Lieber auf Nummer sicher: Mit dem Desinfektionsarmband Watch out! bist du an jedem Ort und zu jeder Zeit gegen Viren und Bakterien gerüstet. 100 Prozent sichere Desinfektion nach den Qualitätsrichtlinien der WHO, die gleichzeitig – auch bei häufiger Anwendung – vor dem Austrocknen der Haut schützt (85,5 Prozent Ethanol, Glycerol und Hydrogenperoxide). In verschiedenen Designs und Größen erhältlich. € 24,99 www.ces-store.de
Manche Winter fühlen sich wie Jahre an – doch fragt man eine Flasche BACARDÍ Añejo Cuatro, weiß diese ganz genau, was mindestens vier Jahre Reifung heißen. Heraus kommt dabei ein Premium-Rum mit Noten von milder Vanille, geröstetem Eichenholz, Gewürznelke und Honig. Weich im Abgang eignet sich BACARDÍ Añejo Cuatro vor allem für heiße Cocktails. ab € 19,99 www.bacardi.com
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 44
19.11.20 18:06
Stereo Love Für viele eine mindestens so alltägliche Begleiterin wie die etwaige Mitbewohnerin/der etwaige Mit bewohner: die Lautsprecherbox, die wir im Laufe des Tages von Zimmer zu Zimmer tragen. Teufel, Europas größter Direktversender von AudioProdukten, hat für alle, die sich hier angesprochen fühlen, das perfekte Geschenk: den portablen Bluetooth-Stereo-Lautsprecher Motiv Go. Optimiert für Streamingdienste bringt er die Lieblingsmusik via Spotify und Co in CD-naher Qualität. Für die Dusch-Performance oder die Koch-Playlist ist der Motiv Go auch vor Spritzwasser geschützt. Und bei der Zwei-Haushalte-Party können sich auch zwei Smartphones mit dem Gerät verbinden. In Schwarz und Silber erhältlich. € 249,99 www.teufelaudio.at
Harmonischer Whisky-Genuss Das große Erbe und den innovativen Geist des japanischen Traditions unternehmens Suntory vereint der harmonische Blend von TOKI Suntory Whisky. Ein abwechslungsreicher, ausgewogener und seidiger Blend mit einem subtilen süß-würzigen Abgang. Sein Name bedeutet übersetzt »Zeit« und ehrt alte Traditionen ebenso wie die Faszination für das Neue. Verfügbar als hochwertige Geschenk-Edition mit Premium-Highball-Glas und Rezepten aus der japanischen Trinkkultur. Erhältlich bei Interspar und weinwelt.at. € 34,90 whisky.suntory.com
MuseumsQuartier Museumsplatz 1 A-1070 Wien www.mumok.at
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 45
19.11.20 18:06
Wortwechsel Ist die Krise eine Chance oder einfach nur scheiße?
046
Futurezone
Die große Vermissung ———— Ich sitze an meinem Schreibtisch, vor mir hängen zehn bis 15 Konzerttickets an einer Pinnwand. Ob, bzw. wann, diese Konzerte, die mittlerweile alle abgesagt oder verschoben wurden, jemals stattfinden werden, ist fraglich. Corona hat mein liebstes Hobby de facto auf null heruntergefahren. Ein Luxusproblem, das ich hier beschreibe, könnte man sagen. Natürlich gibt es Schlimmeres, Dringlicheres, Bedrohlicheres in dieser Pandemie. Dennoch nehme ich mir das Recht, etwas zu vermissen, das mir ansonsten Ausgleich zum Alltag, Glück und Freude beschert, das mich ausfüllt, meinen Kopf und meine Emotionen zufriedenstellt. Der Kulturbetrieb leidet extrem unter dieser Krise und das betrifft nicht nur die von mir so geliebten Popkonzerte. Das betrifft eine Clubszene, die jetzt einfach nicht mehr leben kann, Theater, Kino, you name it. Die Sorge, dass nach dieser Corona-Krise vieles von dem, was wir im Kulturbetrieb lieben und schätzen gelernt haben, nicht mehr existieren könnte, ist
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 46
real und wird in der breiten Öffentlichkeit nach wie vor zu wenig ernstgenommen. Wenn in Österreich von Kultur die Rede ist, hört die Debatte oft nach den Schlagworten »Staatsoper« und »Salzburger Festspiele« wieder auf. Wir brauchen dringend Ideen und Konzepte, wie Subkulturen, Popmusikszene und Clubkultur diese Krise überleben können. Es geht nicht nur »ums Geschäft«, es geht darum, dass KünstlerInnen, die vielen Menschen, die angeknüpft im Kulturbetrieb arbeiten, weiterhin überleben können. Es geht darum, dass sie kreativ sein können, dass letztlich das kulturelle Gut nicht austrocknet und verendet, weil darauf vielleicht zu sehr vergessen wurde. Niemand kann genau sagen, wann wir Corona so im Griff haben werden, dass wir in eine Normalität zurückkehren können. Wir sollten nicht einfach darauf warten und der Kultur beim Sterben zusehen. Vielmehr sollte man sich überlegen – ja, hallo Politik! –, wie man diese Szene finanziell absichern kann, wie man Veranstaltungen trotz Corona ermöglichen kann, welche Locations man dafür bevorzugt nutzen kann. Mittlerweile sind Schnelltests auf dem Markt, die den Besuch von Events sehr sicher machen und sehr viel Risiko herausnehmen können. Ich würde sagen, die Krise ist einfach nur scheiße. Geschlagen geben sollten wir uns aber trotzdem nicht.
Claudia Zettel ist Journalistin und seit 2016 Chefredakteurin der Tech-News-Plattform Futurezone.
Theresa Ziegler
Claudia Zettel
Markus Sandner, Kurier / Jeff Mangione, Christoph Steinbauer, Michael Mazohl
Selten war es so eindeutig wie 2020, was im Rennen um das Unwort des Jahres gewinnen wird. Krise, Panik, Pandemie – wie auch immer man es nennen will, Corona hat immense soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Folgen. Der Umgang damit ist, wo die Ansichten auseinander gehen. Muss man aus einer Krise das Beste machen? Sind gerade jetzt kreative und produktive Lösungen gefragt? Oder ist das alles neoliberaler Humbug und wir müssen akzeptieren lernen, dass das blanke Leben gerade anstrengend genug ist?
19.11.20 18:06
Markus Sandner, Kurier / Jeff Mangione, Christoph Steinbauer, Michael Mazohl
Theresa Ziegler
Ali Mahlodji
Hannes Tschürtz
Veronika Bohrn-Mena
Von Krise zu Krise nach oben ———— Wer kann heute noch davon reden, dass man die Chancen in der Krise sehen muss, wenn alle Zeichen auf Rot stehen und die Ampel, die uns Durchblick verschaffen soll, für mehr Verwirrung als Orientierung sorgt? Ja, die aktuelle Lage schön zu reden, ist schwer. Abgesehen vom Wirtschaftseinbruch und der Realisierung, dass das angekündigte Licht am Ende des Tunnels eher das Aufflackern eines PR-Zündholzes war, wollen wir unser Leben zurück. Was immer das auch heißt. Die Gesellschaft erlebt ihre große Enttäuschung – nämlich das Ende einer Täuschung, in der wir die letzten 70 Jahre nach dem Krieg daran arbeiteten, dass es unseren Kindern mal besser geht. Und jetzt, nachdem wir es uns gerichtet haben – mit dem besten Wohlstand aller Zeiten – kommt so ein verf****** Virus daher und führt vor, was wir bei aller technologischen Weiterentwicklung vergessen haben: die Evolution der kollektiven Zusammenarbeit. Wir kennen Corona seit Monaten, doch sind die Silos der Entscheider so massiv einbetoniert, dass jegliche Lösungsansätze mit der Lupe zu suchen sind. Wo über den Sommer Lösungen hätten erarbeitet werden können, klaffen heute unübersehbare Krater der gegenseitigen Schuldzuweisungen auf. Und so sehr wir merken, dass wir uns auf die »da oben« nicht mehr verlassen können, so sehr erleben wir gerade die Renaissance des Menschen als Schöpfer seiner Welt, der immer wieder bewiesen hat, dass Widerstände zu Wachstum führen. Genauso, wie ein Muskel im Fitnesscenter erst durch die bewusste Belastung wächst, so haben wir Menschen uns immer schon von Krise zu Krise nach oben gearbeitet. Corona ist das, was wir daraus machen. Nüchtern betrachtet bin ich dankbar – man stelle sich vor, wir hätten diese Pandemie vor 40 Jahren erlebt, als das Gesundheitssystem nicht so weit war und Videotelefonie eine Utopie in den Köpfen von »Star Trek«-Fans. Ja, »Corona is oasch«, wie der Wiener sagt, und zeitgleich sollten wir etwas entspannter nach vorne blicken und uns an den Wiener halten, wenn er sagt, »schau ma mal«.
Vierstufige Skala der Krise ———— Pessimistisch gesehen kann es gut sein, dass die Herausforderungen des Jahres 2020 noch verhältnismäßig kleine sind – im Vergleich zu durchaus möglichen, kommenden Wirtschaftskrisen, dem Klimawandel und seinen Folgen, oder auch »nur« der psychologischen Aftermath dieses Jahres. Sollen wir uns jetzt also in beständiger Sorge und Angst verkriechen oder gar beten, dass es einfach vorbeigeht? Realistisch gesehen haben wir die besten Zeiten für eine Weile wohl hinter uns, müssen private Pläne und unternehmerische Strategien über den Haufen werfen und ganz viele Bausteine unserer Arbeit und unserer Leben neu denken. Und alles im Wissen: Es werden wohl noch ein paar dürre Jahre kommen. Pragmatisch gesehen bleibt einem also gar nichts anderes übrig, als sich zu arrangieren, sich anzupassen und darauf zu besinnen, wer und was man ist. »Wir« sind immerhin in einer Kreativbranche und haben in unserer kleinen Welt die rasante Veränderung als Dauerzustand der letzten Jahrzehnte erlebt. Insofern ist 2020 – bei aller Dramatik – am Ende möglicherweise gar nicht so radikal anders als das Wellenbad der Vergangenheit. Optimistisch gesehen können wir vielleicht genau aus diesem Grund einmal mehr mutig und federführend sein. Ich denke, wir alle müssen den Mut bewahren, das Gute herausholen und betonen zu können, auch wenn es gerade im Kopf und im Geldbörsel enorm schwierig erscheint. Wir schaffen auch das.
Die Krise ist scheiße. Eine Chance ist sie trotzdem, aber nur wenn wir sie auch nutzen. ———— Scheiße ist, dass sich nun viele Menschen ernsthaft um ihre Gesundheit sorgen und diese täglich riskieren müssen. Dass viele von uns nun so in Arbeit schwimmen, dass sie gar nicht mehr nachkommen, während Tausende Menschen ihre Jobs verloren haben. Dass wir alle ein Stück weit in der Luft hängen und heute nicht wissen, was wir nächste Woche noch dürfen. Aber richtig scheiße ist, dass es jetzt denen, die es schon vor Corona viel schwerer hatten – Armutsgefährdete, Arme, prekär Beschäftigte, Menschen, die mit Diskriminierung zu kämpfen haben und ohnehin schlecht dastehen –, noch tiefer abrutschen und weiter an Lebensqualität verlieren. Und in all diesen Gruppen stellen Frauen die Mehrheit, weswegen sie am meisten draufzahlen. Frauen zahlen nicht nur die Rechnung, weil sie öfter ihre Jobs verloren und höhere finanzielle Verluste erlitten haben, während sie gleichzeitig in den systemrelevanten Berufen öfter ihre Gesundheit riskieren müssen als Männer. Sie sind auch doppelt und mehrfach belastet, weil sie ausbaden, was die Regierung durch ihre Untätigkeit verabsäumt, und die Kinderbetreuung, das Homeschooling und die Pflege der alten und kranken Angehörigen nebenbei mitschultern müssen. Dieser Zustand voller Missstände könnte in Zeiten der Krise, in der ohnehin kaum ein Stein auf dem anderen bleiben kann, endlich beendet werden. Eine Rückkehr in die alte Normalität ist schließlich wenig realistisch und noch weniger wünschenswert. Wer will schon wirklich arbeiten bis zum Umfallen, rund um die Uhr performen und sein Privat leben auf ein viel zu kurzes Wochenende voller Hausarbeit reduzieren müssen? Wer will jeden Euro zweimal umdrehen und um seinen Job zittern? In Wirklichkeit niemand, deswegen sollten wir aus der Not eine Tugend machen und die Arbeitszeit verkürzen, Mindestlöhne erhöhen und Vermögen ordentlich besteuern. Wenn wir zukünftig besser und nicht schlechter leben wollen, müssen wir umverteilen. Spätestens jetzt.
Ali Mahlodji ist Gründer von Whatchado, EU-Jugendbotschafter und Trendforscher beim Zukunftsinstitut. Er arbeitet daran, die Welt der Jugend mit der Welt der Arbeit und der Welt der Bildung zu verbinden.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 47
Ink Music
Hannes Tschürtz ist Gründer der Musik agentur Ink Music und vertritt die hiesige Indie-Label-Landschaft in der Mitgliederversammlung des Österreichischen Musikfonds sowie im Vorstand des Branchenverbandes IFPI. Er twittert zu Pop und Politik unter @hannestschuertz.
Arbeitsmarktexpertin
047
Speaker und Trendforscher
Veronika Bohrn-Mena ist Autorin und Arbeitsmarktexpertin. Ihr neues Buch »Leistungs klasse: Wie Frauen uns unerkannt und unbedankt durch alle Krisen tragen« ist Anfang November im ÖGB-Verlag erschienen.
19.11.20 18:06
Workstation Menschen am Arbeitsplatz Nikolaus Ostermann
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 48
Theresa Ziegler
19.11.20 18:06
Patrick Onyemaechi Kainz @lawandbeyond_at
Patricks Kanzlei Law And Beyond hat ihren Sitz in Wien – für seine rund 16,5k Follower ist der Rechtsanwalt aber vor allem auf Tiktok zu finden. Dort beantwortet er Fragen wie etwa: Darf man die Polizei filmen? Und wie ist Sexarbeit gesetzlich geregelt? »Ich setze generell auf Social Media, weil es mir erlaubt, direkt mit meinen potenziellen KlientInnen zu sprechen«, sagt er, »außerdem beraten wir immer wieder in Fällen, wo Recht und Social Media überlappen. Da zahlt es sich schon aus, sich selbst mit den Regeln und Funktionsweisen der Plattformen vertraut zu machen.« Mit seinen Videos möchte Patrick ein Grundlagenverständnis mitgeben und »die Angst davor nehmen, SpezialistInnen um Rat zu fragen«. Seine Tiktoks plant und dreht er gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Theresa Kamp (ebenfalls im Bild). »Wir versuchen, uns einen Vormittag pro Woche freizuhalten und gleich mehrere Videos abzudrehen. Wir machen alles selber – von Konzept und Storyboard, über Regie, Licht, Kamera, Sound und Schnitt bis zum Einfügen von Bildeinblendungen. Das haben wir nicht gelernt, sondern machen viel trial and error oder konsultieren Youtube.«
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 49
19.11.20 18:06
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 50
19.11.20 18:06
TiktokerInnen
Saomai Nguyen Le @saomaile
»I’m bulimic and my doctor gave me laxatives«, titelt ein Video von Saomai. Davor und danach hat sie je eines dieser Tiktoks gepostet, in denen sie aufzählt, was sie alles an einem Tag isst, um »healthy und happy« zu sein – sozusagen Saomais Trademark auf Tiktok. »Meine What-I-eat-in-a-day-Videos filme ich heutzutage wirklich automatisch«, sagt Saomai, »es ist einfach zu einem biologischen körperlichen Prozess geworden – wie Atmen, haha.« Ihre massive Reichweite von mittlerweile über 300k Followern auf Tiktok nutzt sie, um neben vielen anderen Themen auch über psychische Gesundheit zu sprechen. Dabei verbreitet Saomais Feed vor allem Positivität und relatable Content: »Mir selbst ist es wichtig, alle Seiten des Lebens öffentlich zu zeigen und die ups and downs im Leben zu normalisieren.« Seit drei Jahren wohnt die gebürtige Pragerin in Wien, sie studiert an der WU Executive Academy. Außerdem unterstützt sie Unternehmen bei deren Social-MediaStrategie und entwickelt nebenbei gerade ihre eigene App.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 51
19.11.20 18:06
PROSA — MARTIN PEICHL
EINE AUF DEN DECKEL 1930 veröffentlichte Robert Musil den ersten von drei Bänden seines Monumentalwerks »Mann ohne Eigenschaften«. 90 Jahre später veröffentlicht Martin Peichl sein kleines Meisterwerk »In einer komplizierten Beziehung mit Österreich«. Mit scharfem Blick und deutlicher Schlagseite zum schrägen Bild und zu finsterem Humor, blickt Peichl u. a. auf die Lebens- und Liebeskonzepte, die so grassieren. Beobachtungen, die er auf Bierdeckel packt oder in feine Kurzprosa gießt. Zwangsläufig kriegen da auch »Männer ohne Eigenschaften« eine auf den Deckel.
052
MÄNNER OHNE EIGENSCHAFTEN Max, 23 Was Max anturnt: Wenn er beim Fummeln mit einer Frau Münzen in ihren Hosentaschen findet, bevorzugt Zwei-Euro-Münzen, dann will er seine Finger nicht mehr aus den Hosentaschen ziehen, dann fummelt er immer heftiger und immer mehr: mit dem Metall. Ja, Max mag Frauen mit Geld in der Hose, das muss er schon zugeben. Einmal, erzählt Max, hat er ein paar Fünferscheine gefunden, in der Gesäßtasche einer sehr engen Jeans, hat einen davon von der rechten Gesäßtasche in die linke gezaubert, wie Max sagt, ohne dass sein Date etwas bemerkt hätte, darauf ist er schon ein wenig stolz.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 52
Sebastian, 33 Sebastian hat auf seinem Nachtkästchen ein Buch liegen mit dem Titel »Tragische Weisen eine Frau zu töten«. Er freut sich jedes Mal, wenn die von ihm mit nach Hause genommenen Frauen das Buch entdecken, dann beobachtet er ganz genau, was sich in ihrem Blick, wie sich ihre Körperspannung ändert, seine Augen suchen den kurzen, kaum greifbaren Moment, wenn der Fluchtinstinkt versagt, dann wird er so richtig hart, dann kann es losgehen.
Ronny, 27 Am Wochenende geht Ronny gerne in den Wald, den er von seinem Vater geerbt hat, dann startet er die Motorsäge und sägt einen Baum, manchmal auch zwei um, die Zähne der Motorsäge beißen in die Rinde, in das Holz, zerfetzen die morsche Haut des toten Vaters, öffnen seine Blutgefäße und das Harz spritzt: in alle Richtungen.
19.11.20 18:06
Martin Peichl
Bernd, 32 Bernd geht gerne in den Zirkus, dann wartet er darauf, dass der Trapezkünstler zu Tode stürzt, dass dem Messerwerfer ein tödlicher Wurf auskommt, dass dem Löwenbändiger der Kopf abgerissen wird, dass die Kinder dem Clown das Make-up aus dem Gesicht und die Zähne aus dem Mund prügeln, dass der Feuerspucker alles abfackelt, dann sitzt Bernd in der Manege und fiebert einer Katastrophe nach der anderen entgegen. Den Applaus, wenn wieder einmal nichts passiert, wieder einmal alles gut gegangen ist, versteht er nicht, er klatscht dann nur ganz zögerlich, mit Handflächen, die sich kaum berühren.
Eigentlich ist Martin Peichl Lehrer. Seit seinem erfolgreichen Debüt »Wie man Dinge repariert« (Edition Atelier) ist der gebürtige Waldviertler nun auch Schriftsteller. In seinem aktuellen Buch »In einer komplizierten Beziehung mit Österreich« (Kremayr & Scheriau) zeigt sich Peichl als Meister der Kurzform. Hier haben tief- und abgründige Gedankenfetzen, auf Bierdeckel hingesudelt, ebenso ihre Berechtigung wie kurze Prosaskizzen, die vorwiegend Menschen knapp vor der Midlife-Crisis den emotionalen Puls fühlen.
Markus, 28
053
Markus’ Definition von Feminismus: Er schläft nur mehr mit Frauen, die sich selbst als Feministinnen bezeichnen.
Peter, 36
Michael, 37
Peter steht im Möbelhaus bei den Esstischen, geht von Tisch zu Tisch, streicht mit der flachen Hand über die unterschiedlichen Holzmaserungen und schiebt sein Becken nach vorn, ein wenig über die Tischkanten drüber, und wieder zurück, zuerst langsam, dann immer schneller, ein geübter, einstudierter Rhythmus, Peter geht von Tisch zu Tisch und wiederholt den Prozess, ignoriert die Blicke der Angestellten, auf seiner Stirn: erste Schweißperlen, bis er bei einem der Ausstellungsobjekte deutlich länger stehen bleibt, sich mit ihm merklich länger befasst und mehr zu sich selbst sagt als zu irgendjemandem in dem weiten Raum: Ja, der ist es, der passt, ohne das noch immer im Takt baumelnde Preisschild auch nur anzuschauen.
Sehnsucht, sagt die Therapeutin, und Michael bemerkt ihre lackierten Fingernägel, ist ein intensives und ständiges Streben, er sammelt den Speichel in seinem Mund, drückt ihn mit der Zunge gegen die Hinterseite seiner Schneidezähne, in dem instinktive Impulse eine vorwiegend emotive und imaginative Form annehmen, sein Blick gleitet wie ein Eiskunstläufer über ihre blickdichte Strumpfhose, circa 50 DEN, schätzt Michael, sodass sich ihr kontemplatives Wesen im Konflikt mit einem unbestimmten Bedürfnis befindet, er will wissen, wie ihre Haare schamponiert aussehen, wie ihre frisch geduschte Haut auf Druck reagiert, ein Bedürfnis, das nicht zur Aktion führt.
The_Gap_184_010-053_Story_PACK_korr_mf.indd 53
19.11.20 18:06
Haltungsübung Nr. 99
Nach vorne schauen. Eine Haltungsübung für stürmische Zeiten: Nach vorne schauen. Und zwar so oft es geht. Dann spüren Sie nämlich nicht nur den Gegenwind, sondern sehen vielleicht auch die Chancen und Möglichkeiten, die auf Sie zukommen. derStandard.at
Der Haltung gewidmet.
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 54 IMG_Haltungsübung#99_nach_vorne_212x280.indd 1
19.11.20 17:53 07.09.2020 08:49:07
49:07
Rezensionen Musik
Kreisky
Ingo Pertramer
08
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 55
Ach, Ski Alpin: gebenedeit unter den Sportarten, größer als Jesus und die Beatles zusammen, wichtiger als der ganze Klimascheiß. Der Tourismus! Die Tiroler! Der Marcel, weißt eh. Auch wenn Skifahrerinterviews wie eine Landplage über die Öffentlich-Rechtlichen ziehen, immerhin eines bringt uns der ganze Zinnober: regelmäßig sehr gute Songs zum Thema von der noch besseren Gruppe Kreisky. Auf dem famosen Vorgängeralbum »Blitz« etwa »SaalbachHinterglemm«, auf dem sechsten Album »Atlantis« nun »Abfahrt Slalom Super-G«. Über den Marcel – auch nach Ende seiner Karriere bis 2030 Österreichs Sportler des Jahres, sagt der Schröcksnadel – heißt es da folgerichtig: »Mit so wem will ich auch nicht tauschen.« Aber sehr wohl möchte man das mit dem Wenzl Franz Adrian, denn so zackig und knackig gegen alles formulieren und einem dabei gleich so aus der Seele sprechen – puh, das musst auch einmal können. Bei den Argumentationslinien, wieder herrlich skurril chiffriert, aber irgendwie auch offener als bisher, fliegen die Angeprangerten durch die Luft wie die Kippstangen früher beim Sykora. Pass auf: »Wenn euer Audi, euer Audi Q6 / Noch einmal vor unserer Einfahrt parkt / Und wenn euer Scheiß-ADHS-Kind / Morgen wieder mit seiner Drohne / Über unseren Pool fliegt / Dann auf Wiedersehen«, heißt es in »ADHS«. Ja, auf »Atlantis« stehen mehr die beknackten Geschichten des Alltags im Vordergrund, weniger Claims für die Bobo-Turnsackerl, mehr Gruselgeschichten fürs Abstandhalten am Kamin. »Lonely Planet« ist auch so eine: »Und die Jugendherberge / In der sich die Klimaanlage nicht regeln lässt / Die ganze Nacht friert es dich / Und du fühlst dich beschissen / Aber frei.« Man merkt’s: Reime sind für die Fisch’, Refrains nicht mal für den Kaviar. Im Endeffekt geht’s irgendwie ums Zerbrechliche im Menschen, um Gebrochene, nicht Gebrochenes – wenn man jetzt unbedingt ein Konzept dahinter sehen will. Aber erstens ist so etwas überschätzt und zweitens machen das Kreisky eh schon immer. Und super sowieso. So kann das neue Jahr nur besser werden als das alte. Wobei. (VÖ: 22. Jänner 2021) Dominik Oswald
055
Atlantis — Wohnzimmer Records
19.11.20 17:53
Rezensionen Musik
Dreimalumalpha
Conny Frischauf
08
08
Wenn die Nacht am tiefsten ist, lässt es sich am schönsten träumen. Wenn die Nächte ganz besonders lang sind, dann schlummert man eben noch ein bisschen länger seinen Sehnsüchten entgegen. Dass das mutmaßlich verträumteste und schwelgerischste Album dieses ansonsten nur von Angstträumen heimgesuchten Jahres pünktlich zum allerorts herbeigesehnten Winterschlaf erscheint, darf da natürlich ganz unverblümt als Wink des Schicksals verstanden werden. Als Wink mit dem Zaunpfahl, der sich in die Herzen der Schlafwandelnden bohrt. Dort gehört sie auch hin, die Musik der Innsbrucker Drei-Buben-Band Dreimalumalpha, die gar nicht mal so nach Innsbruck klingt (ist ja auch ein Deutscher dabei). Der Bandname hört sich mathematisch an, die Songs füllen aber vor allem die Räume zwischen 0 und 1. Das ist eben die Art von Naturwissenschaft, die man in der Hamburger Schule lernt – und von deren arg bekritzelten Schummelzetteln haben sich die Tiroler für ihr Debütalbum hör- und spürbar inspirieren lassen. Dass »Jugend ans Geld verloren« auch schon vor zehn, zwanzig, vierzig Jahren genauso hätte erscheinen können, ist auch dieser vielleicht manchmal beratungsresistenten Genreschublade zuzuschreiben. Im Falle von Dreimalumalpha ist das aber kein Beweis von mangelndem Zeitgeist, sondern ein Statement für die Allgemeingültigkeit der transportierten Gefühlswelten. Zeitlos quasi. Denn das Album wird auch noch in zehn, zwanzig oder vierzig Jahren funktionieren. Weil nämlich, Punkt eins: Musikalisch sind die elf Stücke recht wenig polarisierend, da gibt’s gar nichts. Feinster Gitarrenpop, passend für jegliche Hörgewohnheiten. Und vor allem, Punkt zwei: Da werden Sätze durchgehend so fabulös fabuliert – denk an ein »Hi Freaks« in Dauerschleife. So lässt sich (nicht nur) das mancherorts schon wild zitierte »Du bist ein Ausnahmetalent in Sachen Freizeitgestaltung« aus dem Singlehit »Zu Besuch« ganz problemlos für niedliche Einträge in Poesiealben stibitzen. Und ein Satz aus »Ohne Theorie keine Revolution« eignet sich als gespraytes Wandtattoo für die Studierenden-WG: »Traurige Gesichter sind mit Sicherheit ein grundlegender Maßstab der Systembeschaffenheit.« Na, da schaust! (VÖ: 1. November 2020) Dominik Oswald
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 56
Die Drift — Bureau B
»Es geht rauf, rauf, rauf.« Gemessen am allgemeinen Gemütszustand ist das momentan etwas, das man zwar hören will, aber (noch) nicht wirklich glauben kann. Die erste Wortkaskade aus Conny Frischaufs Debütalbum hat es in sich. Und da das Werk erst Mitte Jänner des verheißungsvollen kommenden Jahres erscheint, kann sich bis dahin ja noch relativ viel (zum Guten) verändern. Bei allem Optimismus muss doch nüchtern eingestanden werden, dass sich die Troubles von 2020 nicht in den ersten Takten der nächsten Sonnenumrundung in Luft auflösen werden. Aber egal, was drum herum passiert: »Die Drift« zwingt einen fast zur Unbeschwertheit. In der aktuellen Stimmung, hervorgegangen aus einer aktuellen Unzufriedenheit mit der globalen Gesamtsituation, fühlen sich Songs wie »Fenster zur Straße« anfangs zwar etwas fehl am Platz an, holen einen aber nach den ersten Takten doch ein. Wenn du trotzig in der Ecke sitzt und dir das Schmunzeln zwanghaft verkneifst, kommt »Die Drift« auf dich zu und flüstert dir ins Ohr, dass es okay ist, sich mal kurz keine zu ernsten Gedanken über die Welt da draußen zu machen. Bald erwischt man sich selbst beim grinsenden Mitwippen. Die Tracks transportieren dabei einen gewissen Jam-Vibe, als würde man ein DJ-Set durch einen kleinen Gag brechen. Aber die reduzierte Musikalität lässt die Songs trotzdem wuchtig nachwirken. Vor allem die stimmungsvollen Harmonien der gelayerten Stimme sind dabei beeindruckend. Mit »Die Drift« legt die Wiener Künstlerin Conny Frischauf nach ihren EPs »Effekt & Emotion« (International Major Label) und »Affekt & Tradition« (Kame House) aus den Jahren 2018 respektive 2019 ihr erstes Album in voller Länge auf den Tisch. In Wien und Umgebung ist sie seit 2013 als Live-Act und DJ umtriebig. Vermutlich ist die dabei entwickelte Routine zwischen den verschiedenen musikalischen Spielarten der Grund dafür, dass dieses Album in so eine ernsthafte Gelassenheit eingehüllt scheint. Und genau davon können wir zukünftig vielleicht alle etwas mehr gebrauchen. (VÖ: 15. Jänner 2021) Sandro Nicolussi
Nicolas Hafele, Zoe Kursawe
056
Jugend ans Geld verloren — Motor Music
19.11.20 17:53
Nicolas Hafele, Zoe Kursawe
Gewinnen thegap.at/gewinnen 1
2
3
4
5
MARTIN KOHLSTEDT AB 27.11.
1 Augen- und Nasenbefeuchtung von Ursapharm Web-Meetings, Binge Watching, always on – unsere Arbeits- und Lebens gewohnheiten werden zurzeit auf den Kopf gestellt. Wir verbringen viel Zeit am Laptop, am Handy und mit Fernsehen, während die Luft in beheizten Innenräumen besonders trocken ist. Für unsere Augen und Nasenschleimhäute ist dies eine große Herausforderung. Augen- und Nasenbefeuchtung spielen daher eine wichtige Rolle. Ursapharm und The Gap unterstützen dich dabei. Wir verlosen fünf Gewinnspielpackages, bestehend aus je 2 � HYLO CARE® und HYLO FRESH® Augentropfen, hysan® Hyaluronspray, hysan® Pflegespray und hysan® Salinspray. (Hersteller: Ursapharm Arzneimittel GmbH, Saarbrücken; Vertrieb: Ursapharm Ges.m.b.H., Klosterneuburg, www.ursapharm.at)
2 »50 Jahre Austropop« 1970 gilt vielen als Geburtsstunde des Austropop. 2020 wird folglich dessen Fünfziger gefeiert. Wie wir für unser Projekt AustroTOP haben auch Universal und Sony Music in den Archiven gegraben. Das Ergebnis: je eine Doppel-CD mit Hits von gestern und heute. Wir verlosen 5 � 2 Compilations plus je 1 Austropop-Kartenspiel.
3 »Total Recall« »Erinnerungen en gros« bzw. »We Can Remember It For You Wholesale« heißt Philip K. Dicks Kurzgeschichte, aus der Paul Verhoeven den SciFi-Filmklassiker »Total Recall« gemacht hat. Mit Arnie und Sharon Stone top besetzt und ganz neu in einer restaurierten Version in 4K-Auflösung erhältlich. Wir verlosen zwei Doppel-DVDs.
4 »Brot« Kaum ein Lebensmittel steht hierzulande öfter auf dem Speiseplan als Brot. In seinem gelungenen Dokumentarfilm erzählt Regisseur Harald Friedl von der Industrialisierung der Brotproduktion ebenso wie von einem Wiedererstarken alter handwerklicher Traditionen in Europas Backstuben. Wir verlosen drei DVDs.
5 »Bier!« In den letzten Jahren hat sich in Sachen Biervielfalt einiges getan, Stichwort Craft-Bier. Friedrich Mosers Doku mit dem kecken Untertitel »Der beste Film, der je gebraut wurde« schaut kreativen BraumeisterInnen über die Schulter und informiert Durst auslösend über Hopfen, Malz, Hefe und vieles mehr. Wir verlosen drei DVDs.
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 57
DAS NEUE ALBUM FLUR
CD VINYL STREAM DOWNLOAD 19.11.20 17:53
Termine Festivals
3 Fragen an Lisa Heuschober & Michael Schmied
In der Reihe »Habitat« werden Filme gezeigt, die die Veränderung menschlicher Lebensräume beleuchten. In welche Richtungen werden diese Themen diskutiert? Die Filme widmen sich Umweltpolitik, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, der Verdrängung verschiedener Gesellschaftsgruppen und der Aneignung von Lebensraum aufgrund wirtschaftlicher Motive. »Habitat« betrachtet Lebensraum als ein Konstrukt, das im ständigen Wandel ist und zeigt an fünf verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kontexten, welche Probleme damit einhergehen, wenn dieser Wandel nicht auf der Selbstbestimmung der BewohnerInnen basiert.
Wer zuletzt lacht ... Komödien gegen die Krise Wer erinnert sich noch an Lachen? Ja, früher waren wir tatsächlich manchmal des Lebens so froh, dass uns ein Schmunzeln ausgekommen ist. Das war vor der Krise. Und mal Scherz beiseite – genau dieses Lachen will das Filmmuseum mit seinem aktuellen Programm wieder zurückholen. Komödien sind schließlich der Coping-Mechanismus schlechthin. Das wissen Filmschaffende nicht erst seit heute. Der wohl berühmteste Klassiker, wie man mit Humor zum Beispiel Widerstand gegen die Diktator-Ambitionen in einem vermeintlich aufgeklärten Land leistet, ist Charlie Chaplins »The Great Dictator« (Foto). Im Programm des Filmmuseums finden sich zahlreiche weitere Perlen wie der japanische Horror-Experimentalfilm »Hausu« oder Helge Schneiders »Jazzclub – Der frühe Vogel fängt den Wurm«. Dezember 2020 Wien, Filmmuseum
Der Festivaltrailer des kosovarischen Künstlers Leart Rama spielt an der Schnittstelle von menschlichen Emotionen und Grundrechten. Wie hat sich eure filmische Sicht auf Gefühle und Grundrechte in diesem Krisenjahr geändert? Vor allem in diesem Jahr sind viele Orte der Begegnung weggefallen, konnten Emotionen oft nicht oder nur mit weniger Personen geteilt werden. Unsere Sicht auf die Überlappung von menschlicher Emotion und Grundrechten hat sich nicht geändert, jedoch haben wir gemerkt, wie essenziell Plattformen sind, die Raum für Emotion geben, und wie schwer es ist, wenn diese wegfallen. This Human World 3. bis 13. Dezember 2020 online
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 58
Feschmarkt
c
ÖSTERREICHS CLUBSZENE IM RADIOKULTURHAUS
KREISKY 20.01.2021 KARTEN UND INFOS: radiokulturhaus.ORF.at
© Ingo Pertramer
Um es sich zu Hause so fesch wie möglich machen zu können, richten wir unsere Sehnsucht auf die Designs der Außenwelt, etwa am Feschmarkt. Ein Best-of von allem, was Kreativhandwerk in Österreich zu bieten hat. Dabei findet sich Fesches u. a. aus Kunst, Mode, Kosmetik, Papeterie, Schmuck und Delikatessen. 11. bis 13. Dezember 2020 Feldkirch, Pförtnerhaus — Jänner 2021 (tbc) Wien, Ottakringer Brauerei
Hyperreality Hyperreality sei eng an Utopien geknüpft, heißt es im Pressetext zur kommenden und zugleich letzten Ausgabe des Festivals für Clubkultur. Gerade in einer Zeit, die einer gelebten Dystopie gleicht, braucht es diese Utopien dringend. Im Line-up finden sich sowohl österreichische NewcomerInnen wie Rosa Anschütz als auch internationale Acts wie Schacke aus Kopenhagen. 8. bis 11. Februar 2021 Wien, Stadtkino und Gustav-Adolf-Kirche
Lorenz Zenleser, Österreichisches Filmmuseum / Roy Export SAS
This Human World ist ein aktivistisches Filmfestival. Wie übersetzt ihr diese politische Ausrichtung in ein Online-Festival? Die Teilnahme an einem Diskurs im Kontext der Menschenrechte, Sichtbarkeiten zu schaffen und Diskussionsrahmen zu spannen – das sehen wir als Aufgabe von This Human World und im Rahmen des Möglichen für ein Filmfestival. Auch als Online-Version will und muss This Human World genau diesen Aufgaben nachkommen. Vorübergehend wird dieser diskursive Ort, der nicht für Personen agieren, sondern mit ihnen interagieren will, jedoch nur über die Distanz erschließbar sein.
Theresa Ziegler
058
FestivalleiterInnen This Human World
19.11.20 17:53
springtime highlights Sa. 16.01. HipHop / Rap
Bild: Redlips
BumBumKunst & Skero
Mo. 18.01. Musikkabarett
Christoph & Lollo: Schispringerlieder
Mi. 20.01. Kabarett
maschek: Das war 2020
Fr. 29.01. Kabarett
Benedikt Mitmannsgruber: Exodus
Do. 04.02. Kabarett
Elli Bauer: Stoffsackerlspruch
Sophie Lindinger & Oska
Fr. 05.02. Kabarett
Tim Cavadini, Hanna Fasching, Rea von der Liszt, Patricia Narbon The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 59
Flüsterzweieck: Kult
Bild: Jasmin Schuller
Die österreichische Musikszene ist zwar divers af, trotzdem geben einige einzelne kreative Köpfe durchaus den Ton an. Einer dieser Köpfe ist auf jeden Fall der von Sophie Lindinger. Seit sie das erste Mal »Superego« hauchte, hatte sie bei vielem ihre talentierten Finger drin – ob als Sängerin oder Songwriterin. Nicht zuletzt war sie es, die die Idee zur wunderbaren Supergroup My Ugly Clementine hatte. Da ist die Neugierde natürlich groß, in welche Richtung der Kopf von Lindinger blickt, sobald sie solo auf der Bühne steht. Wirklich solo ist sie aber eh nicht – man beachte den Titel des Events: »Solo Together«. Auch Newcomerin und XA-Award-Gewinnerin Oska wird die Bühne mit ihrem traumhaften Songwriting füllen. Und mit ihrer Stimme erst! Ob da schon die nächste Supergroup entsteht? 22. Jänner 2021 Wien, Radiokulturhaus
Theresa Ziegler
Lorenz Zenleser, Österreichisches Filmmuseum / Roy Export SAS
Theresa Ziegler
Termine Musik
Sharktank Musikkenner Michel Attia hat es in seiner Zukunftsschau ab Seite 24 schon angedeutet: Ein erstes Konzert von Sharktank steht weit oben auf der Wunschliste für 2021. Ihre Debütsingle »Washed Out« wurde zum Hit und macht sich live sicher genauso gut wie an der Spitze der FM4-Charts. Bis dahin malen wir uns Rapper Mile, Tausendsassa Marco Kleebauer am Schlagzeug und Sängerin Katrin Paucz weiterhin auf einer gemeinsamen Bühne aus. Jänner 2021 Wien, Wuk
Fr. 12.02. Pop
Pippa & Band
Do. 25.02. Kabarett
Sonja Pikart: Metamorphose
Fr. 12.03. Singer / Songwriter
Voodoo Jürgens
Sa. 13.03. Pop / Electro
Oehl / Mynth
Di. 16.03. Songwriter / Pop
Mynth »Mynth | Shades«, das neueste Werk der überaus talentierten Mynth-Zwillinge, ist der Beweis dafür, dass ein musikalischer Rebrand super funktionieren kann. Mit der Ankunft in einem softeren, retroesken Sound sagen Giovanna und Mario Fartacek »Hallo!« zu einer musikalischen Zukunft im ewigen Oktober. Just what the doctor ordered! 19. Februar 2021 Salzburg, Rockhouse — 25. Februar 2021 Graz, Orpheum — 26. Feb ruar 2021 Wien, Wuk — 13. März 2021 Linz, Posthof
Avec
Sa. 20.03. Indierock
Kreisky
POSTHOF – Zeitkultur am Hafen, Posthofstraße 43, A – 4020 Linz Info + Tickets: 0732 / 78 18 00 kassa@posthof.at | www.posthof.at Weiterer VVK: LIVA Servicecenter im Brucknerhaus, Veritas Kartenbüro, oeticket und alle oberösterreichischen Raiffeisenbanken.
19.11.20 17:53
Szenestars Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl haben gemeinsam so einiges vor in naher und fernerer Zukunft: 2022 wird das queere KünstlerInnenduo den Österreichischen Pavillon bei der 59. Biennale in Venedig konzipieren. Vorab gibt es aber noch eine Ausstellung im Ländle zu bestaunen. Gesellschaftliche Zuschreibungen werden darin klassisch à la Knebl und Scheirl zerpflückt und hinterfragt – was bei obligatorischen Themen wie Genderidentität beginnt, aber bei Materialiät, Kontext oder Genres noch lange nicht aufhört. Ein anarchisch humorvoller Kosmos erwartet die BesucherInnen im Kunsthaus Bregenz, der aus raumgreifenden Installationen von dem Duo erschaffen wurde. 12. Dezember 2020 bis 14. März 2021 Bregenz, Kunsthaus
Jakob Lena Knebl & Ashley Hans Scheirl – Seasonal Greetings
060
Termine Kunst
Her Ver
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 60
19.11.20 17:53
Miro Kuzmanovic / Kunsthaus Bregenz; Ralf-Bodo Kliem, Bildrecht, Wien; Alma Heikkilä; Oliver Brenneisen; Isabel Nolan / Kerlin Gallery, Dublin
Termine Kunst Linda Bilda Linda Bilda war Comic-Zeichnerin, Verfasserin von Manifesten, Mitglied der Secession; sie bespielte mit lauten Aktionen den öffentlichen Raum und gründete Zeitschriften wie Die weisse Blatt. In ihrem künstlerischen Bestreben stand stets der emanzipatorische Gedanke im Mittelpunkt, die Welt zu verändern. Im Sommer 2019 verstarb die Wiener Künstlerin und Aktivistin. Das Lentos widmet sich nun dem vielschichtigen Schaffen von Linda Bilda in einer ersten Retrospektive der multidisziplinären Künstlerin. bis 7. Februar 2021 Linz, Lentos
Alma Heikkilä Alma Heikkilä lebt in einer kleinen Welt – zumindest, wenn es um die Objekte ihrer künstlerischen Begierde geht: Die Finnin befasst sich mit mikroskopischen Bakterien, Fungi und anderen winzigen Spezies. Was sich unter dem Mikroskop abbildet, münzt sie auf die globale Welt um und sie stellt sich in ihren künstlerischen Fragen klimapolitischen Themen wie Massenaussterben, Energieverbrauch und Klimawandel. Dabei entstehen lebendige Skulpturen und großformatige Malereien. 11. Dezember 2020 bis 26. Februar 2021 Graz, Kunstverein
061
Lone Haugaard Madsen Lone Haugaard Madsen beschäftigt sich mit dem Kreislauf der Kunstproduktion: Im Werk der Dänin wechselt sich Produktion mit Reproduktion ab, Präsentation mit Repräsentation. Dabei tauscht Madsen die eigene Rolle der Künstlerin oft auch mit der einer Betrachterin, Kuratorin und vice versa. Für die Einzelausstellung »Raum #365« entwickelt sie eine Rauminstallation, die die komplexen Zusammenhänge des Kunstschaffens sichtbar macht. 22. Januar bis 5. März 2021 Klagenfurt, Kunstraum Lakeside
Line As Thought, Lines As Universe
AnzCons 19/01
Michaela Pichler
Ein Strich, eine Linie oder eine ganze Welt – in Skizzen und Zeichnungen passen Gedanken, Ideen, oder gar ganze Konzepte hinein. So hat es zum Beispiel auch die rumänische Künstlerin Alina Popa gehandhabt. Nach einer langen Leidensgeschichte ist sie 2019 an einer schweren Erkrankung gestorben. Ihre Arbeiten stehen nun im Fokus der Ausstellung »Lines Of Thought«, die sich neben Popas Schaffen auch anderen zeitgenössischen Positionen der gezeichneten Kunst widmet. 29. Jänner bis 11. April 2021 Salzburg, Kunstverein
DIE RICHTIGE LÖSUNG FÜR JEDES TROCKENE AUGE Informationen, Tipps & Tricks unter hyloeyecare.at
Hersteller: URSAPHARM Arzneimittel GmbH, Industriestraße 35, 66129 Saarbrücken Vertrieb Österreich: URSAPHARM Ges.m.b.H., 3400 Klosterneuburg, www.ursapharm.at
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 61
6 Monate nach Anbruch haltbar
Schnelle Erfrischung für müde und gestresste Augen
Schutz und intensive Befeuchtung für trockene und gereizte Augen 19.11.20 19:05
Termine Filme & Serien
5 Fragen an Katrin Schlösser
Regisseurin und Hauptdarstellerin von »Szenen meiner Ehe«
Hat die Anwesenheit der Kamera das Agieren mit deinem Mann verändert? Wenn ja, inwiefern? Ja und nein. Es gibt Szenen, in denen wir uns »in Szene setzen«, mit der Kamera spielen. Und, es gibt Situationen, in denen wir die Kamera nicht spüren. Wir experimentieren und üben uns im »Aussprechen«. Ich bin eine ernste Frau, während der Dreharbeiten mit Lukas entdecke ich den Humor, und wie befreiend es ist, wenn ich mich selbst nicht so wichtig nehme. Welche Erinnerung an den Dreh begleitet dich noch bis heute? Die Erkenntnis, dass mein geliebter Mann ein Fremder ist und auch ich voller Überraschungen stecke, dass das aber kein Grund zur Panik ist. Was hast du durch die Arbeit an dem Film über die Liebe gelernt? Dass Liebe und Vertrauen zusammengehören. Auch Vertrauen sich selbst gegenüber. Und die Bereitschaft, sich dem anderen gegenüber zu öffnen, ihm zuzuhören. »Szenen meiner Ehe« Start: 11. Dezember 2020 (tbc)
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 62
The Trouble With Being Born Regie: Sandra Wollner ———— Als eine Art »Anti-Pinocchio« bezeichnet die Regisseurin Sandra Wollner ihren Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg. In »The Trouble With Being Born« erzählt die aus Österreich stammende Filmemacherin in atmosphärischer Bildsprache die Geschichte der Androidin Elli (Lena Watson), die als vermeintliche Tochter ihres Schöpfers Georg (Dominik Warta) aufwächst. Sie wurde von Georg als Abbild seiner wirklichen Tochter erschaffen. »The Trouble With Being Born« wurde bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet – u. a. gab es den Spezialpreis der Jury bei der Berlinale und mehrere Auszeichnungen auf der Diagonale, etwa den Großen Diagonale-Preis. Auch die Kritik ist durchaus angetan. Ein Film über Künstliche Intelligenz und menschlichen Willen, Schuld und Identität. Sandra Wollners Name wird man sich merken müssen. Start: 22. Jänner 2021
Markus Rössle, Stadtkino Filmverleih, Panama Film, Sky, Showtime
Gefilmt wurde mit einer Handykamera. Warum? Diese Kamera kann ich bedienen. Sie stand mir jederzeit zur Verfügung. Lukas, mein Protagonist, war einverstanden, von mir gefilmt zu werden. Es war ein Geschenk an mich. Ein Filmteam hätte in unserem Leben keinen Platz gehabt.
Epicentro Regie: Hubert Sauper ———— Reisen und die Welt entdecken – auch so etwas, das uns Corona dieses Jahr verunmöglicht hat. Zum Glück gibt es noch das Kino, zum Glück gibt es noch Filme, die uns mitnehmen, hinaus in die Welt und hin zu den Menschen. »Epicentro«, die neue Dokumentation des Oscar-nominierten Regisseurs Hubert Sauper ist so ein Film. Er nimmt uns mit nach Kuba, nimmt uns mit zu verschiedenen Menschen, die dieses Land, das von vielen als »utopisch« bezeichnet wird, prägen. 1898 ist im Hafen von Havanna die USS Maine, ein Schlachtschiff zweiten Ranges, explodiert. Das Ereignis gilt als Anlass für den Spanisch-Amerikanischen Krieg und den daraufhin einsetzenden amerikanischen Imperialismus. Auch das Kino wird auf Kuba zum Propagandawerkzeug. »Epicentro« wurde beim Sundance Film Festival in der Reihe World Cinema Documentary mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, bei der Viennale mit dem Wiener Filmpreis. Start: 11. Dezember 2020
Barbara Fohringer
062
Dein Debütfilm verhandelt dein Privatleben. Wie kam es dazu, dass du das Private öffentlich gemacht hast? Brauchte es viel Mut dazu? Die ersten Aufnahmen entstanden spielerisch, aus dem Moment. Ich hatte nicht die Absicht, daraus einen Film zu machen. Erst als ich das Material einer Kollegin zeigte, entstand die Idee eines autobiografischen Liebesfilms. Im Endfertigungsprozess brauchte ich Mut, um den Film abschließen zu können. Das war eine emotional spürbare Herausforderung.
19.11.20 17:54
museumsquartier
The Midnight Sky
Und morgen die ganze Welt Regie: Julia von Heinz ———— Luisa (Mala Emde) will sich gegen den steigenden Rechtsruck in Deutschland einsetzen und schließt sich einer Antifa-Gruppe an. Auch ihre FreundInnen Batte (Luisa-Céline Gaffron), Alfa (Noah Saavedra) und Lenor (Tonio Schneider) sind Teil der Gruppe. Alfa und Lenor betrachten Gewalt als legitimes Mittel. Bald muss sich Luisa fragen, wie weit sie selbst gehen möchte. Start: 18. Dezember 2020
Alles ist eins. Außer der 0. Regie: Klaus Maeck und Tanja Schwerdorf ———— Der deutsche Journalist und ComputerAktivist Wau Holland war einer der Gründer des 1981 ins Leben gerufenen Chaos Computer Club, der mittlerweile zur größten Hackervereinigung Europas gewachsen ist. »Alles ist eins. Außer der 0.« erzählt dessen Geschichte. Es geht um Hacks und Informationsfreiheit, technische und soziale Entwicklungen. Nicht nur für »Nerds«! Start: 15. Jänner 2021
Little Things Regie: John Lee Hancock ———— Zwei Cops (Denzel Washington und Rami Malek) machen Jagd auf einen Serienkiller (Jared Leto). Dabei kommt es zu Konflikten, hat doch einer der beiden nicht nur ein detektivisches Gespür und ein Auge für Details, sondern auch ein dunkles Geheimnis. John Lee Hancock bringt mit seinem starbesetzten Film – alle drei Hauptdarsteller haben bereits einen Oscar erhalten – Spannung auf die große Leinwand. Start: 29. Jänner 2021
Two Weeks To Live
Your Honor
Entwickelt von Gaby Hull ———— »Game Of Thrones«-Fans können sich auf ein Wiedersehen mit Maisie Williams freuen. Diese spielt in »Two Weeks To Live« Kim, eine junge Frau, die sich auf die Suche nach dem Mörder ihres Vaters begibt. Ihre Kindheit hat sie bei ihrer Mutter (Sian Clifford, bekannt aus »Fleabag«) verbracht, nun trifft sie auf allerhand schräge Figuren. Schwarzen Humor und CharakterdarstellerInnen gibt es in dieser britischen Mini serie. Ab 4. Dezember 2020 Sky
Entwickelt von Ron Ninio und Shlomo Mashiach ———— Auch diese Miniserie dürfte uns zum Bingen verführen: Bryan Cranston, uns allen noch als Walter White aus »Breaking Bad« in Erinnerung, spielt dieses Mal Michael Desiato, einen Richter, der vor einer schwierigen Entscheidung steht, hat doch sein Sohn ein Verbrechen begangen. Wie weit geht ein Vater für sein Kind? Eine Adaption der israelischen Serie »Kvodo«. Wir sind gespannt! Ab 6. Dezember 2020 Showtime
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 63
želimir žilnik, frühe werke (produktionsfoto), 1968 • Foto: Andrej Popović, Courtesy der Künstler
Regie: George Clooney ———— Ebenfalls bald auf Netflix zu finden, ist die neue Regiearbeit von George Clooney. In »The Midnight Sky« spielt er den krebskranken Astronomen Augustine Lofthouse, der von einer globalen Katastrophe erfährt. Doch er will sich nicht evakuieren lassen, sondern seine Arbeit in der Arktis fortsetzen. Als er im Weltall ein Raumschiff entdeckt, versucht er, dessen Crew vor der Rückkehr auf die Erde zu warnen. Start: 11. Dezember 2020
19.11.20 17:54
reltsnüK red ysetruoC ,ćivopoP jerdnA :otoF • 8691 ,)otofsnoitkudorp( ekrew ehürf ,kinliž rimilež
Markus Rössle, Stadtkino Filmverleih, Panama Film, Sky, Showtime
Regie: David Fincher ———— Das Drehbuch zum Klassiker »Citizen Kane« steht in Finchers neuem Film im Mittelpunkt, genauer gesagt: der Streit zwischen Autor Herman J. Mankiewicz (Gary Oldman) und Regisseur Orson Welles (Tom Burke). Das Buch zu »Mank« wiederum schrieb Jack Fincher, der bereits verstorbene Vater David Finchers. Der Film erscheint – ganz coronasicher – auf Netflix. Start: 4. Dezember 2020
želimir žilnik
Barbara Fohringer
Mank
Termine Bühne Testo Junkie
064
In einer Hommage an den befreundeten französischen Autor Guillaume Dustan, der an der falschen Dosierung seiner HIV-Medikation verstorben ist, und an die Liebesbeziehung zu Virginie Despentes, verhandelt Queer-Theoretiker und Philosoph Paul B. Preciado im Text »Testo Junkie« die eigenen geschlechtsangleichenden Eingriffe – von Beatriz zu Paul. Eine Vermischung von pornografischen Schilderungen über Selbstpenetrationen, als Versuche mit dem eigenen Körper, mit Theorietexten von Jacques Derrida, Michel Foucault und Judith Butler. Zu sehen am Werk X unter der Regie von Christine Eder. 5. bis 19. Dezember 2020 Wien, Werk X
Who Can Swim, Swim!
Wir begehren
Peter Pertusini stellt mit dem neu gegründeten Theaterkollektiv Kochen mit Wasser dessen erste Produktion »Who Can Swim, Swim!« am Werk X-Petersplatz vor. Es geht um Wert und Selbstwert, um die Figuren dieser Stückentwicklung (eine Alleinerziehende, ein junger Aufstrebender und zwei Youtuber), die alle mit sich und miteinander beschäftigt sind. Ein Träumen von Freiheit oder wenigstens vom ungetrübten Blick auf den Horizont. Formal ist die Inszenierung an das von Hans-Thies Lehmann begrifflich geprägte »Postdramatische Theater« angelehnt. Für die »theatrale Versuchsanordnung zum Thema Autarkie und Abhängigkeit, Freiheit und Ohnmacht« verspricht man »opulente Visuals« und »kräftige Klänge«. 11. bis 18. Dezember 2020 Wien, Werk X-Petersplatz
»Wir begehren« ist als »ein uncooler Abend mit uncoolen Emotionen« untertitelt und stellt eine Gruppe von Frauen in den Fokus, die – ähnlich den Heldinnen griechischer Tragödien – den Zustand der Gesellschaft anklagen. Eine Bestandsaufnahme – denn die Welt gefällt nicht, wie sie jetzt ist – wie auch eine Selbstbezichtigung, dass dagegen nichts getan werde. Ein Artikulieren des Unmuts und ein Blick auf das eigene Begehren. Ganz den aktuellen Unsicherheiten entsprechend kündigt man an: »An diesem Abend lassen wir das Begehren aus dem Käfig. Ob online oder live oder alles auf einmal, das werden wir erst sehen.« 3. Dezember 2020 bis 21. Jänner 2021 Graz, Theater im Bahnhof
Oxytocin Baby Tinder – A Fucked Up Night »There is a crack in everything, thats how the light gets in«, singt Leonhard Cohen im Song »Anthem«. Mit ganz ähnlicher Philosophie wartet »Tinder – A Fucked Up Night« auf: die titelgebenden »Nächte des Scheiterns« als Chance betrachten – so die Idee dieses Stücks, in dem die Schauspielerin und Musikerin Bina Blumencron Dating-Misserfolge und daraus resultierende Erkenntnisse als Monologe zum Besten gibt. Der von Ben Pascal geschriebene Text wird hier mit Livemusik performt und mit allerlei Ironie und Wortwitz versehen. Nach Aufführungen am Schauspielhaus Salzburg gastiert »Tinder – A Fucked Up Night« im neuen Jahr im Kristallwerk, organisiert vom Verein Das andere Theater. 5. und 6. Februar 2021 Graz, Kristallwerk
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 64
Anna Neata, Studentin der Sprachkunst an der Angewandten in Wien, hat mit ihrem Stück »Oxytocin Baby« einen Text über Schwangerschaft, Mutterschaft und Selbstkontrolle vorgelegt. Oxytocin, das beim Geburtsprozess wichtige Hormon – es bringt die Gebärmutter dazu, sich zusammenzuziehen und damit die Wehen auszulösen –, hat auch maßgeblichen Einfluss auf die allgemeine Interaktion der Mutter mit dem Kind. Gebären tut man in »Oxytocin Baby«, unter der Regie von Rieke Süßkow, im Flixbus zwischen den Sitzen; es ist eine Geburt des Kindes, der Liebe und der Unsicherheit. 28. Jänner 2021 Wien, Schauspielhaus
Oliver Maus
In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln wird im Theater Nestroyhof / Hamakom die Geschichte von Eric und Margot erzählt, die im Juni 1945 in Paris von einem Ort zurückkehren, von dem es kein Zurückkehren hätte geben sollen: Auschwitz. Sie verschanzen sich ein Jahr lang in einer leeren Wohnung, um nicht an der Welt teilhaben zu müssen. Doch auch wenn die Gespenster der Vergangenheit die Prota gonistInnen immer wieder heimsuchen, so treten sie hier die Flucht nach vorn an: zurück ins Leben. 21. bis 23. Jänner 2021 Wien, Theater Nestroyhof / Hamakom
Claudia Virginia Dimoiu, David Haunschmidt
Überlebensdialog
19.11.20 17:54
Ausbruch aus der Filterblase
Du verlässt dich nicht gern auf Algorithmen, sondern machst dir lieber dein eigenes Bild? Hol dir jetzt dein U27-Vorteilsabo: gecheckte Fakten, spannende Stories, tiefgehende Reportagen und vielseitige Meinungen. DiePresse.com/u27
„Die Presse“ U27
besonders günstige, flexible Abopakete für alle unter 27
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 65
19.11.20 17:54
Josef Jöchl
artikuliert hier ziemlich viele Feels
Manche Leben verlaufen parallel, so wie meines und das von Britney Spears. Seit wir Ende der 90er auf der Bildfläche erschienen sind, haben wir alle Schritte ins Erwachsenenleben in ähnlichem Tempo getan: Einsamkeit, Matura, All-Denim-Outfits. Nach einer Quarter-LifeCrisis, die ihren Namen verdiente, fanden wir uns mächtig sexy, bevor wir uns um die dreißig schließlich eingegroovt haben. Vor den Feiertagen durchquert sie die Mojave-Wüste, um sich in den Kreis ihrer Familie zu begeben. Ich mache das Gleiche im Railjet mit Oberösterreich, und so werden sich unsere Lebenswege bis an unsere Endlichkeit nicht schneiden.
Gimme more Bei Menschen, an die man sich wirklich bindet, verhält sich das ein bisschen anders. Da verschieben sich die Vektoren hin und wieder. Wie bei guten FreundInnen zum Beispiel, oder bei gar nicht so guten FreundInnen. Die erhöhen plötzlich die Schlagzahl, was das Setzen von Meilensteinen betrifft, während man selbst noch munter im Kreis rudert. Sie bauen Häuser oder renovieren welche, landen den tollen Job, setzen neues Leben in die Welt. Sie dissertieren, denken darüber nach, ob ihnen ihre Küche noch gefällt und kriegen ihre Altersvorsorge auf die Reihe. Sie leben einfach ein bisschen höher, schneller, weiter. Die Vernunft sagt einem dann, dass man sich nicht vergleichen sollte. Deren Stimme ist aber viel zu leise, während man im Railjet sitzt und sich fühlt wie ein permanentes Vorher-Foto. Dabei haben Britney und ich in den letzten Jahrzehnten so einiges bewältigt. Wir haben uns die Haare wahlweise abrasiert, schwarz gefärbt oder mit einem Fedora bedeckt. Wir haben es ins Panel einer Castingshow geschafft
und uns irgendwann sogar Kevin Federline abgewöhnt. Wir haben allen, die uns je konnten, den Regenschirm gezeigt. Trotzdem plagen uns manchmal diese Gedanken, wenn wir um vier Uhr Früh auf den Sleep Train warten. Hätte ich ein Jazzalbum aufnehmen sollen wie X-Tina? Warum hab ich mir damals kein Kleid aus Rindfleisch angezogen? Bin ich noch LasVegas-Britney oder schon Leaving-Las-VegasBritney? Wer außer mir nennt Christina Aguilera eigentlich noch X-Tina?
Me against the music Je jünger Menschen sind, desto eher sind sie ’N Sync. Sie arbeiten sich weitgehend an ähnlichen Dingen ab, deshalb fallen Unterschiede nicht so ins Gewicht. Doch selbst in den besten Freundschaften kann es vorkommen, dass die – vom Label oder in Eigenregie kreierten – Personae nicht mehr zueinander passen wollen. Menschen, zwischen die einmal kein Blatt Papier passte, stehen sich auf einmal gegenüber wie Erotica und Evita. Die einen messen den Rasen schon mit dem Lineal, während die anderen sich ihre Nächte mit französischen Producern um die Ohren schlagen. Im schlimmsten Fall warten am Bahnsteig Menschen, die man einmal kannte. Dann scheint es, als wäre man alleine im Kampf gegen die Musik. Was in solchen Momenten nicht hilfreich ist: einknicken, eine Groucho-Marx-Brille aufsetzen, behaupten, man hätte das Post-it erfunden. Letztlich hat man es mit Leuten zu tun, die einmal Little Monsters waren. Schon besser ist da: sich darauf zu besinnen, was einen einmal im Passgang gehen ließ. So werden zum Beispiel gemeinsame Feindbilder niemals alt. Doch auch in der Vergangenheit zu schwelgen, funktioniert nur eine Weile. Will man sich wirk-
The_Gap_184_054-066_Gewinnen_Rezis_Termine_PACK_korr_mf.indd 66
lich wieder begegnen, muss man schon etwas herzeigen – selbst wenn man noch mitten in der Produktion des Comeback-Albums steckt. Was sind denn im Moment meine Hoffnungen, meine Ängste, meine Träume? Das eigentlich Interessante war doch immer, was zwischen den Madonnas passierte.
If Britney survived 2007, you can handle today Bei Fwiends sollte es nämlich egal sein, wie polished man gerade dasteht. Wenn da hundert Personen in einem Raum sind, und 99 davon nicht an dich glauben, und nur eine macht’s, dann kann das dein ganzes Leben verändern. Wer jemals zu deiner Britney-Army gehörte, wird auch 20 Jahre später noch verstehen, was du mit deinem Social-MediaContent sagen willst, und dir deinen Faible für ausgelutschte Popkulturreferenzen, deine psychologischen Schlussfolgerungen auf dem Level eines Buzzfeed-Quiz und deine kurze Aufmerksamkeitsspanne verzeihen. Ach ja, funny: Die Fans von John Cena nennen sich »Cenation«, jene von Ed Sheeran »Sheerios« und die von Kelly Clarkson »Kellebrities«. Hab ich grad auf Wikipedia gelesen. joechl@thegap.at • @knosef4lyfe Josef Jöchl ist Comedian. Termine zum aktuellen Programm »Nobody« findet man auf www.knosef.at.
Ari Y. Richter
066
Sex and the Lugner City Stronger than yesterday
19.11.20 17:54
WENN DIE SCHULE VERSTÄRKUNG BRAUCHT. WENN’S DRAUF ANKOMMT.
The_Gap_184_001-068_Umschlag_PACK_korr_mf.indd 67 Image20_210x280.indd 3
19.11.20 09.11.20 12:38 09:29
Mit der Bankomatkarte online shoppen? Kannst du! Mit der Debit MastercardÂŽ.
Debit Mastercard. Die Bankomatkarte der Zukunft. Mehr auf mastercard.at
The_Gap_184_001-068_Umschlag_PACK_korr_mf.indd 68
19.11.20 12:38