Unterwegs mit Barbara Zeman
Und die Schriftstellerin hat ihren neuen Roman »Beteigeuze« im Gepäck
Und die Schriftstellerin hat ihren neuen Roman »Beteigeuze« im Gepäck
Puh, das ist ja gerade noch mal gut gegangen! Der nach dem ersten Wahldurchgang erwartete Rechtsruck in Frankreich ist nicht eingetreten. Zum Glück. Die unmittelbar vor der Tür stehende Gefahr einer rechten Übernahme des Parlaments hat sowohl Politiker*innen als auch Wähler*innen gerade noch rechtzeitig wachgerüttelt. Nun heißt es abwarten, ob sich mit den neuen Mehrheiten auch wirksame Maßnahmen durchsetzen lassen. Oder ob Frankreich in wenigen Jahren wieder vor demselben Dilemma steht.
In Österreich haben wir hingegen nicht den Luxus einer zweiten Chance. Die Warnsignale müssten jetzt und nicht erst nach einem ersten Zwischenergebnis gehört werden. Denn, um das ganz klar zu sagen: Uns allen sollten die schrillenden Sirenen nur so um die Ohren fliegen. Egal ob Europawahl, Sonntagsfrage oder allgemeines Stimmungsbild – alle scheinen sich einig, dass einem deutlichen Wahlsieg der FPÖ wenig im Wege steht. Die Österreicher*innen haben bekanntlich ein kurzes Gedächtnis, aber haben wir tatsächlich schon vergessen, wie desaströs jede blaue Regierungsbeteiligung bislang war? Worin eine Politik mündet, die auf Ausschlussmechanismen, auf menschenverachtenden Ideologien und fanatischem »Wir«-Gefühl basiert?
Als Teil unseres Specials zu den Nationalratswahlen versuchen wir, Antworten darauf zu finden, warum sich die FPÖ trotz aller Warnungen so großer Zustimmung erfreut. Welche Strategien setzt sie ein? Wen spricht sie an? Wer fühlt sich angesprochen? Außerdem haben wir uns direkt an die wahlwerbenden Parteien gewandt, um festzustellen, wie sie auf fünf brennende Fragen aus dem The-GapKosmos antworten. Abseits des Politischen hat sich Manfred Gram für unsere Coverstory mit der Autorin Barbara Zeman getroffen, die demnächst ihr neues Buch herausbringt. Auch die Band Leyya veröffentlicht bald etwas Neues, nämlich – nach einer Pause – ihr drittes Album. Sarah Wetzlmayr hat nachgefragt, wie es dazu gekommen ist. Zu guter Letzt werfen wir noch einen Blick auf die österreichische Specialty-Coffee-Szene und schauen uns an, warum die Kaffeelokale seit einigen Jahren nur so aus dem Boden schießen.
Bernhard Frena Chefredakteur • frena@thegap.at
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Herausgeber
Manuel Fronhofer, Thomas Heher
Chefredaktion
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Leitender Redakteur
Manfred Gram
Gestaltung
Markus Raffetseder
Autor*innen dieser Ausgabe
Luise Aymar, Barbara Fohringer, Tobias Natter, Sandro Nicolussi, Anne Other, Dominik Oswald, Simon Pfeifer, Vanessa Scharrer, Mira Schneidereit, Jana Wachtmann, Sarah Wetzlmayr
Kolumnist*innen
Josef Jöchl, Christoph Prenner
Fotograf*innen dieser Ausgabe
Bernhard Frena, Sigmund Steiner, Teresa Wagenhofer
Coverfoto
Sigmund Steiner
Lektorat
Jana Wachtmann
Anzeigenverkauf
Herwig Bauer, Manuel Fronhofer (Leitung), Thomas Heher, Martin Mühl
Distribution
Wolfgang Grob
Druck
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Die Redaktion von The Gap ist dem Ehrenkodex des Österreichischen Presserates verpflichtet.
016 Alles auf Anfang
Leyya sind zurück von der Auszeit
020 Vanessas Reise ins Fortuna Kino
Über Pornografie im Lichtspielhaus
024 Eine neue Kaffee(haus)kultur
Die Wiener Specialty-Coffee-Szene
028 Eine kleine Nationalratswahlhilfe The Gap fragt, die Parteien antworten
032 Wer wählt eigentlich die FPÖ? Warum Rechtsaußen Aufwind hat
Nationalratswahl Über eine politische
Zukunftsentscheidung, die uns alle betrifft
003 Editorial / Impressum
006 Comics aus Österreich: Sibylle Vogel
007 Charts
012 Prosa: Barbara Zeman
014 Golden Frame
036 Workstation
040 Gewinnen
041 Rezensionen
044 Termine
052 Screen Lights: Christoph Prenner
058 Sex and the Lugner City: Josef Jöchl
Eigentlich sei er ja kein Fotograf, betont Sigi vor dem Covershooting. Die entstandenen Bilder strafen ihn jedoch Lügen. Kein Wunder, denn irgendwie ist er eben doch vom Fach. Sein Dokumentarfilm »Holz Erde Fleisch« wurde bei Diagonale, österreichischem Filmpreis und Dok.Fest ausgezeichnet. Lieber würde Sigi hier allerdings lesen, dass er unglaublich gut Tischtennis spielen kann. Stimmt leider nicht. Wobei: den Redaktionsschnitt verbessert er allemal. Also: Sigmund Steiner kann unglaublich gut Tischtennis spielen – halt im Vergleich.
Schon vor einigen Monaten hat unsere Redaktion still und heimlich Unterstützung bekommen. Seit Jänner greift uns nämlich Lu als Praktikantin unter die Arme. Wer also seither z. B. die Festivaltermine gelesen hat, durfte quasi schon literarische Bekanntschaft mit ihr schließen. Jetzt geht es für sie aber erst mal ab nach Rom zum Studienabschluss. Wir hoffen inständig, dass sie im warmen Süden nicht unerwartet hängen und uns als reguläre Redakteurin erhalten bleibt. Zur Not bestechen wir sie auch mit Mate.
Auf unserer Seite 6 zeigen Comickünstler*innen aus Österreich, was sie können. Diesmal legt Sibylle Vogel dar, dass es nicht unbedingt leicht ist in der Alpenrepublik ein Zuhause zu finden. ———— Comics brauchen einen Ort. Einen Dreh- und Angelpunkt, an dem sich die Szene trifft. Aber auch ein Aushängeschild, das in die Stadt hineinstrahlt und Comics im öffentlichen Raum sichtbar macht. In der Kabinettpassage, inmitten des Wiener Museumsquartiers, geschieht dies schon seit vielen Jahren. Hier sorgt Sibylle Vogel gemeinsam mit anderen Zeichner*innen dafür, dass im Herzen der österreichischen Fine-ArtSzene nicht auf die oft vernachlässigte neunte Kunst vergessen wird. In ihren eigenen Comics widmet sich Vogel mit subtilem Humor dem Alltäglichen und Absurden. Inspirieren lässt sie sich dabei vor allem von der französischen Comicwelt. Das merkt man sowohl ihrem klaren Stil als auch dem mühelosen Fluss ihrer erzählerischen Welten deutlich an. Derzeit arbeitet Sibylle Vogel unter anderem an einer autobiografisch angehauchten Comicgeschichte über das Lesenlernen und andere Kindheitserfahrungen.
Die Rubrik »Comics aus Österreich« entsteht in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Comics. www.oegec.com
Positive Überraschungen
01 Michael Jackson, »Bad«-Tour Wien, 1988
02 Pet Shop Boys, Roskilde, 1997
03 Österreich bei der Euro 2021
04 Das Wetter beim Schrammelklang Festival 2024
05 David Alaba seit Ralf Rangnick
06 Christopher Seiler als solcher
07 Gehörschutz beim AC/DC-Konzert
08 »Tanz« von Soyka Stirner
09 Levanto im August
10 Der Blick vom Kaiserwasser auf meine UNO-City
Vorbilder
01 Willi Resetarits
02 Toni Innauer
03 Milica Theessink
Auch nicht schlecht:
Ein Sonnenuntergang in Matala
Charlie Bader ist Musikliebhaber und -manager, Schwerpunkt herausragende Nischen aus Wien. Manager und Booker bei Medienmanufaktur
Wien (Ernst Molden, Sigrid Horn, Der Nino aus Wien, Anna Mabo u. a.), die am 26. September im Stadtsaal Wien ihr 20-Jahr-Jubiläum feiert.
AB 29. AUGUST IM KINO
Anime-Soundtrack-Tracks
01 »Fighting Gold« von Coda (»Jojo’s Bizarre Adventure«)
02 »Tank!« von Seatbelts (»Cowboy Bebop«)
03 »A Cruel Angel’s Thesis« von Yoko Takahashi (»Neon Genesis Evangelion«)
04 »Utai IV: Reawakening« von Kenji Kawai (»Ghost in the Shell«)
05 »Battlecry« von Nujabes feat. Shing02 (»Samurai Champloo«)
06 »Duvet« von Bôa (»Serial Experiments Lain«)
07 »Abyss« von Yungblud (»Kaiju No. 8«)
08 »Hana – A Last Flower« von Asa-Chang & Junray (»The Flowers of Evil«)
09 »Tsubusa Wa Pleasure Line« von Minami Kuribayashi (»Chrno Crusade«)
10 »Nagareboshi He« von Three Lights (»Sailor Moon Sailor Stars«)
K-Pop-Songs
01 »Superhuman« von NCT 127
02 »Black Swan« von BTS
03 »Electric Animal« von Tabber feat. Keyon Chris
Auch nicht schlecht
Die japanische Band Wednesday Campanella
Nina Eba ist eine in Graz lebende ukrainische Musikerin zwischen R&B, Art-Pop, Breakbeat und Bass. Ihre Texte drehen sich um einseitige Liebe, Flucht aus der Ukraine, Widerstand gegen Social Media und die zyklische Natur des Lebens. Ihr selbstveröffentlichtes Album »Morpho« erscheint am 9. August.
Nach dem viel gefeierten »Immerjahn« erscheint demnächst der neue Roman der Schriftstellerin – und ehemaligen The-Gap-Autorin! – Barbara Zeman. Im persönlichen Porträt lassen wir ihre bisherigen Stationen Revue passieren. ———— Wenn man mit Barbara Zeman unterwegs ist, passiert immer etwas. Keine Ahnung, woran das liegt, aber so war es schon seit jeher. Es ist daher nichts Ungewöhnliches, wenn auf einmal ein dreibeiniger Dackel mit Zylinder am Kopf an einem vorbeihinkt. Oder man beinahe am Kühlergrill von einem Audi-Kombi landet, weil die Ampel ohne Vorwarnung von Grün auf Rot springt. »Tschuldigung, liebes Auto!«, haucht Barbara Zeman dann in Richtung Kfz und schwebt weiter über den Zebrastreifen. Da schweigt dann selbst die Hupe vom »lieben Auto«. Und das will was bedeuten auf der Wiener Ringstraße, wo üblicherweise bei der kleinsten verkehrstechnischen Widrigkeit wild getutet wird.
Wir sind schon lange befreundet. Zwanzig Jahre sind es wohl. Wir kennen uns aber noch länger. Das hat mit dem Nachtleben der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre zu tun. Barbara, damals versehen mit blonden Dreadlocks, die ihr die Aura einer Podersdorfer Windsurferin verliehen, verdingte sich im Gürtel-Club B72 als Kellnerin. Unsere Kommunikation beschränkte sich allerdings auf das Bestellen und Bezahlen von Getränken und einmal einen Mini-SmallTalk über Linkshändigkeit, als ihr ein Tablett mit leeren Gläsern runterfiel. »Das passierte mir relativ oft«, kommentiert sie, darauf angesprochen, heute.
Dem Chef konnte es egal sein, das Lokal stand damals in seiner Hochblüte. Die Hütte brummte. An Gläsernachschub mangelte es
nicht. Ob es noch immer so ist? Keine Ahnung, aber wahrscheinlich hat man schon sehr viel zu tun. Eine Anfrage, ob denn die ehemalige Mitarbeiterin, die demnächst mit »Beteigeuze« bei DTV ihren zweiten Roman veröffentlicht, für eine Story an ihrer alten Wirkungsstätte fotografiert werden dürfe, blieb jedenfalls unbeantwortet.
Kein Problem – denn – alte Weisheit aus den frühen Nullerjahren: Wenn im B72 nix los
»Als ich das Okay bekam, fürs Gap über Literatur zu schreiben, führte ich einen lauten Freudentanz quer durch meine Wohnung auf.«
— Barbara Zeman
ist, geht man halt woanders hin. Zum Beispiel ins Flex. Im Lokal am Donaukanal, in jenen Tagen Dauergast auf den vorderen Rankingplätzen der besten Clubs Europas, arbeitete Barbara nämlich auch. An der Garderobe und hinter der Bar. Insofern ist das Flex ebenfalls ein guter Ort für Fotos. Und außerdem: »Der Donaukanal spielt eine wichtige Rolle in meinem neuen Roman.« Beiläufig erwähnt sie
auch, wie sie zwischen dem Aufhängen von Jacken und Bierzapfen an einer hidden agenda tüftelte: »Ich wollte schreiben.«
Journalismus war dafür der Lösungsansatz, The Gap der erste Schritt. Auch das Magazin hatte damals eine Hochblüte. Die Inserate brummten. An Redakteur*innennachschub mangelte es nicht. Ob es noch immer so ist? Naja, hier schreibt ein Freund über eine Freundin. »Als ich das Okay bekam, fürs Gap über Literatur zu schreiben, führte ich einen lauten Freudentanz quer durch meine Wohnung auf.«
Barbara Zeman hüpfte und tanzte dann wohl noch öfters durch ihr Apartment. Als freie Autorin dockte sie dann nämlich unter anderem bei Volltext, Falter, Best of Vienna und Presse an. Bei der Stadtzeitung City gab es gar eine Anstellung inklusive eigenem Schreibtisch. Parallel dazu wickelte sie ein Geschichtsstudium ab, das 2007 nach acht Semestern erledigt war: »Ich war eine Power-Studentin.«
Zwischenstation Journalismus
Wenn hundert Menschen so einen Satz sagen, klingt er 99 Mal blöd. Bei Barbara nicht. Vielleicht, weil sie mehr meint, als das bloße Studium. Vielleicht, weil sie mit dem kurzen »Hihi«, das sie nachschiebt, dem Gesagten eine kleine Schabernackebene einzieht. Vielleicht, weil sie immer wusste, dass Journalismus nur eine Zwischenstation zur Schriftstellerin sein sollte …
Jetzt wäre eine gute Gelegenheit nachzufragen, wie sehr Zweifel an ihr nagten und ob sie jemals Angs t hatte, es mit dem Schreiben nicht zu schaffen? Ob sie Sorge trug, im Altwiener Kaffeehaus, in dem sie
Bevor sie sich völlig ihren Texten zuwandte, arbeitete Barbara Zeman unter anderem im Flex.
einige Jahre als »Mädchen für alles« Tischtücher bügelte, Eierspeisen kochte und Ö1 hörte, picken zu bleiben? Die ganzen Intensivrecherchen in Bibliotheken und Museen für den Hugo? Prosaskizzen, Kurzgeschichten, Romane für die Würst’? Aber wozu derart pseudokritische Fragen stellen, die einzig den Sinn haben, Textfutter für den nächsten Absatz zu liefern? Deswegen an dieser Stelle ein Zitat, das sie vor Jahren einmal zwischen zwei Zigaretten, auf einer Steinstufe sitzend, in dem von ihr perfektionierten Flüsterpathos in die Welt hinausschickte: »Schreiben macht mich glücklich. Es ist mein Leben.«
Preise und Stipendien
Zu diesem Leben gehören spätestens seit 2012 – damals gewann sie den Literaturpreis Wartholz – Stipendien, Literaturwettbewerbe, Lesungen, Buchbeiträge und natürlich: Romanveröffentlichungen. Deren hat sie nun zwei auf ihrem Konto zu verbuchen. Vor fünfeinhalb Jahren erschien das Debüt »Immerjahn« bei Hoffmann und Campe. Die Story um einen schrulligen Milliardär, der seine riesige Sammlung an Kunstschätzen öffentlich zugänglich machen will und sich dabei zwischen Zweifel und Melancholie selbst aufarbeitet, war ein Überraschungserfolg bei Publikum und Kritiker*innen. Sechs Wochen nach dem Erscheinungstermin wurde bereits die dritte Auflage gedruckt. Eine Genugtuung für B arbar a, der bei der Suche nach Verlagen oft gesagt wurde, wie wunderschön, aber leider auch komplex und daher kaum zu verkaufen ihre Texte seien. »Hihi.«
Nun folgt »Beteigeuze«. Mit einem Auszug aus dem Roman nahm sie 2022 am Bachmannpreis Teil. Der Text über eine Reise nach Chioggia samt dräuendem Beziehungsende dient nun als Prolog für die Geschichte der Ich-Erzählerin Theresa Neges. Diese trägt ein ganzes Universum im Kopf, das langsam zwischen Hallenbadboden und Sehnsucht nach Schwerelosigkeit zerbröselt.
Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, mehr über diesen Roman zu erzählen. Wer ist diese Ich-Erzählerin, die im grauen Mantel der Lieblingstante durch Wien flaniert? Mit dem Kopf immer in den Sternen? Oder besser: mit dem Kopf immer bei Beteigeuze, diesem sterbenden Roten Überriesen im Sternbild Orion, der noch in diesem Jahrhundert als Supernova explodieren könnte und im Buch als multimodale Metapher herhalten muss. Aber: Sperrfrist bis 15. August – Mariä Himmelfahrt. Deswegen an dieser Stelle ein Zitat aus der Marketingabteilung des DTV-Verlags: »Ein poetischer Roman, eigenwillig, bildschön in jedem Satz, mit einer Erzählerin, der man überall hin folgen möchte.« Aber bitte erst nach der Sperrfrist.
Vom Online-Leseklub …
Folgen wir stattdessen der Autorin. Das ist gar nicht so schwer, denn zu ihrem Leben gehört mittlerweile auch, Präsenz im Literaturbetrieb zu zeigen. Seit 2020 tut sie das mit »Der großartige Zeman Stadlober Leseklub«, den sie gemeinsam mit dem Schauspieler Robert Stadlober als digitale Veranstaltung gründete, denn: »Durch Corona fielen Leseveranstaltungen aus, ich wollte das irgendwie kompensieren. Und ich wollte dabei vor allem nicht
alleine sein.« Das kunterbunte Format, das in einer scheuklappenlosen Bandbreite Lyrik, Prosa, Sachbücher und Graphic Novels quer durch alle Epochen vorstellt, von prominenten Vorleser*innen vortragen lässt und auch noch Musik unterbringt, traf einen Nerv. Ergo ging es bald vom digitalen Raum ins analoge Literaturhaus Wien, später für zehn Ausgaben ans Wiener Burgtheater und schließlich wieder zurück ins Literaturhaus. Dort hat der »Leseklub«, mittlerweile wieder in Originalbesetzung mit Robert Stadlober, seinen Heimathafen gefunden.
Und irgendwie auch Barbara Zeman, die andeutet, dass es nicht überall im Literaturbetrieb goutiert wird, wenn man als Schriftsteller*in an seiner Marke arbeitet und dabei mehr als nur das eigene Schreiben vermittelt. Ihre Antwort darauf: Gemeinsam mit Büchner-Preisträger Clemens J. Setz nimmt sie seit Anfang dieses Jahres im Literaturhaus den monatlichen Podcast »Erster Österreichischer Sachbuchpreis« auf.
»Ich kenne niemanden, der Sätze so akribisch seziert wie Clemens und damit das freilegt, was zwischen den Zeilen steht«, streut sie ihrem Podcast-Partner Blumen. Gemeinsam stöbern die beiden skurrile und obskure Höchstleistungen aus der literarischen Nische auf, die sie auf ihre ganz eigene Art würdigen. Ein Guide zum richtigen Umgang mit isländischen Elfen, ein Handbuch für Trockenblumen oder die ganze Wahrheit zur Geschichte der Ufos – ab jetzt alles ein Fall für Setz und Zeman.
Mit Begeisterung sucht das Duo, das seit mehr als 14 Jahren freundschaftlichen Austausch pflegt, im Obskuren das Schöne und im Absurden das Wahre – und findet bei allen Aus- und Abschweifungen zum Glück immer wieder zurück. Das klingt dann beispielsweise so: Zeman: »Was würdest du machen, wenn Außerirdische kämen? Würdest du zu deiner Mama fahren?« Setz: »Ich würde sie anrufen.«
Die Literaturvermittlung im nonchalanten Plauderton funktioniert übrigens auch wunderbar auf Bühnen und vor Publikum. Und auch mit adaptiertem Konzept. Für die Wiener Festwochen etwa knöpften sich Zeman und Setz – gemeinsam mit Robert Stadlober und der Grindcore-Band Onkel Gusta – Karl Kraus vor. Genauer: Akten von Prozessen, in denen Kraus involviert war und die ihn als »literarischen Meister der Anklage und (Selbst-) Verteidigung« zeigen.
Die Matinee, offensichtlich auch der Besetzung wegen ein wenig angelegt als Kombination von »Leseklub« und »Sachbuchpreis«,
wurde von der Kritik gefeiert. »Auch wenn das Feedback an mich herangetragen wurde, ich solle Clemens Setz nicht immer ins Wort fallen – er sei doch Büchner-Preisträger. Ich finde, Clemens sollte sich daran gewöhnen, mit Recht unterbrochen zu werden.« Beide scheinen jedenfalls zu wissen, dass gerade dieses Gesprächspingpong und das Ringen um den nächsten Satz, den Charme ihrer Performance ausmachen.
Wie Anfang Juli, als das Duo für den Wiener Kultursommer hinterm Wasserturm in Wien-Favoriten Lieblingstexte und Biografisches der 2008 verstorbenen Berliner Autorin Christa Reinig vorträgt. Reinig, wahrschein-
»Schreiben macht mich glücklich. Es ist mein Leben.«
— Barbara Zeman
lich die erste richtig laute queere Stimme in der deutschen Literatur, ist heute nahezu vergessen. Die beiden bringen einem das (teilweise) radikale, immer aber sprachgewaltige Werk leichtfüßig und mit spontaner Komik näher. Setz: »Ich mag brüchige Biografien und Menschen, die mit ihrem Werk schräg und quer zu allem stehen. Ich kann erfolgreiche Schriftsteller*innen nicht leiden.« Zeman: »Kannst du dich selbst leiden?« Setz: »Es ist immer problematisch, wenn jemand von sich behauptet, erfolgreich zu sein.«
Das sieht auch Barbara so, erzählt sie am Heimweg nach der Lesung. Wir nehmen einen Umweg über die belebte Favoritenstraße und ich bin sehr froh darüber. Es passiert nämlich immer etwas, wenn man mit ihr unterwegs ist. Am Reumannplatz fliegt aus dem Nichts ein halber Eismarillenknödel an uns vorbei und landet ein paar Meter vor uns am Asphalt. »Schau wie schön sein Kern leuchtet – wie Beteigeuze.« Manfred Gram
»Beteigeuze« von Barbara Zeman erscheint am 15. August bei DTV. Am 11. September stellt sie den Roman im Literaturhaus Wien vor. Mit musikalischen Gästen, die sich gewaschen haben und unter die Haut gehen.
6 Ausgaben um nur € 19,97
Ihr mögt uns und das, was wir schreiben? Und ihr habt knapp € 20 übrig für unabhängigen Popkulturjournalismus, der seit 1997 Kulturschaffen aus und in Österreich begleitet?
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In ihrem zweiten Roman »Beteigeuze« lässt Barbara Zeman die Ich-Erzählerin Theresa Neges auf der Suche nach Schwerelosigkeit durch Wien irrlichtern.
Ein Vorabdruck, der ins hochkomplexe Universum der Protagonistin einführt.
Zum ersten Mal sah ich Beteigeuze mit dreizehn. Ich wohnte da noch zu Hause, in einer Kleinstadt, am Ende einer Straße, im lautesten Haus voller dünner Wände. Rosenhecken, Compte de Chambord, berühmt für ihre duftschweren Köpfe, deren Blütenblätter sich Sekunden nach dem Aufblühen schon wie kleine nasse Tücher hängen ließen, ihr Gewicht so drückend, dass ihre dornenreichen Stiele knickten. Im Haus: meine Eltern, sieben Geschwister, ich. Mein Vater: in der Verwaltung des Rathauses angestellt. Viel kopieren, unterschreiben, viel anlegen in Ordnern. Privat große Grobheit gegenüber Zahlen, da ihnen beruflich zu penibler Genauigkeit verpflichtet, vage Mengenangaben in Form von Hunderten, Tausenden, Milliarden. Meine Mutter: Sonnenallergie. Ließ sich einmal monatlich helle Strähnen in die dunklen Haare färben, die sie als Mesche bezeichnete. Mèche, französisch, Docht, Schnur, Strähne. Ausgehend davon hatte sie über die Jahre die Angewohnheit entwickelt, französische Wörter in Gespräche einfließen zu lassen, an deren Häufigkeit sich der Grad ihrer Gereiztheit überschlagen ließ. Schwerpunkt auf Beschimpfungen und Obst. Sale menteur, misérable maraudeur. La fraise. Nicht zu vergessen: l’abricot, liebstes Wort jedoch: l’aubergine, Gemüse. Sieben Geschwister. Von mir persönlich Stück für Stück benannt nach den Plejaden. Offener Sternhaufen, 444,2 Lichtjahre von der Erde entfernt. Entdeckungszeit: prähistorisch. Der Mythologie nach wurden sie von Orion verfolgt. Auch: Siebengestirn, Sieben Schwestern, M45. Die Plejaden sind sie aus zwei Gründen. Einerseits recht weit entfernt von mir, seitdem ich nimmer sprech mit ihnen. Und andrerseits sind sie ja mit sturster Verlässlichkeit dennoch da, die warten nur darauf, bis ich zurück zu ihnen komme. Vom hellsten bis zum dunkelsten in absteigender Reihenfolge hab ich ihnen ihre Namen ausgesucht: Alkione, die Älteste. Hellster Stern, tiefste Augenringe. Dann Atlas. Androgyn. Ausgeprägter Hang zur Grübelei. Die Dritte, Elektra, spielte Gitarre. Die Zwil-
linge: Mathematiklehrerin Maia und Merope, Model. Die Läuferin, Pleione. Ein Jahr älter als ich, ein Jahr jünger wiederum Taygeta, unser einziger Bruder, den habe ich in der Reihenfolge mit Pleione vertauscht. Macht ja nichts, der weiß von nichts. Unergründliche Vorliebe für Antiquitäten, insbesondere mit dicker beiger Beize überzogene Tische. Ab seinem zehnten Lebensjahr mit höchster Wahrscheinlichkeit im Windschatten der Rosenhecke anzutreffen, mit seinem Heißluftfön, der intensiver als alle Rosen rote Farbe glühte. Die Beize wellte sich, Taygeta schabte sie ab und verlas die eingeritzte Schrift wie Botschaften eines ebenso mysteriösen wie einfallslosen Orakels. Elektra, sitzend auf den Stufen zur Terrasse, verfertigte davon inspiriert über Nacht Gesänge.
Ich selbst: achte Schwester, vorletztes Kind. Theresa Neges. Zu den Plejaden gehöre ich nicht. Die Stillste bin ich von uns allen. Eigentümliches Zentrum inmitten eines Haufens zu großer Unruhe neigender Kinder, allesamt ausgestattet mit auffallend spitzer Nasenspitze, schräg stehenden Augen, sowie aalglatten, in der Dämmerung merkwürdig aufglänzenden Haaren.
Irgendwann entdeckte ich, dass es zwei Möglichkeiten gab, der Unrast zu entkommen. Erstens: Abschirmung durch Musik. Besonders gut funktionierte nach einer Empfehlung meiner Großmutter: Maria Callas, Greatest Hits . Ihre Wirkung die von dicht fallendem Schnee auf Knopfdruck, der alles Schrille polsterte. Zweitens: die Strategie der räumlichen Entfernung. Zum ersten Mal lief ich mit dreizehn fort, im späten Herbst war das, ich nahm den Bus. Ich stieg an der Haltestelle neben der Rosenhecke ein, geradeaus, an das Ende der einen Straße fügte sich die nächste, so ging es immer weiter, bis ich irgendwann ausstieg.
Einmal: eine Haltestelle zwischen zwei Dörfern und zwischen zwei auch bei völliger Windstille windgeneigten Bäumen. Links Sonnenblumenfelder, rechts Sonnenblumenfelder, vorne und hinten Sonnenblumenfelder.
Kein Mensch, keine Geschwister. Sehr weit weg: Schilf. Dahinter der See, der spiegelte winzig. Da ging ich nicht hin. Ich blieb an der Bushaltestelle am Feldwegrand. Saß auf der Bank. Und Vögel waren da, obwohl Nacht war. Die pickten.
Kümmerten sich nicht um mich. Auch nicht um den Himmel. Der war groß. Und weit. Randvoll mit Sternen, die strahlten wie die schiefen Lichter einer Stadt. Die Venus ist nach Sonne und Mond stets das hellste Objekt am Himmel. Die Erde ist der am genausten untersuchte Planet. Mars: Außer Vulkanen verschiedenster Größe gibt es auch große, mit vulkanischen Ergüssen bedeckte Ebenen. Jupiter strahlt etwa doppelt so viel Energie ab, wie er von der Sonne aufnimmt. Er muss also eine innere Energiequelle haben. Die Planeten Neptun und Uranus sind sich sehr ähnlich. Die Entdeckung des neunten großen Planeten Pluto war das Ergebnis einer intensiven Suche. Die Sonne ist ein besonders wichtiges Forschungsobjekt für die Astronomie, denn sie ist der einzige selbstleuchtende Himmelskörper, der sich so nahe an der Erde befindet, dass Einzelheiten der Vorgänge und Strukturen auf seiner Oberfläche beobachtet werden können. So hatte ich es in Physik gehört. Sternenunterricht. Professor Katz las seine Weltrauminformationen von einem alten Zettel ab, wie in den vorhergehenden drei Jahrzehnten auch, lediglich, von der Ungeduld seines voranschreitenden Alters ausgelöst, immer mehr ihm immer unwichtiger erscheinende Planeten überspringend. Ein alter Band mit dem Titel Das Weltall und die Raumfahrt lag auf dem Lehrertisch.
Neben mir Harald im Halbschlaf, das Klassenzimmer abgedunkelt, während ich gegen das Licht des Overheadprojektors blinzelte, da hing Jupiter weiß auf schwarz über der Tafel in der Luft, wie ein Burger bestehend aus einer Vielzahl von Schichten, links oben hatte er ein olivengleiches Aug. In meinem Nacken richteten sich die Härchen auf. Nach der Stunde fragte ich
Barbara Zeman (43) kommt aus Eisenstadt, lebt aber in Wien, wo sie Geschichte studierte und zunächst in Clubs und dann als Journalistin arbeitete. 2012 gewann sie den Literaturpreis Wartholz und veröffentlichte 2019 mit »Immerjahn« ein viel beachtetes Debüt. »Beteigeuze« (DTV) heißt der Nachfolger, der sich mit fein ziselierten Sätzen der schwierigen Psyche seiner Protagonistin nähert. Gemeinsam mit dem Schauspieler Robert Stadlober stellt Barbara Zeman mehrmals im Jahr den »Der großartige Zeman Stadlober Leseklub« im Literatur Haus Wien auf die Beine. Ebendort zeichnet sie gemeinsam mit Clemens J. Setz auch monatlich den Podcast »Erster österreichischer Sachbuchpreis« auf.
Barbara Zeman »Beteigeuze« (DTV; VÖ: 15. August)
Katz, ob ich mir Das Weltall und die Raumfahrt ausleihen könne, und er gab es mir und sagte, ich solle es behalten. In diesem Buch stand alles über die Sterne verzeichnet. Zahlen, Buchstaben, Formeln, mit ihnen konnte man die Bahnen vorhersagen, auf denen sie sich bewegten. Ich wurde plötzlich gut in Mathematik, endlich hatte sie einen Zweck: die exakte Berechnung der Entfernung der Himmelskörper von dem Körper von mir.
© Zeman, »Beteigeuze«; mit freundlicher Genehmigung des DTV, 2024
Mit ihrer neuen Schau bespielt Anne Imhof alle vier Stockwerke des Kunsthauses Bregenz. Dabei setzt sie sich intensiv mit ihrer eigenen medialisierten Vergangenheit auseinander. ———— Habt ihr auch schon mal in euren alten Fotos und Videos gestöbert und seid dabei auf eine Person gestoßen, bei der ihr euch im ersten Moment gewundert habt, wer das denn ist, nur um bei näherer Betrachtung zu realisieren, dass ihr das selbst seid? In solchen Situationen begegnen wir uns selbst als Fremde, nehmen uns wahr, wie wir sonst nur andere Menschen wahrnehmen. Das ist die Macht der Medialisierung. Indem sich unser Selbstbild als Abbild vom Selbst löst, nehmen wir uns plötzlich grundlegend anders wahr, können uns selbst objektifizieren. Im Gegensatz zum mythologischen Narziss, bei dem das eigene Spiegelbild so zum Objekt der Begierde wird, stellen sich beim Rest von uns allerdings häufig andere Gefühle ein. Verwunderung vielleicht, oder Verlust, oder vielleicht gar Scham. Letzteres trifft auch auf Anne Imhof zu, die sich für ihre neueste Schau im Bregenzer Kunsthaus intensiv mit bislang unveröffentlichten Aufnahmen von sich selbst auseinandergesetzt hat. »Es hat ja auch einen Grund, weshalb die Videos so lange liegengeblieben sind, weil es da auch eine Schamhaftigkeit gab, mit dem eigenen Körper umzugehen«, erklärt sie gegenüber dem Bayrischen Rundfunk.
Sofern sich Imhof nicht ihrer selbst fremdschämt, dürften diese oft intimen Aufnahmen wohl trotz medialer Veräußerung noch zu dicht am Selbst, am eigenen Innenleben geschrammt haben. Erst in Verbindung mit einem zeitlichen Abstand konnte die Künstlerin sie als Anschauungsobjekte der Außenwelt preisgeben. Die Ausstellung »Wish You Were Gay« setzt sie in einen Rahmen aus Artefakten und Adaptionen anderer Arbeiten Imhofs. Es ist eine Schau, die das Neue im Alten sucht, die Zukunft aber zugleich in gewisser Weise bedrohlich sieht.
Medienkunst birgt immer die Gefahr in sich, schlechter als andere Kunstformen zu altern. Wie jede Form von künstlerischer Avantgarde, versucht sie an den Randgebieten von medialen Praktiken mit neuen Nutzungsformen zu experimentieren. Doch durch die rasante mediale Entwicklung des letzten Jahrhunderts verleibt sich der Mainstream diese Experimente als neuen Alltag ein, nur um sie kurz darauf wieder als veraltet auszuscheiden. So wirkt Imhofs Verwendung eines ausklappbaren Camcorder-Screens als Spiegel zwei Jahrzehnte später schon fast wie eine medienarchäologische Ausgrabung. Gleichermaßen scheint auch unser Umgang mit »Selfies« zunehmend im Wandel begriffen. Dass Imhof also ihre eigenen medialen Praxen, ihr bisheriges künstlerisches Forschen nun auf die Bedeutung für die heutigen Gegebenheiten abklopft, scheint nicht nur folgerichtig, sondern stünde auch anderen Künstler*innen gut zu Gesicht. Bernhard Frena
»Wish You Were Gay« von Anne Imhof ist noch bis 22. September im Kunsthaus Bregenz zu sehen.
Vom Lärm der Erwartungen haben sich Sophie Lindinger und Marco Kleebauer vor einiger Zeit in eine kleine Livepause zurückgezogen. Nun erscheint mit »Half Asleep« das dritte LeyyaAlbum. Es zeigt, wie Rückbesinnung ohne Rückschritt aussehen kann. Oder auch: wie es klingt, wenn die Rückspultaste und die FastForward-Taste gleichzeitig gedrückt werden. ———— Abwarten und Traubensaft trinken. Während direkt hinter uns der 49er vorbeirattert, erzählt Sophie Lindinger von ihrer neu entwickelten Liebe zum Satz »Schauen wir mal«. Sie nimmt einen Schluck aus dem mit dunkelroter Flüssigkeit gefüllten Halbliterglas und setzt ihre Ausführungen erst fort, als die vorhochsommerliche Ruhe, die Ende Juni bereits über Wien liegt, auch in der Westbahnstraße wieder spürbar ist. Passend dazu wird sich die Frage, wie es gelingen kann, im Lärm äußerer Einflüsse die eigene Stimme zu behalten und zu behaupten, wie ein roter Faden durch unser Gespräch ziehen.
Der Grund unseres Treffens: Nach der 2021 verkündeten Livepause veröffentlichen Leyya, bestehend aus Sophie Lindinger und Marco Kleebauer, mit »Half Asleep« ihr drittes Album, das, so die Musikerin, vollkommen losgelöst von sämtlichen Erwartungen entstanden sei. »Diese kleine Pause war wichtig, um wieder zu einer Form von Erwartungslosigkeit zu finden«, hält sie fest. Das bedeutet auch: sich von den ständig im Hinterkopf lauernden Hintergrundgeräuschen zu befreien, die dann auftauchen, wenn bestimmte Vorstellungen von außen an einen herangetragen werden. Die reale Geräuschkulisse beim Interview bringt Sophie Lindinger hingegen ganz und gar nicht aus der Ruhe oder von ihrem Gedankenstrom ab. Sie wirkt gelöst und spricht offen und konzentriert über den Entstehungsprozess des neuen Albums und die Notwendigkeit der Konzertpause.
Es sei bei »Half Asleep« vor allem darum gegangen, zu jener Motivation und jenen Werten zurückzufinden, die sie damals, rund um das 2015 erschienene Debüt »Spanish Disco« und den auch international gefeierten Track »Superego«, begleitet haben, sagt Lindinger und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Grundsätzlich bin ich immer motiviert,
»Wir haben dieses Mal wirklich alles abgestreift, was bestimmte Erwartungen an Genres und Sounds betrifft.« — Sophie Lindinger
Musik zu machen, wir haben auf unserem Weg jedoch viel von jener naiven Verspieltheit verloren, die uns am Anfang sehr geprägt hat. ›Half Asleep‹ ist auch eine Suche nach dieser Essenz – danach, was uns ursprünglich angetrieben hat.«
Einmal zurückspulen, bitte
Eine weitere Sache möchte die Künstlerin in diesem Zusammenhang unbedingt loswerden: »Letztendlich muss immer die Musik, die Liebe zum Musikmachen im Vordergrund stehen. Irgendwann kam bei uns jedoch der Punkt, wo wir das Gefühl hatten, dass die Musik alleine nicht mehr reicht, sondern wir als
Menschen etwas darstellen müssen. Damit habe ich mir vor allem am Anfang ziemlich schwergetan. Es gab immer mehr Stimmen, die uns gesagt haben, wie wir sein sollen –wie wir uns am besten auf der Bühne bewegen und wie wir aussehen sollen.«
Dass die Pressefotos zu »Half Asleep« Sophie Lindinger und Marco Kleebauer mit verschwommenen und übereinandergelagerten Gesichtern zeigen, habe genau diesen Grund, sagt sie. »Uns wurde schon so oft gesagt, wie wichtig es sei, dass man auf Fotos unsere Gesichter sieht. Dieses Mal dachten wir uns: ›Fuck it!‹ Weil es nicht um uns, sondern um unsere Musik geht.«
Möglichkeiten, sich in den auf »Half Asleep« versammelten Liedern zu verlieren, wiederzufinden oder wiederzuerkennen gibt es natürlich trotzdem unzählige. Denn während bei den Pressefotos bewusst auf klar erkennbare Gesichter verzichtet wurde, zeigt sich auf jedem der insgesamt 13 Songs ein etwas anderes Gesicht einer Band, die sich dem kapitalistischen Drang, alles zu etikettieren, auch in Zukunft gerne verweigern möchte. Blurry, verzerrt und verwischt ist allerdings auch auf der Soundebene einiges – jedoch im allerbesten, sämtliche Genrezuschreibungen ignorierenden Sinne. »Normalerweise gibt es bei einem neuen Album schon immer wieder diese Gedanken, die darum kreisen, ob man zu weit von dem entfernt ist, was man zuvor gemacht hat. Dieses Mal war es eher so, dass wir uns dachten: ›Machen wir mal und schauen wir dann weiter. ‹«
Womit wir wieder bei der eingangs erwähnten Liebe zum neuen Leyya-Leitsatz »Schauen wir mal« wären. Wobei Leitsatz möglicherweise der falsche Begriff ist, wenn es vielmehr darum geht, sich frei von Dogmen und Credos einfach treiben zu lassen.
»Da waren Ideen dabei, die wir früher garantiert verworfen hätten. Bei ›Half Asleep‹ haben wir sie einfach weitergesponnen und geschaut, was im Prozess damit passiert«, sagt Sophie Lindinger mit ruhiger Stimme und ergänzt: »Nicht ganz festlegbar ist das Album auch deshalb geworden, weil wir uns von allem, was wir gerade cool und spannend finden, die besten Sachen rausgepickt haben. Es gab kein Genre- oder Soundkonzept und ich bin ehrlich gesagt auch schon etwas gelangweilt davon, dass es immer heißt: Diese Band gehört in diese oder jene Schublade, deshalb muss sie so klingen. Wir haben dieses Mal wirklich alles abgestreift, was bestimmte Erwartungen an Genres und Sounds betrifft.«
Trotz der unterschiedlichen Einflüsse ist ein harmonisches Ganzes entstanden, dem man anhört, dass es handgemacht und organisch gewachsen ist. Insgesamt ist »Half Asleep« wieder elektronischer und tanzbarer als »Sauna« und die EP »Longest Day of My Life«. Wie für Leyya typisch treffen harte ElectroBeats auf melodiöse Vocals und der teilweise treibende Sound steht einer zarten, aber stets klaren Stimme gegenüber, die unter anderem davon singt, kurz innehalten zu wollen. Von Widerspruch kann jedoch keine Rede sein, dafür ist die Sogwirkung viel zu groß – von Widerspenstigkeit, wenn es darum geht, sich fremddefinierten Standards zu fügen, hingegen schon. Und das hört man auch.
Not noticed, but needed
Die Arbeit an »Half Asleep« sei extrem schnell und einfach gegangen, rekapituliert Lindinger – »weil es einfach ein total lustiger und befreiender Prozess war«. Was die Arbeitsweise und den Entstehungsprozess angeht, hätte sich in den letzten zehn Jahren zwischen Marco und ihr nicht viel verändert, fügt sie hinzu. »Wir sitzen im Studio, spielen mit Instrumenten herum und denken uns: ›Das klingt doch cool, nehmen wir das schnell auf.‹ Dann haben wir einen Loop davon und spielen damit weiter, vielleicht summe ich darüber – und so baut sich das nach und nach auf. Wie Bausteine, die irgendwann zu einem Turm werden. Es war nie so, dass Marco mit einem fertigen Track ins Studio gekommen ist und ich nur darüber gesungen habe. Das sind wir einfach nicht. Alle Wörter und Sounds sind aufeinander abgestimmt und bauen aufeinander auf. Es gibt nichts, das von außen draufgeklebt wird.«
Es gebe auch niemand anderen, mit dem sie so einen speziellen Austausch hätte, findet die Musikerin klare Worte. »Mit Marco im Studio zu sein, ist für mich einfach kein Kompromiss, weil es sich so anfühlt, als würde ich alleine die Musik machen, die ich gerne hören möchte.«
Thematisch zieht sich der titelgebende Zustand durch das ganze Album. Es sei jedoch nicht ihre Intention gewesen, sich durch eine
»Vielleicht geht es darum, zwar gebraucht und geschätzt werden zu wollen, gleichzeitig aber übersehen zu werden.«
— Sophie Lindinger
Bei Leyya verschmelzen zwei Einzelpersonen im kollaborativen Prozess.
konzeptuelle Klammer selbst zu limitieren, hält Sophie Lindinger fest. »Es ist wie immer ein autobiografisches Album geworden, das Dinge behandelt, die ich zu dieser Zeit verarbeiten wollte und die mich teilweise immer noch beschäftigen – wie zum Beispiel das Gefühl, bestimmte Erlebnisse und Aktivitäten nur so halb mitzubekommen.« Dazu gehört für sie auch, die eigene Existenz in Relation zu den Menschen, Dingen und Strukturen, die sie umgeben, zu verstehen. Oder es zumindest zu versuchen.
Ob die Zeile »I don’t want to be noticed, but needed« aus dem Song »Ring in Silence« damit auch etwas zu tun habe? Sophie Lindinger nickt. »Auch hier geht es für mich darum, in unterschiedlichen Zusammenhängen existieren zu wollen. Ich merke aber auch oft, dass es Phasen gibt, in denen ich zwar gebraucht werden oder zu einer Party eingeladen werden möchte, ich damit aber auch total überfordert bin. Manchmal will ich nur eingeladen werden, dann aber gar nicht hingehen. Vielleicht geht es darum, zwar gebraucht und geschätzt werden zu wollen, gleichzeitig aber übersehen zu werden.«
Über die künstlerische Entwicklung der Band von »Spanish Disco« 2015 zu »Sauna« 2018 meint sie: »Wenn ich die Alben miteinander vergleiche, habe ich das Gefühl, dass ich der Sophie von ›Spanish Disco‹ heute weitaus ähnlicher bin als der von ›Sauna‹. Was mich wiederum dazu bringt, darüber nachzudenken, was äußere Einflüsse mit einem machen; wie sie sich darauf auswirken, wie du arbeitest, dich gibst, Musik machst und was du fühlst. Im Positiven, aber oft auch im Negativen.« So spannt Lindinger den Bogen zum Anfang unseres Gesprächs: zum Erwartungslärm, in dessen Getöse es die eigene Stimme wiederzufinden und zu behaupten gilt.
Bevor sich unsere Wege wieder trennen, fügt sie mit gewohnter Schnörkellosigkeit hinzu: »Im Vergleich zur Sophie von ›Spanish Disco‹ habe ich jetzt aber viel mehr Selbstbewusstsein, Stabilität und Standhaftigkeit. Ich lasse mir nicht mehr so viel dreinreden, weil ich weiß, dass ich die Dinge, die ich tue, wirklich kann. Das bedeutet nicht, dass es jemals Phasen gab, in denen ich jemanden dargestellt habe. Ich war schon immer ich selbst, aber ich finde es spannend, darüber nachzudenken, dass ich das alles sein musste, um wieder die Sophie zu sein, die ich am Anfang von Leyya war. Nur ohne all diese Unsicherheiten.«
Dafür aber wieder mit der ursprünglichen Verspieltheit und Lust am Ausprobieren. Alles andere wird sich zeigen. Oder anders ausgedrückt: Schauen wir mal.
Sarah Wetzlmayr
Das Album »Half Asleep« erscheint am 30. August bei Ink Music. Live zu sehen sind Leyya demnächst auch wieder: 21. September, Wien, WUK — 25. September, Linz, Posthof — 26. September, Graz, PPC — 27. September, Innsbruck, Treibhaus. Leyya
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Das Fortuna Kino: eines der letzten Sexkinos Österreichs, aus einer Zeit als Pornografie nicht leicht zugänglich war und als sich gleichzeitig die Medienlandschaft für Kinos weltweit veränderte. Doch wie ist das heutzutage, sich Pornos im Kino anzusehen? ———— »Wann war ich das letzte Mal in einem Sexkino?«, dachte ich mir, als ich vom Fortuna Kino in Wien erfuhr. Gegründet 1920 von Ferdinand Samen (Zufall, dass der Name die Ausrichtung des Kinos schon vermuten lässt?) war es zunächst ein herkömmliches Kino und wurde dann von 1977 bis heute als Erotikkino weitergeführt. Damit ist es eines der ältesten Kinos in Wien. Auf die einleitende Frage lässt sich übrigens schnell eine Antwort finden: nie. Zugegeben, ich als bisexuelle cis Frau war noch nie an einem solchen Vergnügungsort, aber als medieninteressierter und sexpositiver Mensch packte mich die Neugier. Denn es stand für mich fest, dass das bewegte Bild mit Ton fest mit unserem Lustgewinn verknüpft ist. Es verwunderte mich zunächst nicht, dass das Fortuna Kino das letzte seiner Art in Wien ist. Denn daran, wie Pornografie in unser Leben tritt, hat sich seit den 70er-Jahren viel verändert. Seitdem das Internet Pornografie für uns so einfach zugänglich gemacht hat, braucht es keine designierten Orte des Konsums mehr. Wir können frei auswählen, was wir wann, wo und wie konsumieren wollen.
Historisch verbirgt sich hinter dem Wiener Sexkino allerdings eine durchaus komple -
xe Geschichte der Repräsentation von Sex im öffentlichen Raum. Lange war die Leitfrage: Was kann man wo sehen? Und damit verknüpft: Was war wo verboten? Seit 1950 gab es nämlich ein Totalverbot in Österreich für den gewinnbringenden Vertrieb von Pornografie in jeglicher Form – so etwa auch auf Papier oder eben als laufende Bilder. Diese Regelung hielt sich bis in die 1960er-Jahre, als es dann sogenannte Fachgeschäfte für Ehehygiene gab. Alles andere waren Grauzonen,
starke Konkurrenz durch das Aufkommen des Fernsehens, in den 70ern dann durch die Etablierung der VHS-Kassette. Es setzte das sogenannte Kinosterben ein, weil viele Menschen sich lieber zu Hause unterhalten ließen, als ins Kino zu gehen. Die rechtliche Lockerung bezüglich Pornografie und die schwierigere Publikumslage für die Kinos brachten vermehrt Spielstätte hervor, die erotische Inhalte in ihr Programm aufnahmen. Auch in Wien öffneten sich einige Kinos für Erotik- oder Pornofilme.
Für mich sollte ein Sexkino ein Ort der Freiheit und der Fantasie sein.
denn es musste immer erst definiert werden, was als unsittlich galt. Ab 1971 entschied man sich dann, dass alles, was sozial schädlich sei, auch unsittlich sei. Damals war homosexuelle Prostitution zwar schon nicht mehr verboten, entsprechende Pornografie jedoch weiterhin. Diese wurde erst 2000 vollkommen entkriminalisiert.
Genauso wie sich in der Nachkriegszeit die Rechtslage von Pornografie und Prostitution enorm änderte, wandelte sich auch die Medienwelt. In den 60ern bekamen die Kinos
Das hatte teilweise weitreichende Effekte auf ganze Bezirke, denn durch dir Demografie des Publikums wurde auch zunehmend Prostitution angezogen. Beispiele für solche Kinos in Wien sind etwa das Lustspieltheater im Prater, das ab 1976 bis zur Schließung 1981 Pornofilme zeigte. Auch das Kino Treffpunkt in Meidling oder das Maxim Kino hielten sich bis in die 1980er-Jahre. Das Schlössl Kino in Margareten und das Währinger Gürtel Kino gab es sogar bis ins neue Jahrtausend. Und eben das Fortuna Kino, das bis heute besteht.
Von außen fällt das Fortuna Kino in der Favoritenstraße kaum auf.
Was für eine Welt würde sich mir also eröffnen, wenn ich diesen verbliebenen Ort aufsuchen würde, um mich erregen zu lassen?
Ich sah mich schon als Erika Kohut in Michael Hanekes Verfilmung der »Klavierspielerin« in beschämter und perverser Faszination in einer einsamen Kabine durch ein Guckloch starren, nur um letztlich heteronormative Pornos, die es zuhauf auch im Internet gäbe, zu sehen. Diese Vorstellung machte mir dann doch etwas Angst, und um mich nicht ganz in diesem traurigen, sex-unterdrückenden Bild von Wien zu verlieren, entschloss ich mich, eine Begleitung für meine Safari in die vom Aussterben bedrohte Spielstätte zu erbitten. Ein Freund sollte mitkommen.
Auf ins Kino!
So machen wir uns an einem Freitagabend auf in den zehnten Bezirk, wo das Kino die Zeit bisher überstanden hat. Dort angekommen bestätigt uns die Außenwand des Fortuna Kinos, dass es sich um eines der ältesten Kinos in Wien handelt, und behauptet, dass es jede Woche »neue hochwertige Filme« zu sehen gebe. Wir betreten das Kino und kommen in einem langen Vestibül an, um dann mit einer freundlichen Dame am Buffet zu sprechen. Sie informiert uns, dass wir als Paar zu zahlen haben und dass wir unsere Mäntel in abschließbaren Kästen vor dem Kinosaal abgeben können, Getränke und Snacks gäbe es bei ihr auch zu kaufen.
In diesem Moment sehe ich mich zum ersten Mal wirklich um. Das Licht im Raum ist gedimmt und die Einrichtung wirkt etwas altmodisch, passend zu den in die Jahre gekommenen Spielautomaten in der Ecke. Auf der Bank vis-à-vis vom Buffet sitzen die anderen Besucher*innen: ergraute Herren und
einige etwas jüngere Frauen. Weil mich die Kassiererin darauf aufmerksam machte, dass man auch Geschlechtsverkehr im Kinosaal haben dürfe, und dabei mit einer Handbewegung auf die »Mädchen« verwies, schätze ich sie als Sexarbeiter*innen ein. Zu diesem Zeitpunkt realisiere ich, wie ich an diesem Ort wirke. Um es abzukürzen: Ich und mein Freund sehen wohl aus wie zwei Twinks, wie zwei Paradiesvögel, die eigentlich zum Porn Film Festival wollten, sich jedoch im Termin vertan haben. Deswegen wahrscheinlich auch die uns zugeworfenen schrägen Blicke.
Als wir uns dann schnurstracks auf den Weg in den Kinosaal machen, sehen wir zum ersten Mal, welcher Film eigentlich läuft. Wir setzen uns in die erste Reihe und werden zu Zuschauenden eines offensichtlich sehr günstig produzierten amateurhaften heteronormativen Pornofilms mit einer ausgefeilten Handlung rund um die Renovierung eines Wohnzimmers und wie man alternative Zahlungsmethoden – Spoiler: Sex – geltend machen könnte. Diese Parodie eines Pornos präsentiert zu bekommen, enttäuscht mich etwas, jedoch scheinen die anderen Besucher*innen die Vorstellung zu genießen, denn es sind im Hintergrund einige zugange. Was dort genau passiert, kann ich leider nicht sagen, denn ich habe das Gefühl, dass zu offensichtliches Starren zuwider der Kinoetikette wäre. Wir verweilen in der ersten Reihe und versuchen, der Handlung des Films zu folgen, als sich ein Besucher von hinten an uns heranschleicht und höflich fragt, ob er eine Reihe hinter uns Platz nehmen darf. Wir fühlen uns etwas bedrängt und haben das Gefühl, in eine Welt geraten zu sein, die ein strenges Korsett hat und nicht viel Platz für Ungewöhnliches oder Neues lässt.
Mein Besuch im Fortuna Kino war wenig erregend, sondern eher enttäuschend, was sicherlich an meinen zu hohen Erwartungen lag. Insgesamt fühlten wir uns als Besucher*innen willkommen, jedoch war uns schnell klar, dass wir keinen Platz finden werden in einem Kino, das schon immer für eine männliche Sexualität gemacht war. Für mich sollte ein Sexkino vielmehr ein Ort der Freiheit und der Fantasie sein. Das mag etwas pathetisch klingen, jedoch ist die Realität von Pornografiekonsum so weit weg von Freiheit und Fantasie, dass es kaum eine andere Möglichkeit gibt als Pathos, um sich eine andere Form vorzustellen. In einem idealen Kino gäbe es Filme mit erotischen Inhalten aus allen Dekaden der Filmgeschichte, vom amateurhaften 20er-Jahre-Stummfilm über genreexperimentellen Sexfilm der 70erJahre bis hin zu queeren, inklusiven Pornos der Gegenwart.
Das Kino befindet sich ganz allgemein in einer zunehmend prekären Lage. Es ist ohnehin schwer genug, Menschen gemeinsam in einen Kinosaal zu bekommen. Umso mehr, wenn es darum geht, sich kollektiv mit Sex zu beschäftigen. Ich würde mir zumindest wünschen, dass es mehr Offenheit gibt, sich mit einem alten Konzept wie Kino als Vorführort von Sexualität zu beschäftigen. Das schließt sicherlich auch die bestehenden Kinos ein, sich gegenüber pornografischen Inhalten zu öffnen. Zumindest gibt es seit einigen Jahren in Wien das Porn Film Festival, bei dem sogar das Fortuna Kino zuweilen als Spielort herhalten darf. Außerhalb dessen wirkt das kleine Lichtspielhaus in Favoriten wie aus der Zeit gefallen und ist nur noch auf eine sehr bestimmte Zielgruppe zugeschnitten. Dabei könnten Kinos viel mehr in der Auseinandersetzung mit Sex bieten. Das weiß jeder, der sich schon einmal mit einer Menge fremder Menschen einen erotischen Film angesehen hat. Der Moment des eigenen Erregtseins vervielfacht sich nämlich, wenn man spürt, dass es anderen genauso geht. Dafür muss man sich nicht einmal ansehen oder berühren. Das Kino ermöglicht als Ort genau dieses gemeinsame Erleben.
Vanessa Scharrer
Das Fortuna Kino in Wien-Favoriten hat täglich von 12 bis 22 Uhr geöffnet. Das nächste Porn Film Festival findet von 10. bis 15. April 2025 statt.
Nicht nur die Maschine muss stimmen, es braucht auch Know-how und qualitativ hochwertige Bohnen.
Spätestens in den letzten zehn Jahren sind die Specialty-Coffee-Shops in Wien scheinbar wie die Schwammerl aus dem Boden geschossen. The Gap hat recherchiert, warum das so ist und ob die Wiener Kaffeehaustradition dabei hilft oder schadet. ———— Ich kann mich noch genau an jenen Moment erinnern, in dem mich Specialty Coffee zum ersten Mal so richtig vom Hocker gerissen hat. Es war in der ursprünglichen Location vom Jonas Reindl, neben dem namensgebenden Verkehrskonstrukt beim Schottentor. Damals röstete das Unternehmen noch nicht selbst Kaffee. Stattdessen gab es regelmäßig – wie bis heute in vielen anderen Lokalen der Szene – Kaffees von Gaströstereien aus diversen Ländern im Angebot. Häufig wechselnd, bieten diese nicht nur einen Einblick darin, was in Wien rösttechnisch gerade so abgeht, sondern in ganz Europa – manchmal gar darüber hinaus. Der Kaffee, den ich damals getrunken habe, kam aus Yirgacheffe, Äthiopien, via Amsterdam, Niederlande. Von der Rösterei White Label Coffee. Es war ein sogenannter Natural. Das heißt, die Kaffeekirschen wurden nach der Ernte zum Trocknen ausgebreitet und erst dann die Bohne vom umgebenden Fruchtfleisch befreit. Tendenziell ergibt dies fruchtigere Kaffees. Eine Tatsache, die dieser Kaffee damals mehr als bestätigte. Noch nie zuvor hatte ich einen Espresso getrunken, der so eindeutig nach Obst schmeckte, genauer
gesagt, nach Heidelbeeren. Fast als wäre aus Versehen etwas Fruchtsaft in die Tasse geraten. Vom dunklen, schokoladigen, zartbitteren Getränk, das ich aus italienischen Espressobars gewohnt war, war dies meilenweit entfernt.
Die perfekte Welle
Das war Mitte der 2010er-Jahre und seither hat mich die Faszination für dieses Ding Specialty Coffee nicht mehr losgelassen. Aber was ist das eigentlich, Specialty Coffee? »Wenn es nach den Regeln der Specialty Coffee Association geht, dann ist das zunächst ein speziell ausgesuchter, qualitativ hochwertiger Kaffee«, fängt Johanna Wechselberger an, die Kriterien aufzulisten. »Dieser muss dann aber auch mit Bedacht geröstet werden, damit er eben weder verbrannt noch unterröstet ist, sondern das Beste aus diesen Bohnen herausgeholt wird. Und zuletzt muss er auf einer guten Maschine von erfahrenen Baristas richtig extrahiert werden. Es geht darum, dass der Kaffee von der Pflanze bis in die Tasse sorgsam behandelt wird.« Ich spreche mit Wechselberger in ihrem kleinen, gemütlichen Shop am Floridsdorfer Markt, den sie selbstbewusst Die Rösterin genannt hat. Zurecht selbstbewusst, denn man kann sie durchaus als Pionierin bezeichnen. Seit Mitte der Neunziger beschäftigt sie sich bereits intensiv mit Kaffee, 2004 machte sie ihn zu ihrem Beruf. Damals war in Österreich von Specialty Coffee noch kaum die Rede. Und
»Wenn du dein Leben lang nur verbrannte Schnitzel gegessen hast, muss dir auch erst einmal jemand zeigen, wie gut ein unverbranntes schmecken kann.« — Natascha Kretzl
auch international startete die sogenannte Third Wave erst Mitte der Nullerjahre so richtig durch. Welle Nummer eins popularisierte den Kaffee als tägliches Getränk der breiten Bevölkerung. Die zweite Welle brachte italienische Espressobars – wenn auch oft unter einem ganz bestimmten Markennamen mit grünem Meerjungfrauenlogo – in jede Ecke der Welt. Und dann eben die dritte Welle: lokal in den Aktionen, global im Denken – so könnte zumindest der Slogan lauten.
Direkt nach Österreich
Dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass Specialty Coffee oft auf direktere Kontakte zu den Anbaugebieten und den dort arbeitenden Menschen setzt. Zwischenhändler*innen sind zwar in den meisten Fällen immer noch nötig, aber selbst dann sind die gezahlten Preise höher, die für die Bäuer*innen verbleibenden Margen meist größer und die Herkunft transparenter. Im besten Fall entwickeln sich jedoch jahrelange Kooperationen, wie auch Philip Feyer, Chef des eingangs erwähnten Jonas Reindl, weiß: »Für unseren Hausespresso beziehen wir den Kaffee von der Finca Los Alpes in Nicaragua. Wir kaufen fast deren gesamte Ernte auf und zahlen im Vorhinein für das nächste Jahr. Dadurch haben sie finanzielle Sicherheit, können das Geld in bessere Infrastruktur investieren und die Qualität verbessert sich von Jahr zu Jahr.«
Doch auch wenn bei Specialty Coffee vieles tatsächlich besser ist, wir würden nicht in unserer Welt leben, wenn alles gut wäre. Das betrifft nicht nur die Kolonialgeschichte, die tief in Kaffee eingeschrieben ist. Sondern auch die Klimakrise: Sie droht etablierte Anbaugebiete zunehmend weniger nutzbar zu machen – die Kaffeepflanzen brauchen ein sehr bestimmtes Klima. Und schließlich muss auch noch das Patriachat sein hässliches Antlitz zeigen: Nach wie vor sind Männer in der Szene stärker vertreten, besser vernetzt und prominenter sichtbar. Das beginnt bei Baristas, zieht sich durch Wettbewerbe und ist insbesondere bei Besitzer*innen und Röster*innen markant. Das Kollektiv She Brew will genau bei dieser Schieflage ansetzen. »Es gibt eine Menge wunderbarer Frauen in der Community«, sagt Eline Ferket, eine der Gründerinnen. »Wenn wir alle zusammenarbeiten würden, dann wäre das wie eine steigende Flut, die alle Boote anhebt. Wir wollen die Probleme in der Szene ansprechen, aber vor allem wollen wir uns gegenseitig vernetzen und bestärken.« Das Kollektiv existiert noch nicht lange, ist aber mit Workshops, Gesprächsrunden und Cuppings – Verkostungen von unterschiedlichen Kaffees – schon recht aktiv. »Langfristig fände ich es super, wenn sich das Netzwerk über Wien hinaus ausbreiten würde«, so Ferket. »Gerne auch als eigenständige Ableger. Und wenn dann in ein paar
Jahren eine Frau einen Wettbewerb gewinnt oder einen PhD zu Kaffeechemie macht und durch She Brew darin empowert wurde, das zu verfolgen, wäre das schon verdammt cool.« Ferket selbst ist vor zwei Jahren nach Wien gekommen und war davor in halb Europa unterwegs. Die Wiener Szene nimmt sie als lebhaft, meist freundschaftlich, aber in vielerlei Hinsicht noch sehr im Aufbau begriffen wahr. Das sieht auch ihre She-Brew-Kollegin Nina Verhoef ähnlich, die vor zehn Jahren aus Australien nach Wien gekommen ist: »In Australien ist Specialty Coffee im Vergleich zu den meisten anderen Ländern auf einem ganz anderen Level. Dort gibt es an jeder Ecke einen Specialty-Coffee-Shop. Baristas sind ebenfalls überall. Als ich vor zehn Jahren frisch nach Österreich kam, hatte ich keine Probleme, ei-
»Wir haben eine Kaffeehauskultur, aber keine Kaffeekultur.« — Johanna Wechselberger
nen Job zu finden, weil es hier so wenige Baristas gab. Und nach Specialty-Coffee-Shops musstest du damals aktiv suchen. Mittlerweile ist das Ganze viel normaler und selbst Läden, die eigentlich nicht darauf fokussiert sind, bieten zunehmend Specialty Coffee an.«
Nötige Missionierungsarbeit
Das Österreich etwas später dran war, liegt vermutlich an einem etwas unerwarteten Problem: der Kaffeehauskultur. Denn anders als in Australien gab es dadurch bereits gut etablierte Strukturen und eine bestehende Tradition. Allerdings sei das hierzulande immer »eine Kaffeehauskultur, aber keine Kaffeekultur« gewesen, wie Johanna Wechselberger meint. Specialty-Coffee-Shops müssten deswegen nach wie vor gegen eine gewisse Trägheit ankämpfen, erzählt Helmut Haller, der das Café Comet leitet – im siebten Bezirk, vermutlich dem Hotspot der Szene in Wien.
Auch Natascha Kretzl, Geschäftsführerin vom Kaffemik, ebenfalls in Wien-Neubau, sieht das ähnlich: »Es braucht schon Missionierungsarbeit. Mein Beispiel ist immer ein Wiener Schnitzel: Wenn du dein Leben lang nur verbrannte Schnitzel gegessen hast, muss dir auch erst einmal jemand zei -
gen, wie gut ein unverbranntes schmecken kann.« Doch Haller sieht auch Vorteile in der Wiener Tradition: »Klassische Wiener Kaffeehäuser sind halt total entschleunigt. Slow Coffee, wenn du so willst. Ob das jetzt ein Filter ist oder eine Melange, man kann damit in der Ecke sitzen und sein Ding machen: lesen, arbeiten, Platz haben, um zusammenzukommen. Eine ewig lange Kaffeekarte gibt es dort auch – früher wurde Kaffee da noch zelebriert. Und irgendwie kam in Wien damals schon die Welt zusammen. Da gibt es also viel, was in der Specialty-Coffee-Szene jetzt weiterlebt – unter anderen Rahmenbedingungen. Das sind alles Orte der Begegnung und der Gemütlichkeit.«
Doch was hier so klein und heimelig klingt, ist mittlerweile eine breite Branche mit Vernetzungen in die verschiedensten Industriebereiche. Von spezieller Hafermilch für Specialty-Coffee-Baristas bis zu IT-Lösungen für Röstereien. Lang vorbei sind die Zeiten, in denen engagierte Einzelpersonen persönlich Kaffeesäcke per Linienflug importiert, auf selbst umgebauten Popcornmaschinen geröstet und sie anschließend eigenhändig durch die Maschine gejagt haben, um sie schließlich einem Publikum von gleichgesinnten Kaffeenerds zu servieren. Es hat eine Professionalisierung stattgefunden und auch die ehemals nischigen Ecklokale wachsen. Jonas Reindl hat mittlerweile drei Shops und beliefert andere Lokale. Kaffemik hat vor einigen Jahren eine Rösterei in Niederösterreich übernommen. Und das Café Comet hat gerade das benachbarte Lampengeschäft geschluckt und sich flugs verdoppelt.
All das soll aber nicht heißen, dass Specialty Coffee mittlerweile keinen Platz mehr hat für Experimente oder für Nerds. Man nehme nur den Aufschwung einer Vielzahl an neuen – oder alten – Brühmethoden, unter anderem jenen des Filterkaffees. Natascha Kretzl ist zum Beispiel eine große Verfechterin davon: »Filterkaffee ist facettenreicher und einfacher zu Hause selbst zuzubereiten. Espresso trinkt man besser im Shop.« Aber auch abseits der Zubereitung bietet Kaffee ein breites Feld zum Abnerden, wie Helmut Haller darlegt: »Kaffee ist eine Schnittstelle von zahlreichen Dingen. Da hast du einmal die ganze Kolonialgeschichte, dann Globalisierungsphänomene, Fastfood, die Klimakrise, Genuss- und Gastkultur. Das macht Kaffee soziokulturell extrem spannend.« Und trinken kann man das Ganze auch noch.
Bernhard Frena
Helmut Haller leitet das Café Comet in der Kirchengasse 44 in Wien. Im selben Bezirk, in der Zollergasse 5, liegt das Kaffemik von Natascha Kretzl. Das originale Jonas Reindl von Philip Feyer befindet sich in der Währinger Straße 2–4. Die Rösterin von Johanna We chselberger lässt sich beim Stand 90 am Floridsdorfer Markt besuchen.
Kein Scherz: Der frühere Maschek-Satiriker Ulrich Salamun baut auf seiner eigenen Finca im Nebelwald Nicaraguas Kaffee an. Nach der Röstung im Burgenland kommt dieser unter der Marke Grandoro in den heimischen Handel.
Wie kaum ein anderes Genussmittel hat es Kaffee in den letzten Jahren geschafft, bei den Konsument*innen ein breites Bewusstsein für seinen beeindruckenden Nuancenreichtum zu entwickeln. Spätestens seit gefühlt an jeder Straßenecke ein Third-Wave-Coffeeshop aufgemacht hat, ist dieses Bewusstsein auch in Österreich angekommen. Die unterschiedlichen Anbauregionen und die Sortenvielfalt, aber auch die handwerkliche Perfektionierung aller Produktionsstufen – vom Anbau über die Ernte und die Trocknung bis hin zur Röstung – wirken sich auf den Geschmack von Kaffee aus.
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Eine geradezu ansteckende Begeisterung für eben diesen Nuancenreichtum ist schon sehr früh, noch bevor es die neue »Röstereiszene« in Wien gab, in Ulrich Salamun ausgebrochen. Dass es den Österreicher schließlich vor gut
Von der Grandoro-Biosphären-Finca Los Alpes im Nationalpark Kilambé — erhältlich bei Denn’s und Reform Martin
einem Jahrzehnt sogar in den Norden Nicaraguas verschlagen hat, um dort selbst als Kaffeebauer aktiv zu werden, kann man aber als eher außergewöhnlich beschreiben. War Salamun hierzulande doch vor allem als ein Drittel der begnadeten »Drüberreder« Maschek auffällig geworden.
Politisches Kabarett und Kaffeeanbau – gibt es da eine Verbindung? »Ja, man braucht viel Kaffee, um politisches Kabarett zu machen«, so Salamun schmunzelnd. Dass seine Zeit für Maschek letztlich zu knapp geworden ist, liegt daran, dass die Kaffeeernte mit der Spielsaison im Theater zusammenfällt.
Ursprünglich kam er in den Nullerjahren nach Nicaragua, um dort ein freies Radio aufzubauen, das es immer noch gibt, und er hat dabei Land und Leute
kennengelernt. Aus der Leidenschaft für Kaffee entwickelte sich vor Ort ein Interesse am Anbau und daran, kleinbäuerlichen Kooperativen bei der Vermarktung unter die Arme zu greifen.
Seit mehr als zehn Jahren röstet Salamun nun schon auf einem Teil des Weinguts der befreundeten Topwinzer*innen Gernot und Heike Heinrich Kaffee auf höchstem Niveau. Vertrieben wird dieser unter dem Namen Grandoro.
Das Mission Statement seiner Unternehmung: an die gute alte Zeit des Kaffees anschließen, als dieser noch als Luxusprodukt galt – als ein Produkt, das für ein gewisses Lebensgefühl stand. Mit seinen fast ausschließlich in Handarbeit und mit einem Augenmerk auf Nachhaltigkeit hergestellten Spezialitätenkaffees aus eigenem Anbau gelingt ihm das sehr gut.
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Wir haben an jene sieben Parteien, die nach aktuellen Umfrageergebnissen bei der Nationalratswahl am 29. September realistische Chancen auf einen Einzug ins Parlament haben, einen Fragebogen ausgeschickt – mit der Bitte um kurze, prägnante Antworten.
Soll es für heimische Radiosender eine Quote für Musik aus Österreich geben?
Die Einführung einer Quote für Musik aus Österreich für österreichische Radiosender kann ein hilfreiches Mittel sein, um die verstärkte Präsenz österreichischer Künstler am heimischen Radiomarkt zu unterstützen. Die konkrete Ausarbeitung und Umsetzung einer solchen Quote muss jedoch in Absprache mit den betroffenen Stakeholdern erfolgen.
Im Fernsehen fehlen – zumindest im Bereich der populären Musik – adäquate Angebote; im Radio hat vor allem Ö3 nach wie vor Nachholbedarf. Aus Sicht der SPÖ muss der ORF seine Rolle als einziger öffentlich-rechtlicher Sender in Österreich wahrnehmen und das heimische Kulturschaffen unterstützen. Quoten könnten dabei ins Auge gefasst werden.
Die FPÖ setzt sich für mehr heimische Musik im ORF ein, um österreichischen Künstlern eine Plattform zu geben. Quoten sind in dem Zusammenhang ein denkbarer Weg, nicht jedoch für private Medien, die sich am freien Markt finanzieren und nicht durch eine Zwangssteuer finanziert werden.
Sollen im Bereich der Kulturförderung Mittel von der Hochkultur in Richtung Popkultur verschoben werden?
Die Kulturförderung ist ein wichtiges Instrument, um Österreichs Kulturschaffende und deren Arbeit zu unterstützen. Es geht immer darum, eine Balance zwischen den einzelnen zu fördernden Sparten zu finden, um eine gerechte Aufteilung der Fördergelder sicherzustellen. Eine Verschiebung der Mittel ist demnach nicht vorgesehen.
Der SPÖ geht es nicht um das Ausspielen unterschiedlicher Musikstile gegeneinander. Eine Verschiebung der Mittel ist daher nicht zielführend. Wir sprechen uns stattdessen dafür aus, das Kulturbudget generell zu erhöhen und hier einen besonderen Fokus auf Popkultur zu legen.
Es geht nicht um die Verschiebung von Fördermitteln, sondern darum, dass der Musikwirtschaft jener Stellenwert eingeräumt wird, den sie verdient. Gelingen kann das mit einem »Masterplan Musikstandort Österreich«, der unter Einbindung aller Akteure und auf Grundlage der Studie »Wertschöpfung der Musikwirtschaft in Österreich« erarbeitet werden soll.
Die Grünen
Nein. Wir befürworten zwar jede Stärkung des österreichischen Musikmarktes und sehen es sehr positiv, dass sich der ORF freiwillig zu einer Quote bekennt, welche unserer Meinung nach auch durchaus höher sein könnte. Eine gesetzliche Mindestquote wäre aus unserer Sicht aber weder mit EU-Recht noch mit der Freiheit und Vielfalt der Kunst vereinbar. Neos
Nein. Wir lehnen die staatliche Einmischung in die freie Programmgestaltung unabhängiger Medienhäuser ab.
Wo endet »Hochkultur« und wo beginnt »Popkultur«? Nicht zuletzt wegen solcher Fragen sollten auch Begriffe wie diese keine Bewertungs- und Einordnungskriterien in der Förderung sein. Selbstverständlich wollen wir aber die zeitgenössische Kunst und Kultur im regionalen, nationalen und internationalen Bereich stärken, damit sie sich entfalten kann.
Nein, es sollte nichts verschoben werden, sondern der Fokus stärker auf die Chancen und Möglichkeiten der Freien Szene gelegt werden.
Ja, es gibt viele tolle Musikerinnen und Musiker, auch abseits des Mainstreams. Diese sollen auch im öffentlichen Rundfunk gehört werden können.
Bierpartei
Es gibt bereits seit 2009 eine Selbstregulierung der öffentlich-rechtlichen Radioanstalten. Die auferlegten 30 Prozent sind noch nicht erreicht, also sollten wir hier mal ansetzen.
Für die KPÖ soll Kulturförderung in Österreich ein Angebot an die gesamte österreichische Bevölkerung ermöglichen. Aktuell sind nur 22 Prozent »intensive« oder »regelmäßige« Besucher*innen von Kulturangeboten, während ein Fünftel der Menschen gar keine Angebote wahrnimmt. Hier kann der Staat mit Förderungen lenkend eingreifen und populäre Kultur unterstützen.
Die Kulturlandschaft in Österreich ist vielfältig, und ja, das sollte sich auch bei der Förderung widerspiegeln.
Welche Maßnahmen planen Sie, um Jugendliche und junge Erwachsene besser in politische Prozesse einzubeziehen?
Österreich ist Vorreiter bei der Jugendbeteiligung. Dazu zählen das Wahlalter von 16 Jahren und der Jugend-Check, der die Auswirkungen von Gesetzen auf die nächste Generation prüft. In der Jugendkonferenz diskutieren junge Menschen außerdem Jugendziele direkt mit Politikerinnen und Politikern. Diese Beteiligung wollen wir in Zukunft weiter stärken.
Kinder und Jugendliche können im Rahmen von Kinder- und Jugendorganisationen oder in den Bildungseinrichtungen ideal eingebunden werden, daher ist ein wichtiger Ansatzpunkt die Stärkung der Bundesjugendvertretung und der Schulpartnerschaft. Für die SPÖ ist Schule ein Ort, wo Bildung im Sinne von Weltverbesserungsräumen breit gedacht wird.
Nicht zuletzt die Corona-Maßnahmen wirkten sich negativ auf das Vertrauen in die Politik aus. Umso wichtiger ist es, mit Maßnahmen wie der Stärkung direktdemokratischer Instrumente (Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksabstimmungen) oder dem Ausbau der Kommunikationskanäle u. v. m. entgegenzuwirken und die Einbindung der Jugend sicherzustellen.
Wir wollen die Bundesjugendvertretung als gesetzliche Interessensvertretung junger Menschen stärken. Junge Menschen sollen bei Gesetzen, die sie betreffen, gehört werden. Daher fordern wir eine Aufwertung und bessere Verankerung des Jugend-Checks, durch den alle Ministerien Gesetzesvorhaben vorab auf ihre Auswirkungen auf junge Menschen überprüfen müssen.
Wir müssen junge Leute dafür begeistern, selbst politisch aktiv zu werden. Denn: Junge Menschen in der Politik können jungen Wähler*innen so das Vertrauen wiedergeben, dass die Politik sich um ihre Anliegen kümmert. Alle Parteien sollen Beteiligung von Jugendlichen nicht als Symbolpolitik, sondern als echtes Anliegen begreifen.
Zu Recht sind viele junge Menschen von den etablierten Parteien enttäuscht. Dagegen helfen weder Imagekampagnen noch als »Teilhabe« getarnte Marketingmaßnahmen. Es kommt darauf an, Politik zu machen, die konkrete Lebensumstände verbessert und wieder Perspektiven bietet.
Wir veranstalten österreichweit Stammtische, bei denen auch viele junge Menschen mitmachen, wir uns mit ihnen austauschen und ihnen somit ein Sprachrohr bieten. Wie in unserem Entpolitisierungspaket steht, wollen wir Menschenräte implementieren – und Ansichten von jungen Menschen direkt in den politischen Entscheidungsprozess einbinden.
Welche sind die dringlichsten Maßnahmen im Umgang mit der Klimakrise?
Beim Klimaschutz ist es am wichtigsten, Anreize und Alternativen zu schaffen, anstatt Verbote auszusprechen. Wichtig ist es, Chancen zur Innovation zu ergreifen und die vorhandenen Mittel kosteneffektiv einzusetzen (Green Budgeting). Wir müssen weniger über den Verzicht, sondern mehr über die positiven Effekte von Klimaschutz sprechen.
Für die SPÖ hat der Kampf gegen die Erderhitzung oberste Priorität. Er ist auch eine Verteilungsfrage: Die reichsten zehn Prozent verursachen die Hälfte der Emissionen, die dramatischen Folgen treffen uns alle. Wir wollen konkrete Maßnahmen (Verbot von Privatjets, Verlegung des Warentransports auf die Schiene, Klima-Transformationsfonds) setzen.
Da eine intakte Umwelt Lebensqualität und Wohlbefinden bringt, ist es im ureigensten Interesse eines jeden, sie zu schützen. Den Bürger eigenverantwortlichen Klimaschutz mit Hausverstand leben lassen und Innovationen fördern statt Verbotswahn und fundamentalistische staatliche Umerziehungssteuern wie die CO 2 -Steuer sind das bessere Rezept.
Die Klimakrise ist die größte Herausforderung unserer Zeit. Sie führt zu menschlichem Leid, der Zerstörung von Ökosystemen und unermesslichen Kosten. Deshalb braucht es etwa den Umbau unseres Energiesystems auf erneuerbare Quellen bis 2040, eine deutliche Reduktion unseres Energieverbrauchs sowie den Schutz unserer Natur und die Wiederherstellung von Ökosystemen.
Am wichtigsten ist ein CO 2 -Preis, der einen Anreiz für weniger Emissionen schafft. Österreich braucht außerdem ein Klimaschutzgesetz zur Erfüllung der Klimaziele. Die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen ist auch zu forcieren, wie verbindliche Ziele beim Erneuerbaren-Ausbau für die Länder. Zudem muss der Flächenfraß reduziert werden.
Beim Verkehr müssen die Öffis stark ausgebaut werden. Im Energiebereich müssen der Umstieg auf erneuerbare Energien und der Heizungstausch so ablaufen, dass keine zusätzlichen Kosten auf die Menschen zukommen. Daneben muss die Anpassung an Hitze und Unwetter vor allem Rücksicht auf jene nehmen, die es sich nicht selbst richten können.
Wir müssen die fortschreitende Bodenversiegelung in den Griff kriegen. Unser Lösungsvorschlag: eine übergeordnete Raumplanung, eine Mehrwertabgabe bei Umwidmungsgewinnen und ein maximaler Bodenverbrauch von 2,5 Hektar pro Tag – daran scheitert Österreich seit 20 Jahren. Die Bierpartei bekennt sich ganz klar zu Klimaschutz und Klimazielen.
Soll für trans Menschen der Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten wie Pubertätsblockern vereinfacht werden?
Nein. Die gegenwärtigen Gender-Ideologien bergen die Gefahr, dass sich Minderjährige dazu verleiten lassen, fragwürdige Therapien in Anspruch zu nehmen – mit nicht abschätzbaren Folgen für ihr weiteres Leben. Daher setzen wir uns für ein Verbot von Hormonbehandlungen unter 18 Jahren ein, sofern keine medizinischen Gründe vorliegen.
Die besten Entscheidungen über die notwendigen Maßnahmen bei trans* Personen werden zwischen den Betroffenen, Ärzt*innen, psychosozialen Expert*innen sowie – im Fall von Jugendlichen – unter Einbeziehung ihrer Familie getroffen. Die in Österreich vorgeschriebenen Regelungen reichen aus und entsprechen den wissenschaftlichen und medizinischen Standards.
NEIN, Pubertätsblocker sind ausnahmslos auf medizinisch indizierte und in der Behandlung alternativlose Fälle einzuschränken.
Ja. Der Einsatz von »Pubertätsblockern« wird im Einzelfall von Expert*innen mit allen beteiligten Personen entschieden. Internationale Leitlinien geben eine Handlungsanleitung für die Anwendung. Der Zugang sollte bei einer notwendigen Indikation nicht erschwert werden, insbesondere wenn die psychosoziale Gesundheit von trans Personen gefährdet ist.
Studien sehen die verbreitete Nutzung von Pubertätsblockern eher problembehaftet. Wichtig wäre ein besserer Zugang zu psychologischer Beratung und medizinischer Begleitung während der Pubertät. Auch die Kompetenz beim medizinischen Personal hinsichtlich Qualität und Verfügbarkeit von medizinischer Begleitung für Transpersonen muss ausgebaut werden.
Gerade jugendliche Menschen müssen jede mögliche – auch therapeutische – Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Wenn Pubertätsblocker und eine Transition für sie nach Beratung der richtige Weg sind, sollte dieser möglichst leicht erreichbar sein.
Es muss behutsam im Einzelfall entschieden werden, was für betroffene Jugendliche das Beste ist, und dafür müssen viele Aspekte sorgfältig abgewogen werden. Grundlegend ist es wichtig, dass trans Personen vollumfassenden Zugang zu evidenzbasierter, unterstützender medizinischer und vor allem wertschätzender Versorgung haben.
In den Umfragen liegen die FPÖ und ihr »Volkskanzler« unangefochten auf Platz eins.
Die FPÖ ging als Gewinnerin aus der Europawahl hervor. Es ist erschreckend, wie viel Zuspruch Konservativismus, eine diskriminierende Asyldebatte und ein fragwürdiges »Wir«Gefühl in der österreichischen Gesellschaft finden. Wie kann das sein in einer Zeit, in der man sich allerorts gerne mit Progressivität und Diversität brüstet? ———— Vor einiger Zeit, bei einem abendlichen Spaziergang durch Wien, komme ich an einem der beschmierten Burschenschaftlerhäuser vorbei. Die Nacht ist warm, die Fenster sind offen. Was ertönt dort beim Vorbeigehen aus dem Haus? »L’amour toujours«, gesungen mit ebenjenem xenophoben Text, den ich wenige Tage später im berühmten Sylt-Video wiedererkennen werde. Ein Chor aus Männern, der seinen Hass auf die Straße schmettert und von einem Land zu träumen scheint, das ihnen die Freiheit dazu gibt. Ein Gefühl der Überraschung überkommt mich, vielleicht das Ergebnis von zu viel Naivität. Soll das nun dieser Rechtsruck
rechtspopulistisch, sondern auch als rechtsextrem. Die Anfänge der Partei fasst er so zusammen: »1955 aus den Resten einer schon 1949 ins Leben gerufenen Übergangspartei (…) gegründet, war die FPÖ von Anfang an erkennbar, ja geradezu demonstrativ eine Gründung von ehemaligen Nationalsozialisten für ehemalige Nationalsozialisten.« Das sei eine bemerkenswerte Kontinuität im Vergleich zu anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa, wie beispielsweise der italienischen Lega Nord. Es ist die andauernde Erkenntnis, über die man nicht gerne spricht: Der Nationalsozialismus ist in Österreich weiterhin nicht genügend aufgearbeitet. Auch sei die FPÖ laut Pelinka in Milieukultur und Rekrutierungsbasis den »schlagenden Studentenverbindungen« nahe – also denen, die archaisch-verrohte Säbelduelle aufführen. Pelinka dazu: »In Österreich sorgt dieser historische Hintergrund für eine gewisse soziale Respektabilität des Rechtsextremismus. Traditionelle Eliten in Staat und
»Die FPÖ war von Anfang an eine Gründung von ehemaligen Nationalsozialisten für ehemalige Nationalsozialisten.« — Anton Pelinka
in Europa sein, der seit Jahren vorausgesagt wird? Oder hat sich eigentlich nicht viel verändert an den Strukturen unseres Miteinanders, die ein rechtsextremes Gedankengut ins »moderne Zeitalter« weitergeführt haben?
Wieso FPÖ?
Die FPÖ holte jüngst bei den Europawahlen mehr als 25 Prozent. In weiteren Ländern zogen andere rechtspopulistische Parteien mit: Die deutsche AfD landete auf Platz zwei, der französische RN von Marine Le Pen erreichte mehr als doppelt so viele Stimmen wie die Partei von Präsident Macron. Und das, obwohl – oder gerade weil – viele von ihnen EU-kritisch sind. Dieselbe Partei, bei der man vor gerade einmal fünf Jahren glaubte, sie hätte sich mit dem Ibiza-Skandal ins Aus geschossen, bekam also in Österreich die meisten Stimmen. Derselbe Mann, der zu Coronazeiten noch Pferdeentwurmungskuren als Heilmittel propagiert hat, ist nach wie vor ihr Vorsitzender. Die Frage liegt nahe: Wieso? Wer wählt eigentlich die FPÖ?
Anton Pelinka, Politikwissenschaftler und Jurist, beschreibt die FPÖ 2013 in seinem Text »Der Preis der Salonfähigkeit« nicht nur als
Wirtschaft waren und sind von diesen Verbindungen unverhältnismäßig stark geprägt (…)« Und so verwundert es nicht, dass sich die FPÖ besonders schwer damit tut, sich von antidemokratischen Gruppierungen wie der Identitären Bewegung abzugrenzen, oder dass Herbert Kickl kein Problem damit hat, sich »Volkskanzler« zu nennen – wie das 1933 ja auch schon ein anderer getan hat. Wer heute die FPÖ wählt, wählt eben nicht nur ihr aktuelles Wahlprogramm, sondern nimmt auch ihre Entstehungsgeschichte und ihre Parteifreund*innen in Kauf. Da mag es überraschen, dass die FPÖ ihre Stimmen nicht nur aus dezidiert rechten Kreisen bezieht, sondern ihre Wähler*innenschaft im Laufe der Zeit aus verschiedenen politischen Lagern aufgebaut hat.
Für den kleinen Mann Ein gern genannter Vorwand, warum die FPÖ Stimmen abkassiert, ist, dass sie Politik für die »einfachen Leute« mache und die (unausgesprochenen) Gedanken der Bevölkerung ernst nehme. Ironischerweise ist aber gerade die FPÖ eine jener Parteien, die häufig ziemlich
16/5 — 1/9 2024
gegensätzliche Politik verfolgen und etwa /gegen/ einen EU-weiten Mindestlohn gestimmt haben. Doch diese Selbstdarstellung als Volksversteherin ist selbstgewählt, sie entspringt dem Populismus, der Leitstrategie rechter Parteien. Durch diese wird die Idee eines »Volks« idealisiert und verteidigt, Debatten werden polarisiert und einfache Lösungsvorschläge – die meistens keine sind – für komplexe Probleme geboten.
Was bei den zuvor genannten Wahlergebnissen jedoch nicht unbeachtet bleiben darf, ist die eigentlich größte Partei: die Nichtwähler*innen. Mit etwas mehr als 50 Prozent Wahlbeteiligung lag Österreich nur knapp über dem EU-Durchschnitt, jede zweite Person hat hierzulande bei den Europawahlen nicht mitabgestimmt. Nicht nur die Erfolge der rechten Parteien sind also bedenklich, die Wahlergebnisse weisen zudem eine große Lücke auf: Menschen, die kein Vertrauen in Wahlen setzen oder sich politisch nicht repräsentiert fühlen. Populismus kann genau in diesen Gewässern fischen.
So kamen laut einer Wählerstromanalyse von ORF/Foresight elf Prozent der diesjährigen FPÖ-Wähler*innen aus dem Lager der Nichtwähler*innen (bezogen auf die Wahl 2019). Weitere 25 Prozent von der ÖVP und fünf Prozent von der SPÖ. Laut Foresight-Wahlbefragung wird die FPÖ besonders von Arbeiter*innen gewählt. Viele der befragten Wähler*innen wollten mit der Europawahl auch ein innenpolitisches Zeichen setzen, Protest bekunden. Durch Coronapandemie, Angriffskrieg und Inflation ist unser Dasein von Unsicherheit und neuen Ängsten geprägt.
Paula Diehl schreibt für die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung über diesen zunehmenden Populismus: »Dies passiert, wenn die Demokratie in die Krise gerät und das Vertrauen der Bürger/-innen in die politischen Institutionen schwächer wird. Daher ist Populismus auch immer ein Symptom. Doch Populismus ist ein ambivalentes Phänomen. Er hat einen demokratischen Kern: das Prinzip der Volkssouveränität.«
Gefährliches »Wir«-Gefühl
Positiv betrachtet hat Populismus also die Möglichkeit, Debatten anzustoßen. Gerade beim Rechtspopulismus ist die Vorstellung davon, wer das »Volk« ist, das hier gegen eine Elite verteidigt werden soll, aber äußerst gefährlich: Es ist ein »Wir«-Gefühl, das festgelegt und gegen ein Konzept von den »Anderen« gerichtet wird – beispielsweise Minderheiten, Migrant*innen, die LGBTQIA*-Community oder »das Establishment«. Sie sollen für jegliches Problem herhalten, dem selbstproklamierten »Volkskörper« angeblich etwas wegnehmen. Nicht umsonst wirft die FPÖ gerne mit dem Begriff »Heimat« um sich.
Auch immer mehr weibliche Wählerinnen wenden sich der FPÖ zu – trotz sexistischem Frauenbild und peinlichem Werbevideo, das sie in die Rolle der Hausfrau und der Kindererziehung verweisen wollte. Doch selbstbezeichnete »Tradwifes« oder »Antifeministinnen« geben umgekehrt gerne vor, ihr Leben als traditionelle Hausfrauen in Gefahr zu sehen. Feministische Kritik an klassischen Geschlechterrollen sehen sie als Angriff auf ihre Lebensentwürfe und flüchten sich oft quasi zum Trotz in ultrakonservative Beziehungsstrukturen, in denen sie sich sozioökonomische Sicherheit erhoffen.
In einem Interview mit der Wiener Zeitung beschreibt die Politologin Birgit Sauer, wie Herbert Kickl versuche, sich nach außen mit Sicherheit und Macht zu assoziie -
Eindeutig behaftete Begriffe wie »Remigration« würden von vielen Medien unkritisch übernommen, kritisieren Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen, ein Netzwerk für diskriminierungsfreie Berichterstattung. Auch der Mediendienst Integration zeigt auf, wie in Deutschland die Berichterstattung zu Migration und Asyl in steigendem Maß negativ verläuft und Statistiken verzerrt werden: »In den Berichten, die die Herkunft nennen, werden Ausländer weit überproportional oft benannt: in Fernsehberichten in 83,9 Prozent und in Zeitungsberichten in 82 Prozent der Fälle, obwohl ihr tatsächlicher Anteil an Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur rund einem Drittel entspricht.«
Zudem sind rechtspopulistische Parteien gerade auf Social Media stark vertreten und
»Populismus hat einen demokratischen Kern: das Prinzip der Volkssouveränität.« — Paula Diehl
ren, und damit Vertrauen erwecke: »Er verkörpert den braven Biedermann, den Mann, dem man vertrauen kann. Bei dem man keine Angst haben muss, dass er im Koksrausch Österreich verkaufen will oder im Alkoholrausch mit dem Auto gegen die Wand donnert.« Eine stabile Projektionsfläche also? Eine Ablenkung von Problemen?
Das Gewicht der Erzählung
In einer ORF-Umfrage gaben Anfang Juni 40 Prozent der befragten FPÖ-Wähler*innen die inhaltlichen Standpunkte der Partei als Grund für ihre Entscheidung an. Welche das sind? Migration und Asylpolitik, dann Krieg, Klima und Wirtschaft.
Ein Begriff, der im Wahlprogramm der FPÖ besonders hervorsticht, ist der der »Remigration«; gemeint ist die Deportation von Menschen. Das gleiche Wort wurde beim Treffen deutscher und österreichischer Rechtsextremer in einer Potsdamer Villa verwendet – Correctiv berichtete Anfang des Jahres darüber und löste eine Welle von Demonstrationen für Demokratie aus. Hauptsächlich planten die Beteiligten eine millionenfache Vertreibung von Menschen aus rassistischen Motiven. Die FPÖ verwendet den Begriff »Remigration« weiterhin – und gewinnt die Wahl. Ein Narrativ, das Angst erzeugt und zu Diskriminierungen führt.
heizen dort ein ohnehin schon konfrontatives Diskursklima weiter an. Die Accounts von FPÖ oder AfD mit erschreckenden Statements werden geklickt – ob ironisch oder aus Überzeugung –, der Algorithmus pusht. In Österreich haben übrigens 19 Prozent der unter 30-Jährigen FPÖ gewählt, ganz gegensätzlich zum ständigen Wokeness-Vorwurf durch ältere Generationen. Das auf den höheren Medienkonsum der Jungen zu schieben, dient allerdings auch als faule Ausrede, sich nicht genauer mit den Anliegen der Gen Z zu befassen.
Eva Sager schreibt im Profil: »Ein KlimaAktivist in Innsbruck will etwas anderes von Politiker:innen hören als die Vorsitzende des Heimatverbands in Traun. Wir können jungen Menschen Inhalte und politische Diskussionen zutrauen.« Und nicht nur als junge Menschen sollten wir uns mehr denn je um einen demokratischen Diskurs bemühen, der sich abseits rechtspopulistischer Parolen führen lässt. Denn vereinfachte Lösungsvorschläge und Ablenkungsmanöver können keinesfalls für empathische Veränderungen sorgen und differenzierte Debatten anleiten. Anne Other
Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen sind online zu finden und bieten unter anderem ein Glossar mit Formulierungshilfen sowie verschiedene Projekte zur Unterstützung diskriminierungsfreier Berichterstattung.
Urban-Design-Kollektiv
Der Frage, was sie denn nun eigentlich so dreist machen würde, begegnen Luisa Zwetkow, Martin Kohlbauer und Sophie Coqui vom Kollektiv Dreist mit breitem Grinsen. Sie hätten etwas Neues machen wollen, Ideen umsetzen, die normalerweise nicht umgesetzt werden. Aus diesem Grund arbeitet das Trio seit einem Jahr an nachhaltigem Design und architektonischen Zukunftslösungen. Statt einen Abstecher in den Baumarkt zu machen, verwenden sie allerdings ungenutzte Materialressourcen der Stadt: vom Lehmaushub der neuen Wiener U-Bahn-Baustellen bis hin zu – so skurril das klingen mag – nicht mehr verwendbarem Mehl der Bäckerei Ströck. »Das ist das Material von Wien, so sieht Wien aus«, erklärt Luisa. Die drei trafen letztes Jahr im Zuge ihres Masterstudiums Architektur an der TU aufeinander. Ergänzen würden sie sich vor allem durch ihre unterschiedlichen Fähigkeiten im Umgang mit Handwerk, Design und Material. »Dadurch ist viel mehr Kraft, Energie und Möglichkeit da«, meint Martin. Das gute Zusammenspiel des Kollektivs zeigt sich etwa auch in seinem Design für den Aufenthaltsbereich der Festivalzentrale der diesjährigen Vienna Design Week. Der gemeinsame Arbeitsalltag gestaltet sich dabei unregelmäßig, ohne feste Bürozeiten oder hierarchische Strukturen, wozu Sophie schmunzelnd anmerkt: »Ich glaube, das beschreibt den Begriff Kollektiv ganz gut.«
Kirsten Lubach Graveurmeisterin
Mit Lederschürze und stolz-fröhlicher Miene steht Kirsten Lubach in ihrem Atelier neben den großen Druckmaschinen, die mit ihren jeweils 120 Jahren schon so einiges gesehen haben müssen. Leidenschaftlich erzählt sie von ihrem Handwerk, dem Kupferstich. Mit einem feinen Stichel graviert sie dabei händisch jede Linie einzeln und präzise in ihre Kupferplatten, um diese danach mit Farbe zu bestreichen und die Motive auf Papier zu pressen. Kirsten ist damit eine der letzten Kupferstecher*innen Österreichs. Wie sie dazu kam? Nun ja, es sei ein beruflicher Zickzackkurs gewesen. Von der Goldschmied*innenlehre zur Graveurmeisterin, zur kleinen Werkstatt im eigenen Haus, aus der dann 2021 ihr eigenes Atelier wurde. Die Ergebnisse ihrer Arbeit hängen dort überall an den Wänden: Briefmarken, Geschenk- und Visitenkarten etc. Allesamt handgemacht. Neben traditionelleren Motiven wie Landschaften, Tieren oder Blumen findet sich auch viel Zeitgemäßes in Kirstens Drucken. »Ich brauche schließlich nicht immer Hirsche in Sepiabraun«, meint die Graveurin augenzwinkernd. Auch mit ihrem Programmbeitrag für die Vienna Design Week möchte sie Traditionelles mit Modernem verbinden und damit die künstlerische Komfortzone ihres Ateliers verlassen. »Ich versuche, mit dieser alten Technik eben trotzdem etwas Aktuelles zu machen und das Ganze in die Gegenwart zu bringen.«
Dass Familie Maynard mit allem durchzukommen scheint, wird in »Veni Vidi Vici« sehr schnell klar. Der neue Film des Regieduos Julia Niemann und Daniel Hoesl erzählt von der Unantastbarkeit der (Super-)Reichen und treibt die Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft auf die Spitze – in einer Ästhetik, die zwischen aalglattem Werbefilm und verunsicherndem Psychohorror changiert.
Mo., 23. September, 20 Uhr
Votiv Kino
Währinger
Wir verlosen 10 � 2 Tickets für die Sondervorstellung von »Veni Vidi Vici« präsentiert von The Gap – inklusive anschließendem Gespräch mit Julia Niemann und Daniel Hoesl.
Gewinnspielteilnahme bis 17. September 2024 unter www.thegap.at / gewinnen möglich.
In Kooperation mit
Teilnahmebedingungen: Die Gewinnspielteilnahme kann ausschließlich unter der angegebenen Adresse erfolgen. Die Gewinner*innen werden bis 18. September 2024 per E-Mail verständigt. Eine Ablöse des Gewinns in bar ist nicht möglich. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mitarbeiter*innen des Verlags sind nicht teilnahmeberechtigt.
1 Verschiedene Interpreten »Have a Minute?«
Der Pumpkin-Records-Release mit der Nummer 150 hat es in sich: 41 Acts, 41 Beiträge von je einer Minute Länge. Musikalische Vielfalt von bekannten sowie weniger bekannten heimischen Artists. Und ein Markstein in der Geschichte des steirischen Labels: Hiermit übergibt Gründer Wolfgang Pollanz an seinen Nachfolger Gabriel Schmidt. Würdige Sache! Wir verlosen drei Exemplare auf Vinyl.
2 »Kommst du mit in den Alltag?«
Gespräche über Lebenswelten von Musiker*innen« hat Herausgeber Andre Jegodka in diesem Band versammelt. Paul Buschnegg (Pauls Jets), Pedro Crescenti (International Music), Peter Hein (Fehlfarben), Sophie Löw (Culk), Jan Müller (Tocotronic), Christiane Rösinger und viele mehr über die Umstände, unter denen man im deutschsprachigen Raum Musik macht. Wir verlosen zwei Exemplare.
3 »David Lynch begreifen«
Da das Leben sehr, sehr kompliziert sei, sollten das auch Filme sein dürfen, meint David Lynch in einem Bonmot, das Adrian Gmelch und Jonathan Ederer ihrem Buch voranstellen. Ihre Erkundung von Leben und Werk des Kultregisseurs endet nicht beim Film, sondern nimmt auch Lynchs Schaffen als bildender Künstler, Musiker und Designer in den Fokus. Wir verlosen drei Exemplare.
4 Martin Reich »Revolution aus dem Mikrokosmos«
Lebensmittel aus dem Braukessel statt vom Bauernhof? Martin Reich führt uns in die neue Welt der Fermentationslabore und skizziert, wie sie die extremen Auswirkungen unserer Ernährung auf Umwelt und Klima verringern könnten. Von einer uralten Tradition, die dank neuer Entwicklungen in der Biotechnologie unsere Zukunft nachhaltig verändern wird. Wir verlosen drei Exemplare.
5 Ana Wetherall-Grujić »Blutsschwestern« Die Journalistin (Die Furche), Podcasterin (»Keine Hand frei«) und Autorin (»Das Baby ist nicht das verdammte Problem«) Ana WetherallGrujić veröffentlicht ihren ersten Roman. Sie erzählt darin mit bitterbösem Humor von Schwesternschaft und Heimat – zwischen Wien und dem B alkan – sowie von moralischen Abgründen und kaltblütiger Rache. Wir verlosen drei Exemplare.
Sich kleiner machen als man ist? Bei der Band Ischia, die im Herbst ihr Debütalbum veröffentlicht, trifft das nur auf den bewusst kleingeschriebenen [Nicht bei uns!; Anm. d. Lekt.] Bandnamen zu. Denn ansonsten denken Adele Ischia, Hjörtur Hjörleifsson (beide kennt man unter anderem als Mitglieder der Band Endless Wellness), Lena Kauntz und Philipp Hackl viel lieber groß. Das merkt man unter anderem an der Fülle unterschiedlicher Sounds und Einflüsse, die auf »Leave Me to the Future« vertreten sind und von Krautrock über Grunge bis Shoegaze und Dreampop à la Beach House reichen. Aber auch das energetische, hypnotisch anmutende Gitarrenriff des Songs »Sides«, mit dem die Band in ihr Debüt einsteigt, trägt zu diesem Gefühl bei. Folgendes Credo scheint mitzuschwingen: lieber ein bisschen Größenwahn an den Tag legen, als die eigene Arbeit kleinzureden. Das bedeutet jedoch nicht, dass reduzierter angelegte Songs hier keinen Platz hätten. Der Titeltrack ist bestes Beispiel dafür, dass dem eben nicht so ist.
Ansonsten vermitteln viele der Songs auf dem Album das Gefühl, sich inmitten von wabernden Nebelschwaden aufzuhalten – jedoch ohne dabei auch nur ansatzweise bedrückende Schwere zu empfinden. Es fühlt sich eher so an, als würde man auf einem magischen Soundteppich durch sie hindurchgleiten – die feuchte Luft prickelt dabei auf der Haut. Ein wenig Melancholie ist in Ordnung – »it’s okay to be sad« singen Ischia im Song »Big Deal« –, tut jedoch der grundsätzlichen Leichtfüßigkeit des Albums keinen Abbruch. Geht es um die Texte kann weder von Betrübtheit noch von getrübten Blicken die Rede sein. Klare Ansagen gegen das Patriarchat (»Manbaby«) reihen sich an Klarstellungen zum Thema Selbstbestimmtheit (»Sorry mama, I don’t wanna talk about children, I need to take care of myself«) und andere eindeutige Messages: »Is it you, cause I know it isn’t me«. Dass sich die Band nach dem Release in den auf »Sleep« besungenen Winterschlaf begeben wird, ist glücklicherweise auszuschließen. (VÖ: 13. September) Sarah Wetzlmayr
Live: 27. September, Wien, B72
»Everything goes to hell.« So heißt es ganz frank und frei zu Beginn von »It’s All Going South«. Stampedeartig geht’s den Bach hinunter. Tribalistisch stampft das Intro mit den Hufen, als ob der Leibhaftige persönlich an die Tür pocht. Dann wird der Indierock von der Leine gelassen. Rasant und verzerrt bis kurz vor dem Kipppunkt galoppieren wir unserem Fatum entgegen. Wenn das der Soundtrack zu unserer Verwitterung sein soll, dann wird der Niedergang ein geiler. Das Grazer Trio hat in all seinen Jahren nichts an Stilsicherheit und Souveränität verloren. Sublim und doch organisch produziert, strahlt der Longplayer Klasse aus, ganz gleich, ob er im feinen Anzug und in Tanzschuhen geschmackvoll die Discokugel schwingt oder in melancholischer Ästhetik zu grübeln beginnt. Die Jahrzehnte haben The Base zu einer Konstante in Österreichs Musiklandschaft gemacht. Die sonore Routine, mit der mal zart, mal zornig Geschichten erzählt werden, manifestiert sich in deren lyrischer und musikalischer Substanz. Die Band, die 1989 gegründet wurde und 1996 ihren ersten Release feierte, hat seitdem 15 Alben veröffentlicht, diverse Preise gewonnen, Film- und Theatermusik kreiert, Auftritte im Burgtheater und in der Spanischen Hofreitschule kredenzt sowie bei einem Live-Recording die schnellste CD aller Zeiten produziert.
Dieses Curriculum Vitae zeugt von künstlerischer Integrität und ist aus der dicht verwobenen Atmosphäre der Erzählstücke auf »It‘s All Going South« herauszuhören. Die Songs sind mit Elementen von Alternative Country, (Neo-)Folk und Blues angereichert. Die einzige Schwäche des Albums liegt dabei in den Ambitionen der Band. Weniger Ausflüge in die Genres, dafür eine verfestigte Konsistenz wären wünschenswert. Davon abgesehen trudelt dieses wunderschöne Album in gemächlichem Trott schwermütig seinem Ende entgegen. Hörenswert!
(VÖ: 13. September)
Live: 5. Oktober, Klagenfurt, Kammerlichtspiele — 19. Oktober, Graz, Detroit (Helmut List Halle) — 2. November, Wien, Chelsea — 14. November, Linz, Stadtwerkstatt — 20. Februar, Salzburg, Rockhouse — 21. Februar, Ebensee, Kino — 21. März, Wr. Neustadt, Zentralkino — 22. März, Krems, Kino im Kesselhaus
Tobias Natter
Nachdem Dyin Ernst auf dem »Prolog«-Mixtape noch mit seinem Alter Ego Jermc gemeinsame Sache gemacht hat, geht er nun auf dem neuen Album »Wach« wieder seinen eigenen Weg, nimmt uns aber mit auf die Reise. Transportmittel: Wiener Bus. Nächster Halt: seine Träume. »Wach« ist nämlich nicht nur ein Album, sondern eine immersive Geschichte, die den Hörer*innen Aufmerksamkeit abverlangt und sie ganz in die Welt von Dyin Ernst eintreten lässt.
Diese dreht sich um die Zustände Schlafen, Träumen, Wachsein und alles, was dazwischen liegt. Immer wieder werden diese Themen mit gefinkelten Metaphern, Wortspielen und Zweideutigkeiten angeteasert. Auch musikalisch muten die Melodien mitunter träumerisch und sphärisch an. Doch das Spannendste sind bemerkenswerterweise die mit Konversationen gefüllten Interludes, die den Fluss des Albums leiten und nahezu cineastisch wirken lassen. Durch sie wird zunehmend deutlich, dass nicht nur der Schlafzyklus zentrales Thema ist, sondern vielmehr ganz generell Bewegung und Stillstand, Scheitern und Verlieren.
Je öfter man die Platte hört, desto mehr Details entdeckt man. So zum Beispiel, dass die Interludes nur bei jedem ungeraden Track auftauchen. Dass ihre Tonfrequenzen gleich einem filmischen Spannungsbogen steigen und sinken. Oder dass der Track namens »52 Hz« sich auf den Gesang des sogenannten »einsamsten Wals der Welt« bezieht. Immer wieder ertönt zwischendurch die wohlbekannte Stimme der Wiener-ÖffiDurchsagen, die den nächsten Halt bekannt gibt. Das Album wirkt wie eine Ausflugsfahrt durch Wien, durch Tag und Nacht, durch Hochs und Tiefs. Es ist Rap, der ohne Statussymbole auskommt, textlich gehörig auftischt und grundlegend künstlerisch durchdacht ist.
(VÖ: 20. September) Mira Schneidereit
Wolfgang Lehmann ist eine Person mit vielen Namen, noch mehr Aliassen und überhaupt einer ewigen Liste an Kollaborationen, bei denen der überall die Finger im Spiel hat. Es mag eine verzerrte Erinnerung sein, aber in den Archiven dieser Rezensionssektion wurde Wolf Lehmann – vielleicht noch als Möstl damals – als so was wie König Midas be- bzw. überzeichnet. Aber irgendwo stimmt’s ja schon, dass es manche Leute gibt, bei denen man einfach weiß, dass es passt. Jedenfalls kommt von Wolfgang Lehmann ein neues Album und wenn ihm die Feature-Gäste (Sophie Löw von Culk ist beispielsweise an Bord) ausgehen, wird einfach mit sich selbst und dem einen oder anderen zusätzlichen Vergangenheits-Ich kooperiert. Da sind auch die Studiokosten gleich ein bissi einfacher zu teilen. Musikalisch sind – rein subjektiv, selbstverständlich – vergangene Veröffentlichungen Lehmanns für den geneigten Autor interessanter (Melt Downer, hallo?), gut ist »Human Art« aber allemal. Den Extrapunkt gibt’s, weil das steirische Label Rock Is Hell – das heuer übrigens 20-jähriges Bestehen feiert – den Release mal wieder besonders gemacht hat: »Human Art« erscheint dort als Kollektion aus insgesamt vier Seven-Inch-Vinyls. Darauf sind die einzelnen Tracks wie »Come« von Wolf Lehmann und »Home« von Mile Me Deaf. Die Titel klingen relativ ähnlich, gell? Werden bestimmte Tracks gleichzeitig gespielt – Faktor Mensch! – ergibt sich ein neuer. In obigem Beispiel eben »Come Home« von Wolf Lehmann und Mile Me Deaf. In der für die Rezension zur Verfügung gestellten digitalen Playlist ist das eher eine weniger einladende Second-Screen-Experience. Macht mit einer zweiten Person schon mehr Spaß – und ob sich nicht noch weitere Hidden Tracks auf den Scheiben finden? Allein schon der Gedanke an fröhliches Herumgepitche auf mehreren Plattenspielern erweckt Freude, das sei am besten selbst ausprobiert. Apropos Freu(n)de, apropos Kooperation: Wer nicht glaubt, dass Lehmann sie alle kennt, möge sich am 27. Juli bei der Popfest-Seebühne selbst überzeugen. Da kommen die nämlich – alle. (VÖ: 19. Juli) Sandro Nicolussi
Live: 27. Juli, Wien, Popfest
Wenn beflügelt durch ballestrisches Ballgeschiebe Millionenmassen wieder schwarz-rot-geil werden – oder hierzulande: unreflektiert und mit mangelnden Rezeptionsskills in Fendrich’schem Nationalpathos ersaufen; wenn inhumane Absonderlichkeiten Normalität werden; wenn der schmale Rest an Menschlichkeit zur verteufelten Abscheulichkeit wird: dann braucht es Hiebe in Zeiten des Aufruhrs. Das denkt sich auch Robert Stadlober. Ihr werdet das Gesicht schon erkannt haben: weltberühmt im DACH-Raum, Ikone von zu Leinwand gebrachter Teenage Angst, Labeltyp, Musiker und was weiß ich noch alles. Demnächst mimt er in »Führer und Verführer« den Schrumpfgermanen Joseph Goebbels, vorher setzt er aber noch einen antifaschistischen Hieb und vertont Lyriken des an Job Descriptions ebenso reichen Kurt Tucholsky (Journalist, Lyriker, Linker etc.), der 1935 als »aufgehörter Deutscher« starb. Damit rührt er schön das nachlassende Gedächtnis der Täterländer auf. Den Titel »Wenn wir einmal nicht grausam sind, glauben wir gleich, wir seien gut« von jeglichen Metaebenen freizusprechen, ist also fehl am Platz. Und ja, es geht in den zwölf Stücken sehr viel um faschistische Tendenzen, um »die da oben«, um Unterdrückung, um all den Scheiß, den die Lethargischen offenbar nicht aus ihren seelenlosen Leibern geschüttelt bekommen. Stadlober sagt, er hätte etwas Erbauliches in den Worten Tucholskys gefunden, eine Absurdität, einen utopischen Hoffnungsschimmer. All das hat er in die Musik übertragen, die er dazu verfasst hat.
Eigentlich müsste also die G enese dieses Albums – mit Texten, die teilweise über hundert Jahre alt sind, und zeitgenössischer Musik, die von Wolfgang Lehmann produziert wurde – das Pendel in eine dieser beiden Richtungen ausschlagen lassen. Dass die Wahrheit dazwischen liegt, ist per se nichts Neues, hier ist es aber gar erstaunlich: Stadlober gelingt nämlich ein Album, das eher in den späten Neunziger- bis frühen Nullerjahren verortbar scheint . Denkt an mittelfrühe Erdmöbel, an Tom Liwa, an den Teil der Hamburger Schule, der immer etwas verträumter war. Denn: Träume kann man nicht verbieten.
(VÖ: 30. August)
Dominik Oswald
17.09.2024
Du liest gerade, was hier steht. Ja, sogar das Kleingedruckte! Und damit bist du nicht allein. Werbung in The Gap erreicht ein interessiertes und sehr musikaffines Publikum. Und das Beste daran: Für Bands und Musiker*innen bieten wir besondere Konditionen. Absolut leistbar, auf all unseren Kanälen und nah dran an einer jungen, aktiven Zielgruppe. Melde dich, wir beraten dich gerne! sales@thegap.at
Nach und nach füllt sich das Line-up des Club- und Showcase-Festivals Waves Vienna. Mehr als 100 Acts werden es am Ende sein, wenn es im September wieder heißt: sich entlang des Gürtels von Bühne zu Bühne treiben lassen und spannende Acts kennenlernen – aus Österreich (etwa Low Life Rich Kids; Foto), Europa und dem Gastland Kolumbien. Standesgemäß runden Begleitveranstaltungen wie die Verleihung des XA Export Awards und eine dichtes Konferenzprogramm das Geschehen ab. 5. bis 7. September Wien, diverse Locations
Die diesjährige Ausgabe des Festivals für avancierte elektronische Musik, experimentelle Klänge, progressiven Clubsound und aktuellen Diskurs findet unter dem Titel »Of Many Worlds« statt. Es ist die zehnte – und zum runden Jubiläum sind knapp 80 Künstler*innen und Speaker*innen aus dem In- und Ausland mit von der Partie. Beispielsweise: Dorian Concept (Foto) aus Österreich, Iceboy Violet aus Großbritannien, Safety Trance aus Venezuela oder Senyawa aus Indonesien. 5. bis 15. September Wien, diverse Locations
Wenn es die Truppe rund um Sonja Maier krachen lässt, feiern Grunge und Beach-Boys-Harmonien, Punk-Attitüde und PopAppeal enthemmt Vermählung. 9. August Klagenfurt, Lendhafen — 10. August Traiskirchen im Innkreis, Free Tree Open Air — 13. September Weyer, Bertholdsaal — 14. September Scheibs, Hiabstla — 4. Oktober Graz, Ernte Punk Festival — 5. Oktober Wiener Neustadt, Triebwerk
Der neue Look der irischen Band kam überraschend. Die Songs des im August erscheinenden Albums »Romance« hätten ihn überall Neongrün sehen lassen, so die Erklärung von Gitarrist Carlos O‘Connell. Ein bewusster Bruch mit dem Image als Postpunk-Poeten? Als Einfluss wurde zuletzt jedenfalls immer wieder Nu Metal genannt – aber keine Angst, es klingt gut. 13. August Wien, Arena Open Air
An vier Tagen im August gibt’s – mittlerweile schon zum 44. Mal – jede Menge Jazz in Saalfelden. Aber nicht ausschließlich! So finden sich etwa mit Radian, Bipolar Feminin sowie Nenda & Gilewicz (Foto) diverse Ausreißer*innen im Programm. Die drei genannten Acts sind sogar – wie zahlreiche andere auch – bei freiem Eintritt zu sehen. Gute Sache! 22. bis 25. August Saalfelden, diverse Locations
Ihr Wienkonzert ist Auftakt zu einer Tour, auf der die Einstürzenden Neubauten das aktuelle Album »Rampen – APM: Alien Pop Music« erstmals in ganz Europa vorstellen werden. Weit über 40 Jahre nach ihrer Gründung kehrt die Band damit zu ihren Wurzeln zurück und ruft gleichzeitig ein neues Genre aus: Alien Pop – Popmusik für Aliens und Außenseiter*innen. 5. September Wien, Arena Open Air
Atmosphäre können Greg Hughes und Tessa Murray. Am liebsten melancholisch gefärbt, verträumt und/oder zart geisterhaft anmutend. Ihr 2013er-Album »Strange Pleasures« gilt in IndieKreisen längst als moderner Klassiker. Mit »Dream Talk« ist nun ihr sechster Longplayer erschienen – abermals irgendwo zwischen Desert-noir- und Dream-Pop angesiedelt. 26. September Wien, Grelle Forelle
Die oberösterreichische (Sub-)Kulturinstitution gönnt sich zum Jubiläum ein fettes Fest. Dabei sind Legenden der lokalen Punk-/Hardcore-Szene (Target of Demand, Seven Sioux, Deadzibel und Stand to Fall) ebenso zu sehen wie 30 Jahre heimische HipHop-Geschichte in Form der Linz Rap Allstars. 30. August Linz, Kapu
»Memoiren eines Riesen«, Skeros Debütalbum, dessen Hit »Kabinenparty« regelrecht durch die Decke ging, feiert dieses Jahr 15. Geburtstag. Da lässt sich der »Riese« natürlich nicht lumpen und kündigt eine spezielle Show »mit zahlreichen Feature-Gästen und Rambazamba« an. 13. September Wien, Flex
Zum Höhepunkt der Feierlichkeiten rund um das 20-Jährige Bestehen der Jazzwerkstatt Wien gibt’s ein fünftägiges Konzertfeuerwerk mit 15 Acts. Es wird vielfältig: »Techno neben Folk neben Austro-Chanson neben RockRiff neben Kammermusik neben experimentellem Hip-Hop«. 17. bis 21. September Wien, diverse Locations
Künstlerisches Leitungsteam
New Salt Festival
Inwiefern fügt sich das New Salt Festival ins Programm der Kulturhauptstadt Bad Ischl – Salzkammergut ein?
Das New Salt Festival ist eines der größten Musikprojekte der Kulturhauptstadt und Teil der Programmlinie »Kultur im Fluss«. New Salt greift programmatisch Musikkultur auf, die sich im subkulturellen Kontext wiederfindet und fügt ihr im Bestfall noch eine Nuance hinzu. Wir versuchen unterschiedliche musikalische wie künstlerische Zugänge nach Bad Ischl und Umgebung zu holen, um unterschiedlichstem Publikum Anknüpfungspunkte zu bieten.
Das Festival soll unsere als gegeben betrachtete Realität aufwirbeln. Wie wollt ihr das erreichen?
Wir versuchen musikalisch-künstlerische Konzepte zu präsentieren, die im Salzkammergut so weitgehend noch nicht zu hören oder zu sehen waren. Wir haben Acts eingeladen, die sich mehrheitlich bloßer Unterhaltung entziehen, die Aufmerksamkeit, genaues Zuhören und ein Sich-darauf-Einlassen vom Publikum einfordern. Radikalere Positionen werfen auch immer eine politische Dimension auf. Im Idealfall lernt man etwas Neues kennen – und beim Zuhören etwas dazu. Somit eröffnen sich neue Perspektiven, Gewohnheiten oder Ansichten. Ein Fokus des Programms liegt auf audiovisuellen LivePerformances. Acts wie Synspecies, Names – New Art and Music Ensemble Salzburg gemeinsam mit Patrik Lechner oder die Zusammenarbeit von Alessandro Baticci, Sebi Meyer und Conny Zenk werden audiovisuelle Arbeiten zeigen, auf die man in der Tat gespannt sein kann.
Was bringt jede*r von euch beiden in die Arbeit im künstlerischen Leitungsteam ein?
Wir sind beide schon seit vielen Jahren in den unterschiedlichsten Bereichen des Musik- und Kulturbetriebs tätig. Gemeinsam decken wir ein breites Spektrum und unterschiedliche Perspektiven ab –Ursula als Musikerin und Labelbetreiberin und Max als DJ und Musikarbeiter. Wir ergänzen uns gut –obwohl es eine große Schnittmenge gibt, hat jeder auch einen eigenen stilistischen Fokus.
New Salt Festival 5. bis 8. September Bad Ischl, diverse Locations
Gemütlich vom Campingplatz zum Theateryoga am Ufer des Herrensees spazieren. An abendlichen Gesprächen am knisternden Lagerfeuer teilnehmen. Theaterschaffenden beim Schwärmen über ihr liebstes Drama lauschen – in Küchen und Wohnzimmern echter Litschauer*innen. Oder man begibt sich doch für ein bisschen morgendliche Unterhaltung zum sogenannten »Früh.Stück«. Bei Hin & Weg fehlt es sicherlich nicht an abwechslungsreichen Formatideen. Umso weniger überrascht, dass es auch der theatralen Umsetzung der Festivalthemen Identität und Teilen nicht an Kreativität mangelt. Auf den Bühnen vor Ort wird dem Verhältnis dieser beiden Begriffe mannigfaltig auf den Grund gegangen. 9. bis 18. August Litschau, diverse Locations
Hoffnung nicht als passives Nachdenken darüber verstehen, wie eine Veränderung stattfinden kann, sondern als aktive Kraft mit dem Fokus darauf, wer eben jene Veränderung vorantreiben wird. Dieses Ziel verfolgt die Ars Electronica. Mit dem Motto »Hope – Who Will Turn the Tide« möchte das Festival für digitale Kunst das Blatt der pessimistischen Zukunftsvorstellungen wenden. Das Projekt »Balot NFT« (Bild) verwendet etwa NFTs – häufig ein Mittel zur Privatisierung digitaler Kunst – und nutzt sie, um kongolesisches Land für den kommunalen Gebrauch zurückzukaufen. 4. bis 8. September Linz, Postcity
Woraus besteht unser Alltag? Aus welchen Gegenständen, welchen Materialien, Farben und Formen? Mit diesen Fragen setzt sich die Vienna Design Week unter anderem auseinander. Im Rahmen der Festivalformate werden wilde Designs und einfallsreiche architektonische Zukunftsentwürfe präsentiert. Diese greifen dabei mitunter auf Material zurück, das aus den Abfällen und Überbleibseln des Wiener Alltags stammt. Sei es alter U-Bahn-Beton oder anderes Wiederverwertbares. So zeigt die Vienna Design Week, dass Wien an allen Ecken eine »city full of design« ist. 20. bis 29. September Wien, diverse Locations
Die zehnte Ausgabe der Viennacontemporary macht eine Reise um die Welt – von den USA, über Singapur bis hin zu den Kunstmärkten Zentral- und Osteuropas. Dabei dreht sich das Festival um jenes Thema, das diese Welt nicht nur am Laufen hält, sondern auch eines der drängendsten Probleme unserer Zeit geworden ist: Energie. Wie sich das in der Kunstwelt umsetzen lässt, ist aus den Blickwinkeln der Künstler*innen und Kurator*innen zu sehen. 12. bis 15. September Wien, Messe, Halle D
»Am Ende eines Satzes stehen drei Punkte für das, was nicht ausgesprochen wird, für Auslassungen und offene Fragen.« Diese sollen beim Dotdotdot bequatscht und diskutiert werden. In der Abenddämmerung will das Open-Air-Kurzfilmfestival die Zuschauenden – ungeachtet ihrer finanziellen Möglichkeiten – bei Screenings und Filmtalks zusammenbringen. Denn nur wer miteinander Filme sieht, kann miteinander über Filme sprechen. 4. bis 29. August Wien, Volkskundemuseum
In Innsbruck wird sich wieder einmal der Schwerkraft widersetzt. Zumindest, wenn es um die Schwerkräfte des Denkens geht. Ob in Bezug auf das Leben, die Gesellschaft, die Politik, Bildung, Wirtschaft oder Design, beim Fö N Festival weht es nicht nur den Berg herunter, sondern auch eine ganze Menge anregende Kreativität in die Köpfe der Besucher*innen. Also liebe Kreativmenschen: Be inspired! 9. bis 14. September Innsbruck, Congress
Wer beim Slash »nur« nach Horrorfilmen sucht, wird in der Sparte sicher reichlich fündig, übersieht aber einen guten Teil des Programms. Nicht umsonst schreibt sich das Wiener Festival mit der eingeschworensten Fangemeinde groß den »fantastischen Film« auf die Fahnen. Auch bei der 15. Ausgabe werden wohl wieder alle Nischen des Genrekinos vielfältig vertreten sein. 19. bis 29. September Wien, Filmcasino, Metro Kinokulturhaus und Gartenbaukino
»Anti / Körper«
Ein zentrales
Die Bedeutung von Fotografie für feministische Kunst haben wir unlängst in Ausgabe 202 dargelegt.
Mittel dabei ist das Spiel mit dem Körper –oft mit dem eigenen. Während dieser nämlich abgeschnitten, herangezoomt, aus dem Kontext gerissen, bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und fortwährend nachbearbeitet werden kann, ist er irgendwann doch physisch vor einer Kamera gestanden, durch den Apparat technisch reproduziert worden und hat sich materiell in die Fotografie eingeschrieben. Arbeiten von Claudia Holzinger, Leon Höllhumer, Kai Kuss, Xenia Lesniewski (Bild), Daniel Rajcsanyi, Sophia Süßmilch und Sarah Tasha widmen
sich in der Ausstellung »Anti / Körper« diesem widerständigen Potenzial fotografierter Körper, unterwandern stereotype Normen und schaffen neue Gegendispositive. 9. August bis 28. September Salzburg, Fotohof
Kann ein für den millionenfachen Konsum über Massenmedien produziertes Produkt wie »Die Simpsons« Kunst sein? Und ändert sich diese Einschätzung, wenn es ganz traditionell in einer Schau im Museum ausgestellt wird? Das Karikaturmuseum Krems zeigt unter dem Titel »Here Comes Bart« handgezeichnete Storyboards, Cels und Skizzen von den ersten 13 Staffeln der Serie, als diese noch nicht vollständig digital produziert wurde. Angelehnt an das Springfield’sche Atomkraftwerk beschäftigt sich ein Exkurs zudem mit österreichischen Karikaturen rund um das AKW Zwentendorf. bis 29. Juni 2025 Karikaturmuseum Krems
Schon mal spät nachts eine verlassene Landstraße entlangspaziert und plötzlich das Gefühl gehabt, in der Anfangssequenz einer Krimiserie mitzuspielen?
Oder in einer verlassenen Häuserschlucht die kommende Zombieflut imaginiert?
Allen Menschen, deren Fantasiewelt ebenfalls von der Bildsprache des Genrekinos kaputt gemacht worden ist, spricht Gregory Crewdson aus der Seele. Seine hochgradig inszenierten Fotografien wirken so, als würde jeden Moment die cineastische Katastrophe über sie hereinbrechen. bis 8. September Wien, Albertina
Wenigem ist die Nostalgie so eingeschrieben wie dem Essen. Steffi Parlow setzt sich in »Ware nur auf Nachfrage. Auslage in Arbeit« mit ihrer eigenen Kindheit in der DDR auseinander und baut im Kunstraum Lakeside ihr Kinderzimmer sowie die darunterliegende Speisekammer nach. Die darin ausgestellten Lebensmittel sind allerdings nicht nur Ausstellungs-, sondern Tauschobjekte – Motto: Bring was, krieg was! So wird aus dem persönlichen Erinnerungsraum ein kollektiver. bis 13. September Klagenfurt, Kunstraum Lakeside
Der Nationalsozialismus hat sich tief in der österreichischen Seele eingenistet und lässt sich doch leicht verleugnen. Dagegen schreiben Mahnmale eine beständige Erinnerung – für alle sichtbar – in den öffentlichen Raum ein. So erinnert Catrin Bolts »Lauftext« an die Novemberprogrome von 1938, bei denen der Grazer Oberrabbiner David Herzog genau entlang jener Strecke durch die Stadt gejagt wurde, entlang der sein Bericht darüber nun für ganz Österreich dauerhaft lesbar bleiben wird. seit 8. Juli Graz, Stadtzentrum
Leerstände sind unnedig – für alle Seiten. Für die Politik sind sie eine steuerlichraumplanerische Ineffizienz, für die Besitzer*innen ein brachliegender Kostenfaktor und für die Bewohner*innen eine stete Erinnerung daran, was noch möglich wäre, wenn nur jemand mal damit anfangen würde. Genau diesen Anfang möchte die Tangente St. Pölten nun für leerstehende Ladenfenster, Auslagen und Schaukästen machen und sie – zumindest temporär – mit Kunst füllen. Wir sind gespannt, wie’s weitergeht. ab 12. September St. Pölten, Stadtzentrum
Die Epoche der Romantik steht oft im Verruf, abgehoben, antirational und überemotional gewesen zu sein. Reiche Söhne im Wohlstandselend im besten Fall und Wegbereiter des Nationalsozialismus im schlimmsten. Dennoch speiste sie auch eine Sympathie für Außenseiter*innen und eine Absage an das Normativ-Rationale. Dass sich die von Mariana Lemos kuratierte Ausstellung zu Neurodiversität und Crip Culture also das Romantische auf die Fahnen schreibt, scheint durchaus schlüssig. 14. September bis 19. Oktober Wien, Galerie Wonnerth Dejaco
Regisseurin »Favoriten«
Für den Dokumentarfilm »Favoriten« begleiteten Sie eine Volksschulklasse über drei Jahre. War es einfach, die Erlaubnis zu bekommen, in der Schule zu drehen?
Ich wollte auf jeden Fall eine Schule zeigen, die typisch für europäische Großstädte ist, also eine Schule mit einem diversen Publikum. Wir sahen uns in verschiedenen Bezirken Schulen an und landeten schließlich in Favoriten, in der – das wusste ich zuerst auch nicht – größten Volksschule Wiens. Dort hatten wir von Beginn an einen sehr guten Kontakt zum damaligen Direktor: Er war sofort von der Idee begeistert und beriet uns auch, welche Lehrkräfte für unser Projekt infrage kommen könnten.
Auch das Thema Religion spielt in »Favoriten« eine Rolle. Warum?
Religion ist in unseren Schulen sehr präsent, so haben die Kinder zwei Religionsstunden in der Woche. In unserer Klasse gab es keine katholischen Kinder. Die Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien haben sich alle vom Religionsunterricht abgemeldet, während die muslimischen Kinder diesen besuchen. Sie mögen den muslimischen Religionsunterricht, weil sie die Inhalte bereits beherrschen. Meiner Ansicht nach brauchen die Kinder keinen Religionsunterricht, weil sie ohnehin in die Moschee gehen und dort alles lernen. Die Kinder sollten in den zwei Stunden lieber weiteren Deutschunterricht haben.
Was wissen Sie nun über das österreichische Bildungssystem, das Sie zuvor nicht wussten?
Es hat mich überrascht, dass das Schulsystem nicht besser ist – und dass es noch immer eine Fortsetzung ist von allem, was bereits Generationen davor erlebt haben. Wenn die Politik so weitermacht wie bisher, dann wird es eine sehr ungebildete Schicht von Menschen geben, die anfälliger ist für Extreme, für Verschwörungen, für Schwurbeleien aller Art. Es geht mir gar nicht darum, dass ich die Kinder bemitleide. Es geht mir um die Mehrheitsgesellschaft, die sich darum kümmern muss, mündige Bürger*innen heranzuziehen.
»Favoriten« Start: 19. September
Regie: Ella Hochleitner Transgenerationale Traumata werden in Ella Hochleitners neuer Dokumentation filmisch verarbeitet: Die Filmemacherin widmet sich den Schicksalen der Bewohner*innen des Salzburger Bauernhauses Trog während und nach der Zeit des Nationalsozialismus – und taucht damit zugleich in ihre eigene Familiengeschichte ein, schließlich sind elf ihrer Cousin*en Teil des Films. Sie erzählen von sexueller Gewalt und Missbrauch und davon, wie die Bäuerin Theresia dennoch versuchte, ihre Familie zusammenzuhalten. »Trog« macht Aufarbeitung und Aussöhnung zu den zentralen Themen. Für die aus Salzburg stammende Ella Hochleitner ist es bereits ihr zwölfter Dokumentarfilm. Über die Rolle der Familie in ihrer Arbeit sagt sie: »Filmemachen wurde zur vielsprachigen Familienangelegenheit.« Start: 30. August
Regie: Daniel Hoesl und Julia Niemann Geschichten über das oberste Prozent der Gesellschaft faszinieren uns – und erleben aktuell auf der kleinen wie großen Leinwand eine Renaissance: Seien es Streaming-Hits wie »Big Little Lies«, »The White Lotus«, »Succession« oder nun »Veni Vidi Vici« über die Familie Maynard, die sich alles leisten kann. Filmische Erfahrungen mit den Themen Reichtum und Macht haben Hoesl und Niemann bereits zuvor gemacht: So richteten sie in ihrer Doku »Davos« den Fokus auf die Elite des World Economic Forums und Daniel Hoesl tauchte in »Win Win« in die Welt dreier Investoren ein. »Es ist keine Neuigkeit, dass es Menschen gibt, die gleich sind, und Menschen, die noch gleicher sind. Milliardäre stehen eher über dem Gesetz«, sagt Hoesl im Interview mit The Gap. Start: 13. September
Regie: Eli Roth ———— Für den neuesten Versuch, Videospiele ins Kino zu bringen, nimmt sich Eli Roth der kunterbunten Shooterserie »Borderlands« an. Lilith (Cate Blanchett) kehrt auf ihren Heimatplaneten Pandora zurück, um ein vermisstes Kind zu retten – dabei geht sie eine Allianz mit verschiedenen Außenseiter*innen ein. Besonders die Starbesetzung mit Blanchett, Kevin Hart und Jack Black dürfte für Sommer-Blockbuster-Spaß sorgen. Start: 8. August
Regie: Selma Doborac ———— Als eine »Herausforderung für die Zuschauer*innen« wurde dieser Film vonseiten der Berlinale bezeichnet, denn in ihrem zweiten Langfilm widmet sich Selma Doborac der Frage, wie sich das Kino mit Täterschaft und Gewalt auseinandersetzen soll. Dafür ließ sie die zwei Schauspieler Texte sprechen, etwa Passagen aus Gerichtsurteilen, Bekenntnisse von Whistleblowern oder Täterberichte. Start: 5. September
Regie: Quentin Dupieux ———— Salvador Dalí war einer der ganz Großen in der Kunstwelt und ihm ist dieses »echte Fake-Biopic« gewidmet. Darin versucht eine Journalistin (Anaïs Demoustier) mehrmals, den Künstler zu interviewen, und trifft dabei gleich auf sechs Versionen von ihm. »Wie Dalí selbst sagte, war seine Persönlichkeit wahrscheinlich sein größtes Meisterwerk«, so Regisseur Quentin Dupieux. Start: 6. September
Regie: Julia von Heinz ———— Lena Dunham ist als Schauspielerin zurück und verkörpert die aus New York stammende Journalistin Ruth Rothwax, die 1991 mit ihrem Vater Edek (Stephen Fry) nach Polen reist. Gemeinsam erkunden sie ihre jüdische Familiengeschichte und nähern sich einander dabei wieder an. Eine in Deutschland gedrehte Romanadaption, die gleichzeitig das erste internationale Projekt der Regisseurin ist. Start: 12. September
Regie: Vuk Lungulov-Klotz ———— Ein Tag im Leben des jungen trans Mannes Feña (Lío Mehiel): Wir lernen eine Person kennen, die ihr Leben neu ordnen muss und dabei auf drei Menschen aus der eigenen Vergangenheit trifft. Der in New York lebende Regisseur und Drehbuchautor Vuk Lungulov-Klotz ist trans und möchte mit seinen Filmen queere Narrative erweitern. »Mutt« sei nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit seinen eigenen Ängsten. Start: 13. September
Idee: Poppy Cogan Mysteriöse Todesfälle in Kleinstädten sind spätestens seit »Twin Peaks« ein Garant für spannende Stunden vor dem Fernseher. Netflix setzt mit »A Good Girl’s Guide to Murder« nun ebenfalls auf dieses Rezept (und auch auf die Tatsache, dass es sich um die Adaption der beliebten Young-AdultRomanreihe von Holly Jackson handelt). Ein Mädchen wird getötet –fünf Jahre später möchte Pip Fitz-Amobi (Emma Myers) den Mordfall lösen. ab 1. August Netflix
Idee: Bill Lawrence Bill Lawrence haben wir schon viele Serien – etwa »Scrubs«, »Cougar Town« oder »Ted Lasso« – zu verdanken, nun verpflichtete er Vincent Vaughn für die Hauptrolle in der Serienadaption des gleichnamigen Romans, in dem ein ehemaliger Polizist Restaurantinspektionen in Südflorida durchführt. Als ein abgetrennter Arm gefunden wird, stößt er auf eine Welt voller Gier und Korruption. Krimi trifft auf Komödie und einen starbesetzten Cast. ab 14. August Apple TV+
bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber
Ja, sapperlot! Was steht da in der eben aufgepoppten Push-Notification, die mich vom Kolumnieren abhält? »Ich habe lange gebraucht, um 21 hinter mir zu lassen!« Hä? Worum geht’s bitte? Um hingehaltene Adoleszenzbewältigung? Oder ist der Algorithmus dem Aberglauben anheimgefallen und übt sich nun in zahlenmystischen Verrenkungen? Soll ich aus reiner Neugier draufdrücken? Oder macht das alles nur schlimmer – und mein feinjustiertes Internet ist dann komplett kaputt? Ach, wird schon nicht so wild sein … So let’s push the button! Na, da schau her: In ein paar mageren Zeilen geht es um einen Autorennfahr-Seppl, der noch etwas aus dem Jahr 2021 aufzuarbeiten hat – nicht etwa einen Unfall, sondern, äh, einen Misserfolg. Schlimm, schlimm. Aber wie komme ich denn zu der Ehre dieser BrummbrummBanalität? Die Vermutung liegt nahe, dass es mit dem Trailer für den Formel-1-Film mit Brad Pitt zu tun hat, der im Sommer in die Kinos kommen wird ... Den musste ich mir neulich tatsächlich dreimal ansehen, weil ich einfach nicht glauben konnte, wie irre langweilig ein Teaser sein kann, der für ein 300-Millionen-Dollar-Werk werben soll. Aber was soll’s, denn der Zahlenzufall stiftet auf verquere Weise sogar Sinn: Diese Kolumne ist nämlich auch die 21. ihrer Art!
Hinter Kolumnenkulissen
Wenn das kein charmant beiläufiger Anlass ist, einen topexklusiven Blick in den Maschinenraum der Fertigung dieses Formats zu werfen! In der Regel läuft es hier ja so ab: Der exzellent organisierte The-Gap-Chefredakteur teilt mir mit dem Erscheinen der aktuellen Ausgabe bereits meinen persönlichen Abgabetermin für die nächste mit – und wiegt mich so in trügerischer Sicherheit. So lang noch hin! Also: genügend Zeit für Themenfindung und Textausarbeitung, damit kann ich mich auch in ein paar Wochen noch beschäftigen. Doch selbige vergehen oft schneller, als einem lieb ist – und wenn nach dem Überziehen diverser Deadlines immer noch kein geschriebenes Wort in Sicht ist, macht sich in der Redaktionsstube zu Recht Nervosität breit.
Eine gehörige Portion Body-Horror lässt sich bei »The Substance« nicht verleugnen.
Aber, aber: De facto wird es für Bewegtbildberichterstattende ja immer schwieriger, Produktionen Monate vor ihrem Start zu sichten. Hat man es nicht zu den einschlägigen Festivals geschafft, bleibt nur die Hoffnung auf früh angesetzte Presse-Screenings – und die ist oft vergeblich. Doch dank guter Geister auf Seiten der Filmverleihe hat sich auch in den prekärsten Situationen immer noch ein später Silberstreif auf der Leinwand aufgetan – so auch diesmal. Umgehend also die frohe Kunde an den Chefredakteur: »Doch noch ein Thema gefunden, ich bekomme ›The Statement‹ rechtzeitig zu sehen.« Erst nach dessen ratloser Antwort »Wir finden dazu keine Bilder«, fällt dann der Groschen beim Kolumnisten mit den bereits blank liegenden Nerven: Gemeint ist selbstverständlich der Film »The Substance« (Kinostart: 20. September).
Unbeabsichtigt zutreffender könnte mein Lapsus indes gar nicht sein: Denn die zweite Regiearbeit der Französin Coralie Fargeat (nach ihrem nachdrücklichen Vergewaltigungsvergeltungsthriller »Revenge«) ist in einer zusehends risikoaversen Gegenwartsfilmlandschaft wahrlich ein kraftvolles Statement – formuliert in grellen Signalfarben und extrafetten Lettern. Seit Cannes eilt »The Substance« dementsprechend ein überzeugend wilder Ruf voraus: Verstörte Schnappatmung und schockschrilles Auflachen wechselten sich bei der Weltpremiere dieser wahnwitzigen, hyperästhetisierten Mutation aus Body-Horror, Sci-Fi und Jugendwahnsatire ab, die sich erwiesen unzimperlich an einer delikaten Frage abarbeitet. Sie lautet: Was würdest du tun, wenn du mit einer Spritze eine neue Version von dir hervorbringen könntest – eine jüngere, schönere, bessere?
Vor der folgenschweren Versuchung, die klassische Affirmation »New year, new me« bis zur letzten Konsequenz auszureizen, steht eines Tages auch Hollywood-Star Elizabeth Sparkle (Demi Moore, never better). Kurz davor, von der chauvinistischen Unterhaltungsindustrie durch eine jüngere Kollegin ersetzt zu werden,
bekommt sie von der titelgebenden Substanz Wind. Nach initialem Zögern lässt sie das experimentelle Prozedere aber schließlich über sich ergehen. Durch einen injizierten »Aktivator« wird die Bildung eines jüngeren Klons angeregt, anschließend müssen Original und Klon ohne Ausnahme alle sieben Tage die Rollen tauschen. Wer in einer bestimmten Woche im Einsatz ist, kann sich in der Welt bewegen, während die andere zu Hause im Koma liegt. »Ihr beide seid eins«, mahnt das Regelwerk. Aber was heißt das konkret? Es wird aus dieser Symbiose doch nicht etwa im schlechtesten Fall auch eine zwischenmenschliche Dynamik entstehen können, die der Volksmund mit »toxisch« umschreiben müsste? Beispielsweise dadurch, dass das frisch geschlüpfte Zweit-Ich (Margaret Qualley) mit erstmals entdeckter lust for life plötzlich ganz eigene Vorstellungen entwickelt – auf schmerzhafte Kosten des älteren Ichs? Oder?
Doch Coralie Fargeat geht es nicht nur darum, eine Variation von »Dorian Gray« durch David Cronenbergs von allerlei Körperflüssigkeiten verschmierte Linse einzufangen (obwohl das zuverlässig schockierend und unterhaltsam gelingt). Zusammen mit ihren beiden unerschrockenen Hauptdarstellerinnen geht sie noch einen entscheidenden Schritt weiter – und implantiert ihrem grotesken Körperweltenexzess eine unmissverständlich feministische Perspektive. Spätestens im radikalen Showdown wird das Monster in uns allen, das jenen unmöglichen Druck aufrechterhält, der auf Frauen stets in Bezug auf Aussehen und Altern lastet, zur Kenntlichkeit entstellt. Und man kommt nicht umhin, sich zu fragen: Könnte es sein, dass es nicht das Fleisch ist, das hier außer Kontrolle geraten ist, sondern der Geist, der uns dazu treibt, uns selbst und anderen so etwas anzutun? Ja, sapperlot! prenner@thegap.at • @prennero
Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen.
ackticktack
Der Haltung gewidmet.
So tickt das Superwahljahr: DER STANDARD begleitet Sie mit Analysen, Recherchen und Hintergrundberichten zu den bevorstehenden Wahlen in Österreich, der EU und den USA. Vertrauen Sie auf Qualitätsjournalismus und akribische Berichterstattung in dieser wegweisenden Zeit. abo.derStandard.at
Der Pride Month ist zwar schon vorbei, wer aber trotzdem Lust auf Queer Culture hat, ist bei Luca Bonamores »Silent Lovers« genau richtig. Spät nachts in öffentlichen Parks oder Toiletten: Beim Cruising trifft das Öffentliche auf das Private. Dabei exponieren sich queere Menschen seit jeher gezwungenermaßen und werden so häufig Opfer von Gewalt – sowohl durch die Polizei als auch durch ihre Mitbürger*innen. Nach seinem letztjährigen Impulstanz-Debüt bietet Luca Bonamore dieses Jahr eine Gruppenchoreografie mit fünf stummen Liebhabern, die sich nach Zuneigung (oder sogar Liebe?) sehnen und in ihren Gegenübern Schutz vor dem »Kreislauf politischer Unterdrückung« suchen. 4., 5., 6. und 11. August Wien, Schauspielhaus
Inge Gappmaier arbeitet als freie Choreografin, Tänzerin, Tanzpädagogin, Dramaturgin und Tanzwissenschaftlerin in Wien. In ihrer installativen Tanzperformance »Now« lässt sie das Publikum den Moment des Jetzt als Raum erfahren. Fünf Tänzer*innen erkunden in überlappenden Soli den Puls ihrer Zeit. Dabei hinterfragen sie, wie das technische Zeitmaß in das Selbstverständnis der Menschen eingeschrieben ist. Das Jetzt wird als permanenter Zustand von bestimmter, an den Körper gebundener Dauer verstanden: Gleichzeitig hier und dort, ist das Jetzt der kleinste gemeinsame Nenner und ein potenzieller Wendepunkt. »Now« legt den Fokus auf das unmittelbare Erleben unserer Gegenwart und (gem)einsamen Verletzlichkeit. 25. bis 29. September Wien, Brut
An der Schnittstelle von Theater und Journalismus sitzt das Institut für Medien, Politik und Theater. Bekannt für sein Recherchetheater widmete sich das Kollektiv bereits politischen Skandalen und Themen wie Korruption und Machtmissbrauch. Im Rahmen des Kultursommers Wien gibt es mit seinem neuen Projekt Einblicke in Österreichs Nazikeller und rechtsextreme Netzwerke. Gezeichnet wird das Sittenbild einer Gesellschaft, die sich erneut stark nach rechts bewegt. 2. August Wien, Reithofferpark — 4. August Wien, Hyblerpark
In Linz gibt es ab September eine Adaption von Heinrich Bölls Erzählung aus dem Jahr 1974 zu sehen. Nach einem Tanzabend gerät eine junge Frau unerwartet ins Visier der Polizei und hat – dem Boulevardjournalismus geschuldet – von einem Moment auf den anderen keine Privatsphäre mehr. Verleumdungen, Unterstellungen und Vorurteile beherrschen Katharina Blums Alltag, bis sie schließlich jegliche Kontrolle über ihr Leben an all die Gerüchte und Bilder, die von ihr gemacht und verbreitet werden, verliert. 19. September bis 31. Oktober Linz, Theater Phönix
Kurz vor der Nationalratswahl gibt es noch ein künstlerisches »Previously on …«. Seit über einem Jahr protokolliert Thomas Köck Ereignisse der österreichischen Politik- und Medienlandschaft. In seinem neuen Stück nimmt er den zunehmenden Rechtsruck des Landes ins Visier. Lokale Geschehnisse werden mit globalen Entwicklungen verknüpft, die Wechselwirkungen zwischen Politik und Wirtschaft skizziert und Köcks eigene, von Klassismus sowie Chancenungleichheit geprägte Kindheit beziehungsweise Jugend reflektiert. 22. September bis 2. November Graz, Schauspielhaus
Dass Josef Jöchl humorvolle Texte schreiben kann, wissen wir dank seiner The-Gap-Kolumne »Sex and the Lugner City«. Dass er eigentlich auf der Kabarettbühne zu Hause ist, zeigt er nun wieder mit »Erinnerungen haben keine Häuser«. Diesmal geht es um … das weiß er nicht mehr so genau. Josef hat sein Passwort vergessen und alle Erinnerungen, Fotos, E-Mails sind plötzlich weg. In seinem einstündigen Programm geht er der Frage auf den Grund, wo Erinnerungen hingehen, wenn keiner mehr da ist, der sie sich merkt. 24. September, 5. November und 17. Dezember Wien, Kabarett Niedermair
Gewidmet all denjenigen, die beim Lesen auf die eine oder andere Wissenslücke gestoßen sind.
Außerhalb Japans bezeichnet Anime animierte Filme aus Japan, häufig produziert auf Basis von Mangas, der japanischen Form von Comics. In Japan wird hingegen jegliche Animation als Anime bezeichnet – auch beispielsweise Disney-Filme. Der einsamste Wal der Welt ist ein Wal einer unbekannten Spezies, der als einziger bekannter Wal auf der Tonhöhe von 52 Hertz singt. Dadurch kommuniziert er wortwörtlich auf einer anderen Wellenlänge als alle anderen Wale. »The Picture of Dorian Gray« ist ein Roman von Oscar Wilde, in dem der titelgebende Dorian Gray seine Seele dafür verkauft, dass ein Porträt von ihm an seiner Stelle altert. Mate ist ein koffeinhaltiges Teegetränk aus Südamerika. Der damit hergestellte Softdrink Club-Mate ist bereits 100 Jahre alt. Comics werden in der Szene häufig als neunte Kunst bezeichnet. Die anderen acht nach dieser Zählung wären: Malerei, Bildhauerei, Zeichnung, Grafik, Architektur, Fotografie, Film und Fernsehen. Die Novemberprogrome im Jahr 1938 – unter die auch die Reichskristallnacht von 9. auf 10. November fällt – waren von Nationalsozialist*innen aktiv initiierte Gewalttaten gegen Jüd*innen im gesamten damaligen Reichsgebiet, Österreich eingeschlossen. Nu Metal ist ein Musikgenre der Neunzigerund frühen Nullerjahre. Es kombiniert Metal mit Elementen aus Hip-Hop, Funk und Grunge. Bands wie Korn, Limp Bizkit, Linkin Park oder Slipknot zählen zu dessen wichtigsten Vertreter*innen. In jüngster Zeit hat das Genre ein kleines Revival gefeiert. Unter Sonntagsfrage versteht man in der Meinungsforschung die Frage nach der aktuellen Wahlabsicht, also: »Wenn nächsten Sonntag Nationalratswahl wäre, welche Partei würden Sie wählen?« Yirgacheffe ist der Name sowohl einer Region als auch ihrer Hauptstadt im südlichen Äthiopien. Dort liefern kleine Farmen ihre Kaffeeernte an sogenannte Washing Stations, die die Kaffeekirschen für den Transport aufbereiten. Im Gegensatz zu anderen Ländern werden in Äthiopien selten spezifische Sorten angebaut, sondern viele unbestimmte, oft wild wachsende Sorten geerntet.
Nichts ist jemals »easy«. Schlag nach bei Hillary Clinton. ———— Als sich 2007 abzeichnete, dass Hillary Clinton demokratische Kandidatin bei den nächsten US-Präsidentschaftswahlen werden könnte, war uns das eine Coverstory wert. Oder besser gesagt: Ihre Bemühungen um die Zensur von Rap, Rock und Computerspielen waren es, die Christoph Weiss aka Operator Burstup zu seinem Text bewegten. Wurde darin doch ein Widerspruch zum Bild Clintons als »Sympathieträgerin, soziales Gewissen Amerikas und Symbol für eine Wende in der US-Politik« deutlich. Solmaz Khorsand steuerte ein Porträt der »Realpolitikerin« bei. Der Vollständigkeit halber: Aus Clintons Kandidatur sollte zuerst nichts werden – Barack Obama kam, sah und siegte. Und acht Jahre später scheiterte sie dann an Donald Trump. Bitter. Außerdem in dieser Ausgabe? Thomas Edlinger in seinem »Alphabet des Abfalls« darüber, dass (fast) nichts jemals »easy« sei, auch wenn man uns in einer Tour vom Gegenteil überzeugen wolle. Jörg Pacher über den Wandel der Playstation vom schnöden Spielzeug zum Home-Entertainment-Center. Sowie Texte über das Rollenspiel »Degenesis«, Garish und DJ Mehdi.
Dass das Burgkino mehr ist als nur »Der dritte Mann«, sollte eigentlich klar sein. Das gemütliche Innenstadtkino zeigt neben seinem Dauerbrenner nämlich immer auch ein feines Programm cineastischer Schmankerl, die in den großen Kinoketten oft unter den Tisch fallen. Stets in Originalversion und – das ist durchaus ein Alleinstellungsmerkmal – auch internationale Filme mit englischen Untertiteln. Da ist die Tatsache, dass auch das Nonstop-Kinoabo hier gilt, nur noch icing on the cake. Opernring 19, 1010 Wien
Watzmann Salzburg
Wer in Salzburg auf der Altstadtseite feiert, ist selbst schuld. Viel schöner ist es nämlich am anderen Salzach-Ufer – zum Beispiel in der Watzmann Cultbar – mit freiem Blick auf die ganze Kulisse. Giselakai 17a, 5020 Salzburg
Der beste, schönste, nerdigste Geschenkwarenladen in ganz Wien«, rühmt sich Metaware selbst. Zu bestreiten ist dies bei den prall gefüllten Regalen nicht. Reindorfgasse 39, 1150 Wien
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Josef Jöchl
artikuliert hier ziemlich viele Feels
Immer sollen es Gegensätze sein, die einander anziehen: Topf und Deckel, Yin und Yang, Meg Ryan und Personen, die nicht Meg Ryan sind –wenn man den erfolgreichsten Rom-Coms der 90er-Jahre Glauben schenkt. Dabei wissen alle mit mehr als drei Kerben im Bettpfosten: Gemeinsamkeiten sind viel wichtiger als Gegensätze. Wenn sich die soziale und vielleicht auch die geografische Herkunft überlappen, stehen die Chancen für eine dauerhafte Liaison am besten. Wenig schweißt stärker zusammen, als wenn ein Zehn-Euro-Schein ungefähr ähnlich schwer in der Hand liegt oder man zufällig mal auf dem Parkplatz desselben Fachmarktzentrums gefingert hat.
Meine Meinung: In der Liebe kann man die gesellschaftliche Sogwirkung schon mal machen lassen. Nichtsdestotrotz fallen uns Unterschiede viel stärker auf, wenn wir einander kennenlernen. Mir vor allem beim Essen. Die Ernährungsgewohnheiten anderer Menschen finde ich meistens extrem weird – als der neurotische Lockenkopf in schultergepolsterten Blazern, der ich bin. Ich komme nicht umhin, mich zu wundern: Warum ernähren sich alle anderen Menschen so komisch?
Koriander – yes
Nur um die Facts zu clearen: Koriander – yes; Nutella – no; Fleisch vom Biobauern – nur, wenn ich mit dem Schwein in meiner Kindheit Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt habe. Man kennt es. Als Single of many years koche ich außerdem nicht so gerne. Mehr noch: Die meisten Speisen verzehre ich, sofern möglich, direkt aus dem Gebinde im Stehen, idealerweise über der Abwasch. Manchmal im Abstellraum, wenn mir mein eigener Anblick dabei zu deprimierend ist. Zum Naschen dann gerne mal ein Proteinshake, die Kohlenhydrate hole ich mir beim Auslecken von Chipsschüsseln auf Partys.
Mit dieser Lebensart bin ich die letzten Jahre ganz gut gefahren. Wie oft habe ich im Gespräch die intensiven Bemühungen, zwölf Minuten Geschirrspülen zu vermeiden, zu meiner ureigenen puristischen Ästhetik erhoben! Bis ich jemanden kennengelernt und beschlossen habe, die Person dauerhaft in meine Küche und mein Leben zu lassen. Die Facts: Koriander – yes; Nutella und Fleisch vom Biobauern – no, weil er vegan lebt. Anders als für viele Comedians ist Veganismus für mich nämlich kein Dealbreaker. Im Gegenteil: Wenn es mir gerade gut in den Kram passt, behaupte ich sogar selbst, Veganer zu sein. Was eine viel größere Befremdung in mir auslöste: seine Freude am gemeinsamen Kochen.
Was gibt es Neues?
Wenn du jemanden etwas näher an dich ranlässt, findest du den gemeinsamen Nenner am leichtesten beim Frühstück. Einfach beobachten, welche Aufstriche und Brotbeläge dein Gegenüber gerne isst, und sie dann nachkaufen, bis du sie irgendwann selber magst. Zusammen kochen jagt mir jedoch seit jeher einen Schauer über den Rücken. Ein Horrorszenario kommt in mir hoch: An einem Freitagabend pantsche ich mit einem Partner, den ich aufgrund unserer gemeinsamen Labradormischung »Vati« nenne, diverse »Hello Fresh«-Kochboxen zusammen, während im Hintergrund ein Fernsehsender läuft, der nur Wiederholungen von »Was gibt es Neues?« zeigt.
Niemals wollte ich so ein Leben führen! Doch nun stand ich plötzlich im Gourmet Spar und klebte Minus-25-Prozent-Sticker auf die Zutaten für vegane Sommerrollen. »Haben wir noch Tofu? Oh, die Schalotten sind aber nicht aus Österreich! Wie ist das noch mal, magst du eigentlich Koriander oder nicht?« Schon meinte ich, aus dem Lautsprecher die Stimme von Oliver Baier zu vernehmen.
Jede Beziehung steht und fällt mit der Kommunikation. Das weiß ich als Sexkolumnist natürlich. Doch es ist oft leichter geschrieben als getan. Zu Hause ließ ich die Einkaufstaschen auf die Anrichte fallen und schlug einen ernsthaften Ton an. »Du, es läuft eigentlich ganz gut zwischen uns, aber mit so Dingen wie gemeinsam vegane Sommerrollen zubereiten habe ich ein Riesenproblem!« Ich beendete den Satz viel lauter, als ich ihn begonnen hatte, und erschrak vor meinen eigenen Emotionen.
Ich sah meinem neuen Freund seine Verwirrung an. Er sagte: »Du hast doch selbst vorgeschlagen, mal diese veganen Sommerrollen auszuprobieren. Das sind ziemlich gemischte Signale, Josef.« »Das ist nicht der Punkt!«, erwiderte ich etwas zu energisch, während ich eine meiner schwer zu bändigenden Locken wegpustete, die sich auf meine Stirn verirrt hatte. »Weißt du eigentlich, dass unter meinem Bett eine Packung vertrocknete Landjäger liegt, an der ich immer lutsche, wenn du schon eingeschlafen bist?« Doch mein neuer Freund legte nur den Arm um mich. »Na und? Solange du dir die Zähne putzt!« Dann küsste er mich. Wenig später verteilten wir Glasnudeln gleichmäßig auf feuchtem Reispapier. Die Unterschiede schienen gar nicht mehr so groß. Wesentlich ist ohnehin, was zwischen Topf und Deckel passiert. joechl@thegap.at • @knosef4lyfe
Josef Jöchl ist Comedian. Sein neues Programm heißt »Erinnerungen haben keine Häuser« und feiert am 24. September im Kabarett Niedermair Premiere. Alle Infos auf www.knosef.at.