Spielzeit 2024/25
1. Philharmonisches Konzert
Werke von Sebastian Hilli & Anton Bruckner
„Wenn Sie wirklich zuhören, dann geschieht dabei ein Wunder. Das Wunder besteht darin, dass Sie ganz bei dem sind, was gesagt wird, und gleichzeitig ihren eigenen Reaktionen lauschen.“
Jiddu Krishnamurti
1. Philharmonisches Konzert
Sebastian Hilli (*1990)
„Miracle“ für Orchester (Deutsche Erstaufführung)
Pause
Anton Bruckner (1824-1896)
zum 200. Geburtstag des Komponisten am 4. September
Sinfonie Nr. 7 E-Dur
1. Allegro moderato
2. Adagio. Sehr feierlich und sehr langsam
3. Scherzo. Sehr schnell – Trio. Etwas langsamer
4. Finale. Bewegt, doch nicht schnell
Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: GMD Florian Csizmadia
Öffentliche Generalprobe
Mo 02.09.2024, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Konzerte
Di 03.09.2024, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Mi 04. & Do 05.09.2024, Stralsund: Großes Haus
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„Im Sommer 2019 ereilte mich die Idee von etwas Großem, Unerwartetem, Wunderbarem – die Idee zu ‚Miracle‘.“
Sebastian Hilli
Sebastian Hilli: „Miracle“
Als Sebastian Hilli sich anschickt, ein musikalisches Wunder zu komponieren, scheint die Welt noch halbwegs in Ordnung. Der damals 29-jährige, in Helsinki geborene Komponist hatte das Studium an der Sibelius-Akademie seiner Geburtsstadt und an der Universität für Musik und darstellende Kunst 2016 abgeschlossen und arbeitet seitdem erfolgreich als freischaffender Komponist. Zahlreiche Auszeichnungen wie der Tōru-Takemitsu-Kompositions-Preis (2015) und der Teosto-Preis (2019) –einer der renommiertesten Kunstpreise in Skandinavien – machen Hilli schnell international bekannt. Seine Werke werden auf dem Musica-nova-Festival in Helsinki ebenso gespielt wie beim Luzerner Klavierfestival oder der Gaudeamus Muziekweek in Utrecht, wo er überdies mit dem Gaudeamus-Award ausgezeichnet wurde. Seine Orchesterkompositionen werden von namhaften Klangkörpern wie dem Tokyo Philharmonic Orchestra, dem Helsinki Philharmonic Orchestra, dem Finnish Radio Symphony Orchestra, dem BBC National Orchestra of Wales oder dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra aufgeführt.
Die sommerliche Idee zu seinem musikalischen Wunder aus dem Jahr 2019 reift. Im Frühjahr 2020 beginnt Hilli mit
der Niederschrift seiner Gedanken. Doch in diesem Moment verändert die Pandemie die ganze Welt – und macht auch nicht vor Finnland, nicht vor Hillis Familie Halt.
„Gefangen von Trauer, Sehnsucht und Trauma einerseits und dem Gefühl großer Liebe, die gleichermaßen Stärke, Ausstrahlung und Willenskraft verleiht, andererseits, schrieb ich nun ‚Miracle‘“, schildert der Komponist seine Gefühlslage, die sowohl Auslöser als auch Aufgabe seiner Komposition darstellt, „etwas, das sich dem Trauma entgegenstellt: ein nicht greifbares Wunder, das mit einem Mal wieder Heilung, Freude, Dankbarkeit und Zukunftsglauben ermöglicht“.
Die Fragilität, mit der sich die Welt auf einmal dem Komponisten enthüllt, lässt ihn das Szenario der unerwarteten Katastrophe programmatisch bildreich in Wort und Ton ausdrücken.
„Das Stück beginnt mit einer Vorahnung, einem Gefühl, dass etwas passieren wird. Alles scheint so unschuldig und schön, aber etwas Furchtbares versucht, an die Oberfläche zu dringen. Das stetige Ticken der Streicher spiegelt die Zeit, eine Vorahnung und das bedrückende Gefühl, unaufhaltsam auf etwas zuzugehen, etwas Unbekanntes, das sich nicht aufhalten lässt. Die schnellen Einwürfe einzelner Instrumente und Instrumentengruppen gleichen Tieren, die intuitiv die Gefahr spüren und fliehen.
Dann erfolgt ‚der Schock‘ – etwas Unerwartetes, Traumatisches und Erschütterndes, das einen Graben aufreißt und deine ganze Welt bis zur Gefühllosigkeit erschüttert. Dem Gefühl von Trauer, Leere und Schmerz folgen der Nachhall und die Verarbeitung des Traumas, eine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und nach Liebe.
Liebe führt zu Hoffnung, und Trauer wandelt sich allmählich in Heilung. Die Genesung bringt Dankbarkeit, Lebensfreude und eine neue Zukunftsperspektive mit sich, die Sehnsucht, wieder Glück erleben zu können.
Die Stärkung führt schließlich zu Euphorie. Ein Gefühl von etwas Größerem, etwas Wunderbarem, Unkontrollierbarem und Unerklärlichem.
Die Freude und das Feiern des Lebens, der Tanz und der Aufstieg. Das Stück endet mit der Suche nach Frieden. In der Akzeptanz, dass sich etwas dauerhaft verändert hat, und die Spur davon folgt. Die majestätischen Akkorde spiegeln Stärke und Ohnmacht gegenüber etwas Größerem wider, das gleiche Gefühl, als stünde man am Rande einer Klippe. Der Bläserchoral am Ende spiegelt die Verbindung zur Vergangenheit und die Erinnerung wider, die nie verblasst – die Erinnerung an die Liebe.“
Beinahe zu konkret mutet diese Deutung des Komponisten selbst an. Bleibt da noch Raum für eigene Eindrücke? Er bleibt!
Hillis Komposition besticht durch einen ständigen und überraschenden Wechsel von ausgesprochen konkreten Bildern und atmosphärischer Klangmalerei. Überraschend sind auch stilistische Wandel, ja Brüche, bei denen filmmusikalische Elemente völlig selbstverständlich in romantische Choräle und popmusikalische Passagen übergehen – ein vollkommen angstfreier Umgang mit Genregrenzen – auch dies ein kleines musikalisches Wunder.
2020 fertiggestellt, konnte „Miracle“ zunächst – pandemiebedingt – nur in verkleinerter Besetzung am 28. Mai 2021 im Live-Stream ohne Saalpublikum in Helsinki uraufgeführt werden. Die Uraufführung der Komposition in ihrer eigentlichen Gestalt fand am 1. Februar 2023 im Konserthuset Stockholm statt. Im Rahmen des 1. Philharmonischen Konzertes am Theater Vorpommern erfolgt die deutsche Erstaufführung.
„Solange irgendein Wesen existieren wird, solange wird auch Musik bestehen, solange wird sie auch Wunder wirken.“
Robert Musil
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7
Über dem Flimmern der Geigen, das aus dem Nichts zu den Zuhörenden dringt, erhebt sich eine zutiefst romantische Kantilene – zunächst von den Celli und einem Horn intoniert, bevor sie auf Bratschen und Klarinetten übergreift – eine „unendliche Melodie“, inspiriert von Wagner, aber doch ureigenste Brucknersche Klangsprache. Hier lässt Bruckner seinen Gedanken freien Lauf und wird gehört und gefeiert – zum ersten Mal in seiner sinfonischen Laufbahn. Dies ist sein Durchbruch, der große Erfolg, der ihm nach und nach auch eine internationale Reputation verschaffen soll. Doch der Weg dahin war weit. Der Komponist ist jetzt 60 Jahre alt.
Am 4. September 1824 wird Anton Bruckner im oberösterreichischen Ansfelden geboren. Das erste Drittel seines Lebens sollte er in der österreichischen Provinz verleben, geprägt von strengem Katholizismus, ländlichem Dialekt und seit frühester Kindheit von Orgelmusik umgeben. Mit 13 Jahren als Sängerknabe im nahegelegenen Augustinerstift St. Florian angenommen, avanciert er im folgenden Jahrzehnt zum Stiftsorganisten, wechselt 1855 als Domorganist nach Linz und tritt schließlich 1868 seine Stelle als Hoforganist und Professor für Kontrapunkt in Wien an.
Bruckners Fähigkeiten als glänzender Organist und Musiktheoretiker werden allgemein geschätzt, auch treffen seine Kompositionen – vorwiegend geistliche Chor- und Orgelmusik – auf positiven Widerhall, aber die Anerkennung als Sinfoniker lässt auf sich warten. Zwar finden die ersten beiden Sinfonien eine gewisse Akzeptanz seitens des Publikums und Gnade vor der spitzen Feder des akkreditierten Kritikers Eduard Hanslick, doch spätestens bei der Uraufführung der 3. Sinfonie fällt Bruckners Sinfonik bei Kritik und Publikum in Ungnade. Zu eigen scheint der Weg, den Bruckner mit seiner Musik einschlägt, zu kantig, vor allem aber zu „neutönerisch“ und damit zu „wagnerianisch“. Bruckner bekennt sich offen zu seiner Wagnerverehrung, die bisweilen geradezu religiöse Züge annimmt. Und seine Kompositionen werden hörbar vom Geist des „Meisters“ beeinflusst, sind aber zu keinem Zeitpunkt epigonal. Jedoch scheint Bruckners Musik bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein von so systemsprengerischer Kraft zu sein, dass man ihn lieber als „Neutöner“ in der Nachfolge Wagners wahrnimmt, denn als singuläre Erscheinung.
Es ist der Musikwissenschaftler Rudolf Louis, der 1904 ausspricht, was mittlerweile zum Konsens geworden ist: „Ich weiß nicht, wie spätere Musikhistoriker einmal mit der schwierigen und undankbaren Aufgabe sich abfinden werden, einen Mann wie Bruckner in den Entwicklungslauf der Musik des 19. Jahrhunderts einzuordnen. Jedenfalls ist soviel sicher, dass seine Erscheinung durchaus isoliert dasteht, fremd und beziehungslos in einer durchaus heterogenen Umgebung.“
Bis dato aber ordnet man – insbesondere die machtvollen Rezensenten Wiens – Bruckners Musik, ihre ungewohnte Klangsprache und Architektur im musikalischen Glaubenskrieg, der in Wien zwischen den Anhängern der „klassischen Schule“ und den „Neutönern“ herrscht, klar der avantgardistischen Seite zu, als deren Hauptvertreter Richard Wagner gesehen wird. Demgegenüber wird der zu dieser Zeit ebenfalls in Wien lebende Johannes Brahms als herausragender Vertreter der „klassischen Schule“ von der Kritik gefeiert, während alles „Wagnerianische“ von denselben Rezensenten bissig, eloquent und durchaus unterhaltsam vernichtet wird. Ja, es geht hier tatsächlich mehr um die Kritik als um die Musik, denn weder Brahms noch Wagner tragen diesen Krieg wirklich selbst aus, er findet nicht im Konzert-
saal statt, sondern in der Presse, angeführt von namhaften Rezensenten wie Eduard Hanslick, Max Kalbeck oder Richard Heuberger. Anton Bruckner, ein eigenbrötlerischer Mensch mit hörbar ländlichem Akzent und wesentlich größerer Eloquenz im musikalischen als im sprachlichen Ausdruck, wird so schnell zur Zielscheibe kritischen Spotts.
Verunsichert durch die ablehnenden Reaktionen auf seine Orchesterwerke, gibt Bruckner immer öfter allzu schnell vermeintlichen Verbesserungsvorschlägen von Freunden nach. Er revidiert oder schreibt neue Fassungen, was den Eindruck der Uneinheitlichkeit seiner Sinfonien bisweilen noch verstärkt.
Doch er gibt nicht auf. Ein bemerkenswerter Umstand angesichts der Tatsache, dass das anfängliche Wohlwollen der Wiener Kritik mittlerweile in klare Ablehnung umgeschlagen ist und jede neue Sinfonie nur weiteren Rezensentenspott nach sich zieht. Doch Beharrlichkeit ist wohl eine der größten Stärken Bruckners.
Es mag Bruckners tief verwurzelter Frömmigkeit zu verdanken sein, dass er trotz der zahlreichen Rückschläge sein Ziel weiterverfolgt, viel mehr Gott als der Menschheit verpflichtet:
„Sie wollen, dass ich anders schreibe. Natürlich könnte ich das, aber ich darf nicht. Gott hat mich aus Tausenden erwählt und mir ausgerechnet dieses Talent gegeben. Ihm gegenüber muss ich Rechenschaft ablegen. Wie würde ich denn vor dem allmächtigen Gott stehen, wenn ich anderen folgte und nicht Ihm?“
Und so setzt er seinen eigenen Weg unablässig fort. Nur zwanzig Tage nach Fertigstellung der sechsten Sinfonie beginnt Bruckner am 23. September 1881 mit der Arbeit an seiner Siebten. In ihr entwickelt er fort, was er in den sinfonischen Werken zuvor angelegt hatte, und doch unterscheidet sich diese Komposition von ihren Vorgängern in einem maßgeblichen Punkt: Sie scheint mehr als alle vorangegangenen aus „einem Guss“ zu sein, und tatsächlich existiert sie – abgesehen von einigen Retuschen – nur in einer einzigen Fassung.
Der Eingangssatz besticht zunächst durch die Ausgewogenheit von Form und Inhalt. Die tief durchdachte Architektur, die Bruckners Sinfonien innewohnt, stellt auch in der Siebten das Grundgerüst dar. Eine ausgedehnte Sonatensatzanlage sowie raffinierte kontrapunktische Momente bestimmen die Außen- und Innenarchitektur dieses musikalischen Gebäudes, das bei Bruckner immer einer Kathedrale gleicht, denn letztendlich komponierte er all seine Musik zur Ehre Gottes. Organisch fügen sich in diese „Kathedrale“ auch immer wieder „Orgelmomente“ ein; sei es in Form von choralen Passagen oder in Form der für Bruckners Kompositionen so typischen Pausen, die an Registerwechsel bedingte Unterbrechungen beim Orgelspiel erinnern.
Doch überwiegt hier eindeutig das sinfonische Moment und verbindet alles allzu Schroffe mit einer zutiefst romantischen „unendlichen Melodie“ (das erste Thema umspannt ganze 21 Takte), die nicht zufällig an Wagner gemahnt. Der Beginn dieses Themas, ein aufsteigender E-Dur-Dreiklang, wird für das ganze Werk prägend und schlägt den Bogen bis zum Ende des Finales, das in eben jenem E-Dur endet. Aus ihm entspinnt sich die Melodie, die den großen Bogen über die zum Teil kleinteilige Architektur Bruckners zu spannen versteht. Und das mag ein Geheimnis
des Erfolges dieser Sinfonie sein, denn hier verschmelzen die logische, kohärente Konstruktion einer BrucknerKathedrale auf die Leidenschaft eines Wagnerschen Musikdramas. Dadurch wird aus der bei Bruckner oft kritisierten motivischen Kleinteiligkeit weit mehr als in den Vorgängerwerken eine Einheit, ohne dass die typisch Bruckner’schen Elemente wie große Steigerungswellen, Spiegelungen, Kontrapunkt, ja die Architektur der Sinfonie dafür geopfert würde. Im Gegenteil, sie bildet nach wie vor die Basis, auf der sich nun ein zutiefst romantisches Geschehen abspielt, das Rezensenten zu den poetischsten Formulierungen hinriss, bei denen die „strahlend aufgehende Sonne“ (Walter Abendroth) geradezu prosaisch anmutet gegenüber der „schöpferischen Ausbreitung der Klangatmosphäre, die das Werdewunder der tiefen Streichermelodie zitternd, stimmungsheiß umhüllt“ (Ernst Kurth). Und doch ist dies alles nur blumiger Ausdruck der Tatsache, dass es Bruckner schon in diesem ausgedehnten ersten Satz gelingt, jegliche Analyse vergessen zu machen, weil die Musik eine Sogwirkung entfaltet, die jeden Zuhörenden zum andächtig Lauschenden macht.
Wiewohl keine Komposition Bruckners ihren christlichen Hintergrund verhehlt, ist die siebte Sinfonie noch zusätzlich von einer weiteren „Religion“ geprägt.
Vor allem der zweite Satz, Adagio, ist eine musikalische Verneigung vor Richard Wagner, seiner Musik und seinem nahezu ekstatischen Erlösungsmythos, der hier klar hörbar wird. Des Weiteren führt Bruckner hier formal fort, was er bereits in der 6. Sinfonie angelegt hatte: die Aufwertung des langsamen Satzes zum zentralen Angelpunkt der gesamten Sinfonie. Es mag kaum verwundern, dass sich ob der offensichtlichen Nähe dieses Satzes zu Wagners Musiksprache unmittelbar zahlreiche Legenden persönlicher Art um die Entstehung dieses Adagios ranken. Tatsächlich war Wagner bei der letzten Begegnung mit Bruckner im Rahmen der Uraufführung des „Parsifal“ im Juli 1882 schon von schwerer Krankheit gezeichnet. Als Bruckner die Nachricht von Wagners Tod erhält, ergänzt er das Adagio in der Instrumentation um vier Wagnertuben – eine Verneigung vor dem bewunderten Komponisten – die gleich zu Beginn des Satzes das Thema vorstellen. Auch will die Legende wissen, dass Bruckner eine zweite Coda am Ende des Satzes bezeichnenderweise beim Studierzeichen „X“ beginnen lässt, das, als Kreuz gedeutet, geradezu schicksalhaften Gehalt erlangt. Den Charakter eines Epitaphs unterstreicht überdies die Tatsache, dass Bruckner thematisch eine Passage seines zeitgleich entstandenen „Te Deum“ in das Adagio einbringt, die im Hymnus mit
der Textzeile „non confundar in aeternum“ („auf dass ich nicht zu Schanden werde in Ewigkeit“) unterlegt ist. Der Satz endet mit dem Wiederaufgreifen des Anfangsthemas, dessen Schluss aber nun in Cis-Dur ausklingt und so zu einer Art „Erlösungsmotiv“ wird. Auch hier liegt ein Vergleich zu den musikalischen Erlösungsmomenten, wie sie in Wagners „Götterdämmerung“, „Tristan und Isolde“ und nicht zuletzt im „Parsifal“ zu erleben sind, vergleichbar. Um den Kulminationspunkt dieses Satzes drehte sich längere Zeit ein musikwissenschaftlicher Diskurs. Ein nachträglich in die handschriftliche Partitur eingefügter Papierstreifen sieht hier den Einsatz von Pauke, Becken und Triangel vor. Ob diese Ergänzung letztgültig ist, kann weder final be- noch widerlegt werden, jedoch neigt die Forschung dazu, diesen großen Effekt als von Bruckner gewollt anzusehen.
Nach den ausgedehnten ersten Sätzen schließt sich ein vergleichsweise kurzes Scherzo an, ein typisches BrucknerScherzo: Unter einem Fanfarenmotiv, das durch seine Punktierung spielerischer wirken soll, klingt ein erregter Streicherpuls und wird zum Ausgangspunkt großer Klangentwicklungen. Bildgewaltig, ja geradezu filmmusikalisch ist dieser Satz allemal, sodass es unterschiedliche programmatische Deutungsversuche des Trompetenmo-
tives gibt. Vom Hahnenschrei bis hin zum Signalhorn der Feuerwehr, und somit als Verweis auf eine 1881 miterlebte Brandkatastrophe in Wien, ist alles dabei. So weit hergeholt die Bilder auch sein mögen, unterstreichen sie doch, dass die Leichtigkeit dieses Satzes eine vermeintliche ist, dass sich der ländliche Hahnenschrei allzu leicht als „roter Hahn“ entpuppt und der Streicherpuls schnell von „morgendlich aufgeregt“ zu „dämonisch“ kippt. Erst im Trio kehrt Ruhe ein. Nach ein paar gewagten harmonischen Eskapaden kehrt der Scherzogedanke zurück, sodass die Symmetrie des Satzes vollendet ist.
Der anschließende 4. Satz ist eines der kürzesten Bruckner-Finali überhaupt. Als Ausgangspunkt greift der Komponist auf den Anfang der Sinfonie zurück und wählt ein Thema, das dem des ersten Satzes verwandt ist, allerdings nun in einer übermütigen Gestalt daherkommt. Ihm zur Seite stellt Bruckner ein zweites, choralartiges und ein drittes, scharf punktiertes Thema. Doch sind dies zwei Nebengedanken. Der Grundgedanke dominiert den Satz (sowie die Sinfonie) und führt ihn schließlich in strahlendem E-Dur dem Ende entgegen.
Zwei Jahre hat Bruckner an der Fertigstellung der Siebten gearbeitet. Nun gilt es, sie zur Aufführung zu bringen. Nachdem dieses Unterfangen bei den vorangegangenen beiden Sinfonien gescheitert war, wird diesmal ein neuer Weg eingeschlagen: Josef Schalk, ein Schüler Bruckners, kann den Dirigenten Arthur Nikisch, der zu der Zeit Kapellmeister in Leipzig ist, für das Werk begeistern, sodass die Uraufführung diesmal nicht in Wien, sondern am 30. Dezember 1884 im Leipziger Neuen Theater mit dem Gewandhausorchester unter der Leitung von Arthur Nikisch stattfindet. In Leipzig tobt weder Wiener Kritikerkrieg noch gibt es Vorbehalte gegen „Neutöner“. Im Gegenteil: Das Leipziger Publikum ist Neuem gegenüber recht aufgeschlossen, sodass die
Zuhörer*innen, die in einer Einführung von Nikisch selbst auf das Werk vorbereitet worden waren, die Sinfonie begeistert aufnehmen. Auch die Kritik äußert sich positiv. So schreibt Bernhard Vogel in den „Leipziger Nachrichten“ am Tag nach der Uraufführung: „Bruckner stellt vor uns Tonbilder hin, in denen die Glut der Farbe mit dem fortreißenden Feuer der Einbildungskraft wetteifert und so den Hörer von Anfang bis Ende wie mit unsichtbaren Ketten festhält.“
Es folgen weitere Aufführungen in München, Köln, Hamburg, Graz, Wien, Amsterdam, wenig später sogar in New York, Chicago und Boston. Und Wien? „Ich protestiere gegen die Aufführung meiner 7. Sinfonie, da dieß [sic!] in Wien wegen Hanslick et Consorten keinen Zweck hat … Ich sage Herrn Richter [Hans Richter, Dirigent der Wiener Philharmoniker], wenn er einmal eine Sinfonie aufführen will, so soll er eine von denen nehmen, die Hanslick ohnehin schon ruiniert hat; die kann er noch mehr zu Grunde richten.“
Am Ende willigt Bruckner doch noch ein, und so kommt es schließlich 1886 zur ersten Wiener Aufführung. Beinahe erwartungsgemäß bezeichnet Eduard Hanslick das Werk als „sinfonische Riesenschlange“. Max Kalbeck hält die Sinfonie für eine „theils anlockende, theils abstoßende musikalische Stegreifkomödie mit gegebenen Typen … ein in bunten Farben gemaltes Bild nach Motiven von Beethoven und Wagner“. In Wien bleibt also alles beim Alten. Gut, dass die Sinfonie ihren weltweiten Siegeszug längst angetreten hat. Und doch ist „Siegeszug“ die falsche Bezeichnung, denn diese Sinfonie erobert die Zuhörer*innen nicht im Sturm, vielmehr ist es eine Musik, die Selbstaufgabe verlangt, ja vielleicht sogar Andacht, dann aber ihr ureigenstes Wunder offenbart.
„Wunder erleben nur diejenigen, die an Wunder glauben.“
Erich Kästner
Vorschau
2. Philharmonisches Konzert
„Musik ist der vollkommenste Typus der Kunst: Sie kann ihr letztes Geheimnis nie enthüllen.“
Oscar Wilde
Felix Mendelssohn Bartholdy
„Meeresstille und Glückliche Fahrt“, Konzertouvertüre op. 27
Charles Villiers Stanford
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 c-Moll op. 126 zum 100. Todestag des Komponisten
Edward Elgar
Variationen über ein Originalthema op. 36, „Enigma-Variationen“
Solist: Finghin Collins, Klavier Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: GMD Florian Csizmadia
Öffentliche Generalprobe
Mo 07.10.2024, 19.00 Uhr Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal Konzerte
Di 08.10.2024, 19.30 Uhr Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Mi 09. & Do 10.10.2024, 19.30 Uhr Stralsund: Großes Haus
www.theater-vorpommern.de
Textnachweise:
Bei den Texten handelt es sich – sofern nicht anders vermerkt – um Originalbeiträge von Katja Pfeifer für dieses Heft.
Bildnachweise:
Das Coverfoto und die Fotos auf den Seiten 8/9, sowie 17 stammen von Peter van Heesen. Sebastian Hilli wurde von Otto Virtanen (www.ottovirtanen.com) fotografiert. Bei allen weiteren Bildern handelt es sich um gemeinfreie Aufnahmen der Plattformen Pxhere, Wikipedia und Pixabay.
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
„Mysterien sind wie Wunder und Wunder sind die Grundlage für den Wunsch des Menschen zu verstehen.“
Neil Armstrong
Theater Vorpommern
Stralsund – Greifswald – Putbus www.theater-vorpommern.de