Spielzeit 2024/25
2. Philharmonisches Konzert
Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Charles Villiers Stanford und Edward Elgar
„Das ist ja das Geheimnis der Musik, dass sie nur unsere Seele fordert, die aber ganz.“
Hermann Hesse
2. Philharmonisches Konzert
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)
„Meeresstille und Glückliche Fahrt“, Konzertouvertüre op. 27
Meeresstille. Adagio
Glückliche Fahrt. Molto allegro e vivace – Allegro maestoso
Charles Villiers Stanford (1852-1924)
Zum 100. Todestag des Komponisten
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 c-Moll op. 126
1. Allegro moderato
2. Adagio molto
3. Allegro molto
Pause
Edward Elgar (1857-1934)
Variationen über ein Originalthema op. 36, „Enigma-Variationen“
Thema (Enigma) Andante
Variation I (C.A.E.) L’istesso tempo
Variation II (H.D.S.-P.) Allegro
Variation III (R.B.T.) Allegretto
Variation IV (W.M.B.) Allegro di molto
Variation V (R.P.A.) Moderato
Variation VI (Ysobel) Andantino
Variation VII (Troyte) Presto
Variation VIII (W.N.) Allegretto
Variation IX (Nimrod) Adagio
Variation X Intermezzo (Dorabella) Allegretto
Variation XI (G.R.S.) Allegro di molto
Variation XII (B.G.N.) Andante
Variation XIII Romanza (***) Moderato
Variation XIV Finale (E.D.U.) Allegro – Presto
Solist: Finghin Collins, Klavier
Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: GMD Florian Csizmadia
Öffentliche Generalprobe
Mo 07.10.2024, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Konzerte
Di 08.10.2024, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Mi 09. & Do 10.10.2024, Stralsund: Großes Haus
Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.
Finghin Collins
Finghin Collins gilt als einer der renommiertesten Musiker Irlands. Er studierte an der Royal Irish Academy of Music bei John OʼConor sowie am Conservatoire de Musique Genf bei Dominique Merlet. Seit dem Gewinn des 1. Preises des Clara-Haskil-Klavierwettbewerbs 1999 führten ihn Konzerte durch ganz Europa, in die Vereinigten Staaten, in den Fernen Osten und nach Australien. So trat er als Solist mit renommierten Orchestern auf wie dem Chicago Symphony Orchestra, dem Seoul Philharmonic Orchestra, dem London Philharmonic Orchestra, dem BBC Symphony Orchestra, dem Royal Philharmonic Orchestra, der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, dem SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, dem Kölner Rundfunkorchester u. a. Er arbeitete dabei mit Dirigenten wie Frans Brüggen, Myung-Whun Chung, Christoph Eschenbach, Hans Graf, Hannu Lintu, Gianandrea Noseda, Sakari Oramo, Vassily Sinaisky, Leonard Slatkin und Gábor Tákacs-Nagy zusammen. Als „Associate Artist“ des RTÉ National Symphony Orchestra Irland führte er von 2010 bis 2013 u. a. alle Klavierkonzerte von Mozart und Beethoven auf. Von ihm liegen zahlreiche CD-Aufnahmen vor, die u. a. mit dem „Diapason“ und der „Editorʼs Choice“ des Gramophone Magazine ausge-
zeichnet wurden. Finghin Collins ist seit 2006 künstlerischer Leiter des New Ross Piano Festivals und wurde 2013 zum Artistic Director der Konzertreihe „Music for Galway“ ernannt. 2017 verlieh ihm die National University of Ireland die Ehrendoktorwürde. Seit 2021 ist Finghin Collins regelmäßig Mitglied in der Jury des Clara-Haskil-Wettbewerbs in der Schweiz. Im März 2023 wurde er zum künstlerischen Leiter des internationalen Klavierwettbewerbs in Dublin ernannt. Am Theater Vorpommern war Finghin Collins zuletzt 2022 mit dem Klavierkonzert von Edvard Grieg zu erleben.
Meeres Stille
Tiefe Stille herrscht im Wasser, Ohne Regung ruht das Meer, Und bekümmert sieht der Schiffer
Glatte Fläche rings umher.
Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich!
In der ungeheuren Weite Reget keine Welle sich.
Johann Wolfgang von Goethe
Von den Fährnissen der Flaute
„… Links lag Capri, steil in die Höhe strebend; die Formen seiner Felswände konnten wir durch den durchsichtigen bläulichen Dunst vollkommen unterscheiden. Unter einem ganz reinen, wolkenlosen Himmel glänzte das ruhige, kaum bewegte Meer, das bei einer völligen Windstille endlich wie ein klarer Teich vor uns lag. … Über diese uns so willkommenen Szenen hatten wir unbemerkt gelassen, daß uns ein großes Unheil bedrohe.“
Am 14. Mai 1787 bricht eine Reisegruppe in einem Boot von Sizilien auf in Richtung Capri. Die Passagiere, unter ihnen Johann Wolfgang von Goethe, sehen erwartungsvoll den Naturschönheiten der berühmten Blauen Grotte entgegen. Doch zunächst erwarten sie die bizarren, steil aufragenden Felsformationen der Faraglioni, die der Insel vorgelagert sind. Bei schönstem Wetter und völliger Windstille treibt das Schiff immer näher an die gefährlichen Felsen heran. „Wir befinden uns“, sagten Steuermann und Kapitän einhellig, „schon in der Strömung, die sich um die Insel bewegt und durch einen sonderbaren Wellenschlag so langsam als unwiderstehlich nach dem schroffen Felsen hinzieht, wo uns auch nicht ein Fußbreit Vorsprung oder Bucht zur Rettung gegeben ist.“ Goethe wird diese
trügerisch ruhigen See in seinem 1795 veröffentlichten Gedicht als „Todesstille“ beschreiben, deren unheimliche Ahnung sich erst im Folgegedicht „Glückliche Fahrt“ durch das Auffrischen des Windes in den ersehnten Vortrieb und somit das glückliche Umschiffen der gefährlichen Klippen auflöst.
Bereits Goethe betrachtete die beiden Gedichte „Meeres Stille“ und „Glückliche Fahrt“ als gedankliche Einheit. Die dem Text innewohnende Musikalität inspirierte Komponisten wie Franz Schubert oder Johann Friedrich Reichardt zu gleichnamigen Liedkompositionen, während Ludwig van Beethoven 1822 das Gedichtpaar als Textgrundlage für seine gleichnamige Kantate wählte.
Als Mendelssohn sich dem Stoff widmet, schwebt ihm eine rein orchestrale Umsetzung ganz ohne Text vor, ein farbenreiches Stimmungsbild, für das er seine übliche Orchesterbesetzung um mehrere Blasinstrumente erweitert. 1828 wurde die erste Fassung der Konzertouvertüre im privaten Kreis aufgeführt. Doch erst 1832 wurde sie in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert. Vor der Veröffentlichung des Werkes überarbeitete Mendelssohn die Partitur noch einmal, sodass sie in ihrer letztgültigen Form 1834 verlegt wurde.
In diesem Zuge ließ Mendelssohn die „Meeresstille und Glückliche Fahrt“ gemeinsam mit zwei weiteren Konzertouvertüren, nämlich der zum „Sommernachtstraum“ und der „Hebriden“-Ouvertüre herausgeben. Als triadische Einheit verstanden, etablierte Mendelssohn so nicht zuletzt die Konzertouvertüre als eigenständiges Genre.
Im Adagio evoziert Mendelssohn die bewegungslose Weite des Meeres. Ausgesucht langsam kreist die Musik um die Tonika D-Dur – ein friedlicher Eindruck, der jedoch, ganz dem romantischen Gedanken verpflichtet, die Möglichkeit der Katastrophe in sich birgt. Während Goethe in seinem Gedicht die Manövrierunfähigkeit des Schiffes als Gefahrenquelle benannt hatte, ist es bei Mendelssohn das Meer selbst, von den Streichern bis in die tiefsten Resonanzen ausgelotet, dem sich der Mensch winzig und staunend gegenübersieht.
Hier hat ein 19-Jähriger, der zu diesem Zeitpunkt selbst noch nie das Meer befahren hatte, wortlos und auf die Grundtonart D-Dur konzentriert ein Klangbild entworfen, das zeitgleich Ruhe, Weite und Abgrund schildert und sich in aufreizender Langsamkeit nach der Erlösung streckt, die in Form einer frischen Brise, durch die Flöte verkörpert, schließlich das Meer kräuselt.
Ein groß angelegtes Crescendo bezieht das gesamte Orchester mit ein und leitet über zur glücklichen Fahrt in Richtung rettenden Hafen, der das Schiff schließlich wortwörtlich mit Pauken und Trompeten empfängt. Hier geht Mendelssohn über die Goethe-Erzählung hinaus, indem er sein Schiff gedanklich dem Ziel deutlich näherkommen und die Konzertouvertüre in ausgelassenen Jubel münden lässt.
Und doch ist es ein letzter Blick zurück auf das Meer, der die Ouvertüre nach all der Ausgelassenheit in den letzten Takten zur Stille des Beginns zurückleitet. Dieses Mal ist man den Fährnissen der Flaute noch glücklich entkommen …
Glückliche Fahrt
Die Nebel zerreißen, Der Himmel ist helle, Und Äolus löset
Das ängstliche Band. Es säuseln die Winde, Es rührt sich der Schiffer. Geschwinde! Geschwinde!
Es teilt sich die Welle, Es naht sich die Ferne; Schon sehʼ ich das Land!
Johann Wolfgang von Goethe
Das vergessene Juwel
„Ich nehme an, ich bin mehr oder weniger veraltet. Ich sehe, wie all die jungen Leute Sachen machen, mit denen ich meinen Stift und mein Papier nicht beschmutzen würde, aber mein Stift und mein Papier scheinen für die Verleger inakzeptabel zu sein und müssen Stift und Papier bleiben!“
Charles Villiers Stanford an Robert McEwen, 25. 12. 1923
Charles Villiers Stanford war eine der zentralen Gestalten des englischen Musiklebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und teilte das Schicksal mancher Generationsgenossen, die bereits zu Lebzeiten in die zweite Reihe relegiert und nach ihrem Tod vergessen wurden. Gebürtiger Ire, aber in England beheimatet, hinterließ er das wahrscheinlich umfangreichste und vielseitigste Gesamtwerk eines englischen Komponisten seiner Zeit: sieben Sinfonien und weitere Orchesterwerke, 15 konzertante Stücke, Chorsinfonik, Kirchen-, Kammer-, Klavier- und Orgelmusik, Lieder und zehn abendfüllende Opern. Als Komponist ausgebildet bei Carl Reinecke in Leipzig und Friedrich Kiel in Berlin, war er ab den 1880er Jahren bis zu seinem Tod 1924 selbst als Professor für Komposition tätig, und
zwar parallel am Londoner Royal College of Music und an der Universität Cambridge. Zahlreiche später namhafte Komponisten zählten zu seinen Schülern, darunter u. a. Ralph Vaughan Williams. Dazu kamen eine musikschriftstellerische Tätigkeit und ein langjähriges Wirken als Dirigent und KonzertOrganisator; in letztgenannter Funktion stand er in Briefkontakt mit den bedeutendsten Komponisten und Dirigenten seiner Zeit – sein Adressbuch liest sich wie das Who’s Who des damaligen internationalen Musiklebens.
Als Komponist machte sich Stanford bereits früh einen Namen, und dies –für einen englischen Komponisten seiner Zeit durchaus ungewöhnlich – auch im Ausland: Seine 3. Sinfonie (1887) wurde bis ins 20. Jahrhundert weltweit regelmäßig aufgeführt und befand sich im Repertoire auch namhafter nichtenglischer Dirigenten, darunter Hans von Bülow, Hans Richter, Gustav Mahler und Willem Mengelberg; seine 4. Sinfonie (1888) war ein Auftragswerk für Hans von Bülow und die Berliner Philharmoniker.
Was Stanford in den 1880er Jahren in England populär werden ließ, war seine eher konservative stilistische Ausrichtung: In seiner Musik verlässt er kaum
je die Bahnen, die von Mendelssohn und Schumann vorgezeichnet waren. Genau dies wurde ihm zum Verhängnis, als um 1900 sein nur fünf Jahre jüngerer Zeitgenosse Edward Elgar mit Werken international bekannt wurde, die ungleich fortschrittlicher orientiert waren. Spätestens als 1902 kein Geringerer als Richard Strauss Elgar öffentlich als den „ersten englischen Progressivisten“ bezeichnete, mit dem England „zum ersten Male in die Reihe der modernen Musikstaaten“ getreten sei, galt Stanford als stilistisch überholt. Dokumente der damaligen Zeit zeigen ihn als einen zunehmend verbitterten und enttäuschten Mann, der mit der Entwicklung seiner Zeit nicht mehr Schritt halten konnte; er komponierte bis zu seinem Tod 1924, ohne an die Erfolge seiner früheren Jahre anknüpfen und oftmals sogar, ohne überhaupt einen Verleger für ein neues Werk finden zu können.
Es sei nicht verschwiegen, dass unter der immensen Fülle von Stanfords kreativem Output die Qualität nicht immer Schritt gehalten hat. Kompositionstechnisch haben seine Werke stets einen hohen Standard, aber viele wirken eher routiniert als wirklich inspiriert. Allerdings sollte man einen Komponisten an seinen besten Werken messen, und hier hat sich Stanfords reiches Œuvre als Fundgrube für lohnende Wiederentdeckungen erwiesen, wobei die ten-
denziell konservative Tonsprache heute nicht mehr über die eigentlichen Qualitäten der Musik hinwegtäuschen sollte.
Zu den vergessenen Juwelen aus Stanfords Schaffen zählt sein 2. Klavierkonzert, das das Schicksal anderer Werke aus seiner späten Schaffenszeit teilt: 1911 geschrieben, erfolgte die Uraufführung erst 1915 in den USA, die Londoner Erstaufführung fand gar erst 1919 statt; nach Stanfords Tod war das Werk schnell vergessen. Maßgeblich an der Wiederentdeckung beteiligt war der irische Pianist Finghin Collins, den wir für unsere Konzerte zu Gast haben.
Der 1. Satz beginnt ohne Orchestereinleitung mit der Exposition des heroischen Hauptthemas in den Hörnern über einer virtuosen Akkordfiguration des Klaviers. Auffallend ist der Anklang an das (ebenfalls in c-Moll stehende) 2. Klavierkonzert (1901) von Sergej Rachmaninow, das Stanford unmittelbar vor dem Arbeitsbeginn an seinem eigenen Werk dirigierte, übrigens mit Rachmaninow höchstpersönlich als Solist. Auch im lyrischen Seitenthema und an späteren Stellen des Werks scheint Stanfords Stil für Klavier zu schreiben von charakteristischen Techniken Rachmaninows inspiriert, ohne jedoch ins Zitathafte zu fallen. In der Durchführung zeigt sich Stanfords Vorliebe für die Kammermusik in einem ausgedehnten Abschnitt
für die aparte Kombination von zwei Klarinetten, Solo-Cello und Klavier.
Herzstück und emotionaler Höhepunkt ist der langsame Satz: ein tiefinnerliches Adagio, das an die Klangwelt von Chopins Nocturnes oder Rachmaninows Préludes erinnert und nach dem anfänglichen Klaviersolo, insbesondere dem Dialog zwischen Klavier und Orchester, breiten Raum einräumt – ein Charakteristikum, das im Übrigen auch die anderen Sätze prägt und dazu geführt hat, dass im gesamten Werk kein Platz für eine Solo-Kadenz vorgesehen ist.
In vielen Werken hat Stanford seiner irischen Abstammung Tribut gezollt und Volksmusik seiner Heimat verwendet oder eigene Themen in einem pseudo-irischen Stil geschrieben. Im 2. Klavierkonzert ist dies im Finale der Fall, dessen nach einer kurzen Einleitung vorgestelltes erstes Thema irische Anklänge und einen derb-tänzerischen Gestus aufweist. Sowohl das Hauptthema des langsamen Satzes als auch (in den letzten Takten) dasjenige des 1. Satzes werden wieder aufgenommen und führen zu einer zyklischen Rundung des Werkes, das – hierin ganz der romantischen Konzerttradition huldigend –virtuos und triumphal ausklingt.
E.D.U. und die Rätsel
Eines Abends, nach einem langen und ermüdenden Unterrichtstag, spielte ich, unterstützt von einer Zigarre, nachdenklich das Thema in seiner jetzigen Form auf dem Klavier. Die Stimme von C.A.E. [Elgars Frau] fragte mit einem Ton der Zustimmung: „Was ist das?“ Ich antwortete: „Nichts – aber es könnte etwas daraus werden.“
Edward Elgar, zitiert durch seinen Biographen Basil Maine
Der 19. Juni 1899 ging als wichtiges Datum in die englische Musikgeschichtsschreibung ein: In London wurden Edward Elgars „Variationen über ein Originalthema“ (so der originale Titel) uraufgeführt und machten den 42-Jährigen über Nacht zu einer Berühmtheit. Als Komponist ein Spätentwickler (und übrigens Autodidakt), war er in den 1890er Jahren vor allem durch chorsinfonische Werke zu eher lokaler Bekanntheit in der Provinz gekommen. Die Uraufführung seines einzigen größeren Orchesterwerks, der Konzertouvertüre „Froissart“, lag mittlerweile neun Jahre zurück; eine Uraufführung in London – Maßstab für die Bedeutung eines Komponisten in England – hatte noch nicht stattgefunden. Die Geschichte von Entstehung und Urauf-
führung der Variationen liest sich wie ein Märchen: Elgar schrieb das Werk zwischen Oktober 1898 und Februar 1899 ohne Auftrag und ohne Aussicht auf eine Aufführung. Auf Vermittlung seines Verlegers, dem in Variation IX portraitierten August Jaeger, gelangte die Partitur zu keinem Geringeren als Hans Richter. Der österreichisch-ungarische Dirigent war seit 1877 eine feste Institution des englischen Musiklebens und eine Art lebende Legende, nicht zuletzt durch die Tatsache, dass er die Uraufführungen von Wagners „Ring des Nibelungen“ und Sinfonien u. a. von Brahms und Bruckner dirigiert hatte. In London leitete er mit den „Richter Concerts“ eine eigene Konzertreihe, und in diesem Rahmen erlebte Elgars Werk seine triumphale Uraufführung, übrigens damals noch mit einem kürzeren Finale, das Elgar erst anschließend in die heute bekannte Form brachte. Spätestens mit der deutschen Erstaufführung 1901 in Düsseldorf wurde das Werk auch international bekannt, gehörte fortan zum Repertoire aller großen internationalen Orchester und Dirigenten und konnte sich bis heute als eines der Orchesterwerke etablieren, die zum Kanon des Konzertlebens gehören. Viel ist im Lauf der Zeit über die Rätsel geschrieben worden, die mit dem Werk verbunden sein sollen. Be-
trachtet man sämtliche Quellen von Elgar und aus seinem unmittelbaren Umfeld, ist hier allerdings etwas Vorsicht geboten. Zunächst: Mit dem Enigma waren zu keinem Zeitpunkt die Initialen und Spitznamen gemeint, die als Satzüberschriften fungieren und die einzelnen musikalisch portraitierten Personen angeben (ein Verfahren, das entfernt an Robert Schumanns Klavierzyklus „Carnaval“ erinnert). Sie sind nach Elgars Ansicht für das Verständnis der Musik von eher marginalem Interesse, und Elgar wünschte dezidiert, dass das Werk einfach nur als „a piece of music“ gehört werden solle, während er die Charaktereigenschaften und anekdotischen Begebenheiten, die den Variationen zugrunde liegen, als seine Privatangelegenheit ansah. Ein Großteil der Angaben war zudem zumindest für Elgars Umfeld leicht zu erraten; eine komplette Aufschlüsselung aller portraitierten Personen und dargestellten Begebenheiten veröffentlichte Elgar 1929 in einer Broschüre.
Auch ein zweiter Punkt ist mit Sicherheit zu belegen: Mit dem Enigma sind die ersten Takte des Themas gemeint (so ausdrücklich in der autographen Partitur und im von Elgar redigierten Programmheft der Uraufführung vermerkt), und diese stehen für Elgar selbst. Er wies auf diesen Umstand mehrfach hin und verwendete die Passage 1912
schließlich in der Ode „The Music Makers“ als Motiv für die „Einsamkeit des Künstlers“. Dass Elgar selbst eine einigermaßen enigmatische Persönlichkeit war, hatten bereits seine Zeitgenossen erkannt, und der Geiger William Reed, ein enger Vertrauter Elgars, bezeichnete ihn sicher nicht ohne Grund als „wandelndes Rätsel“. Auch wenn sich der Titel „Enigma-Variationen“ weder im Autograph noch in zeitgenössischen Konzertprogrammen findet und Elgar ihn kein einziges Mal selbst verwendet hat (er sprach immer nur von den „Variations“), ist er demnach dennoch nicht verkehrt: Variationen über ein Thema namens Enigma. Es bleibt das eigentliche ungelöste Rätsel: Elgars Hinweis, über das gesamte Werk ginge ein Thema, das nicht gespielt wird. Ist damit ein musikalisches Thema gemeint, das zu allen Variationen als Kontrapunkt passt, oder handelt es sich, wie in anderen Werken Elgars, um eine metaphysische Idee? Darüber ist sich die Forschung bis heute nicht einig und präsentiert regelmäßig Lösungsvorschläge, die mittlerweile das gesamte Spektrum von der seriösen Musikwissenschaft bis zur Verschwörungstheorie umfassen. Die Existenz eines wie auch immer gearteten Rätsels ist nicht völlig ausgeschlossen: Elgar hatte eine Vorliebe für Wortspielereien, Kryptologie und Kreuzworträtsel, und auch bei anderen Werken gibt es enigmatische Details,
wie z. B. die rätselhafte Widmung des Violinkonzerts. Allerdings ist genauso wenig ausgeschlossen, dass es überhaupt kein Rätsel gibt und es sich um einen Spaß Elgars auf Kosten seiner Mitmenschen (und der Nachwelt) handelte, denn auch ein Hang zu einem ausgesprochen skurrilen Humor ist eine zu Genüge dokumentierte Charaktereigenschaft Elgars gewesen, ebenso wie ein Hang zur Selbstmystifizierung.
Gründe für den anhaltenden Erfolg des Werkes zu finden, fällt nicht schwer: Elgar zeigt sich hier als unverwechselbares Originalgenie; formales Konzept und musikalische Gestaltung lassen ihn als unabhängigen Geist erscheinen, der Einflüsse anderer Komponisten bestenfalls höchst sublimiert übernommen hat, ansonsten aber eigene Wege geht und zu einer individuellen Tonsprache gefunden hat. Bereits das formale Konzept ist auffallend unkonventionell: Das schlichte, stellenweise liedhafte und melancholisch verschattete Thema präsentiert einen Vorrat an Motiven; nur Variation I folgt exakt dem Umriss des Themas, alle folgenden Variationen und das Finale verarbeiten die Motive in freier, stellenweise geradezu sinfonischer Weise, geben ansonsten aber das Thema als Ganzes mehr oder weniger auf. Dadurch entsteht der Eindruck, dass es sich eher um eine Reihe von Charakterstücken handelt, die mo-
tivisch verbunden sind. Dabei sind die Variationen einerseits so angeordnet, dass stets ein möglichst starker Kontrast entsteht; andererseits handelt es sich nicht um eine lose Abfolge von 14 einzelnen Nummern, sondern Elgar schafft einen über den gesamten Zyklus reichenden sinfonischen Spannungsbogen, mit der feierlichen Nimrod-Variation exakt in der Werkmitte.
Variation I ist Elgars Gattin, Caroline Alice Elgar, gewidmet, deren Portrait sinnigerweise unmittelbar auf das den Komponisten repräsentierende Thema folgt und (in Elgars Worten) eigentlich dessen Fortsetzung ist. In Variation II folgt mit Hew David Steuart-Powell ein Amateurpianist, dessen simple Tonleiterübungen durch eine chromatische Streicherpassage konterkariert ist, die jenseits seiner Fähigkeiten gelegen haben dürften. Ebenfalls Karikaturen sind die Variationen III und IV: Richard Baxter Townshend ist portraitiert als Amateur-Schauspieler, mit überschlagender Stimme in Sopran-Lage sprechend; William Meath Baker wird als impulsiver Mann dargestellt, inklusive seines charakteristischen Zuschlagens der Tür (am Ende der Variation).
Ein ernsthafteres Portrait zeichnet Elgar von Richard P. Arnold, dessen Angewohnheit, in ernster Konversation scherzhafte Worte einzuflechten, mu-
sikalisch mit zwei kontrastierenden Abschnitten dargestellt ist. Hinter Ysobel verbirgt sich die Amateur-Bratscherin Isabel Fitton, der Elgar einen „Insiderwitz“ gewidmet hat: Die simpel klingende Passage für die Bratschen ist, insbesondere für einen Amateur, technisch recht heikel.
Wiederum eine Karikatur ist die Troyte Griffith gewidmete Variation VII, die seine hoffnungslosen Versuche, Klavier zu spielen, charakterisiert – inklusive des Zuschlagens des Klavierdeckels am Ende. In Variation VIII ist die Atmosphäre von Winifred Norburys aus dem 18. Jahrhundert stammendem Haus evoziert. Der Satz geht ohne Unterbrechung über in die Nimrod-Variation, die im Laufe der Zeit ein Eigenleben entwickelt hat und zu einem beliebten Musikstück bei Beerdigungen und Trauerfeiern geworden ist. Das war von Elgar mit Sicherheit nicht intendiert: Der Satz trägt eine erstaunlich hohe Tempoangabe, und Elgar selbst dirigierte ihn auf seinen beiden Plattenaufnahmen fast doppelt so schnell wie die meisten späteren Interpreten. In seinen Erläuterungen schrieb er zudem, dass dieser Satz kein Portrait ist, sondern nur eine Grundstimmung einfängt.
Gemeint ist das Gefühl tiefer freundschaftlicher Verbundenheit mit seinem Verleger August Jaeger, der ihm in Zeiten schweren Selbstzweifels in langen
Gesprächen mit Rat und Unterstützung zur Seite stand. Elgars Spitzname für Jaeger, Nimrod, bezieht sich auf die mythologische Gestalt, die in der Bibel als „gewaltiger Jäger vor dem Herrn“ erwähnt wird – ein für Elgar typisches Wortspiel mit Namen.
Dora Penny, genannt Dorabella, war eine enge Freundin der Familie Elgar; portraitiert ist nicht nur ihr jugendlicher Charme (tänzerischer Rhythmus), sondern auch – etwas unvorteilhaft – ihre Sprachstörung, was man an der stotternden Figuration der Holzbläser unmissverständlich hören kann. George
Robertson Sinclair, ein bedeutender Kirchenmusiker und Organist, hat der Variation XI nur die Initialen geliehen; ansonsten ist der Satz ein Portrait seiner Bulldogge Dan, die legendären Status hatte und sogar in der Fachzeitschrift „The Musical Times“ portraitiert wurde. Basil G. Nevinson war ein Amateur-Cellist und Kammermusikpartner Elgars, dessen Variation (XII) daher naheliegend von einer ausgedehnten Passage für Violoncello geprägt ist.
Die drei Asteriske von Variation XIII führten gelegentlich zu Spekulationen. In Elgars eigener Darstellung ist Lady Mary Lygon gemeint, die sich zum Zeitpunkt der Komposition auf einer Seereise befand, weshalb Elgar ein Zitat aus Mendelssohns Ouvertüre „Meeres-
stille und glückliche Fahrt“ eingeflochten hat. Hierzu passt, dass Skizzen zu dieser Variation mit L.M.L. überschrieben sind. Später stellte sich heraus, dass diese Darstellung nicht stimmt: Nicht nur war Lady Lygon nicht auf einer Seereise, sondern sie war am Tag der Vollendung der Komposition sogar bei Elgar zu Besuch! Dies und der unerwartet düstere, tragische Charakter des Mendelssohn-Zitats hat die Elgar-Forschung veranlasst, als eigentlich portraitierte Person Helen Weaver ins Spiel zu bringen, Elgars einstmalige Verlobte, deren Trennung von Elgar auf ihn eine geradezu traumatisierende Wirkung gehabt hat. Weaver war nach Neuseeland ausgewandert, und auch darauf könnte sich das MendelssohnZitat beziehen. Aber auch andere Lösungen sind denkbar: Hat Elgar sich bei der Abfassung seiner Erläuterungen, 30 Jahre nach der Uraufführung, lediglich geirrt? Wollte er die Unglückszahl 13 umgehen? (Er selbst war offenbar abergläubisch und legte großen Wert darauf, dass es sich nicht um 13 Variationen und Finale, sondern um 14 Variationen handle!) Deutet die Unglückszahl vielleicht bewusst auf die einstige Verlobte hin, die im Gesamtwerk zudem symmetrisch zu Elgars Ehefrau platziert ist?
Der Elgar-Forscher Julian Rusthon hat zudem berechtigt die Frage ins Spiel gebracht, ob die Variation nicht Lady Lygon gewidmet, aber gleichzeitig je-
mand anders portraitiert sein könnte. Hinter den Initialen E.D.U. verbirgt sich niemand anders als der Komponist selbst: Lässt man die Punkte fort, entsteht sein Spitzname in deutscher Form, Edu (englisch Edoo). Der Satz greift die Variationen I und IX nochmals auf und bringt so mit Alice Elgar und August Jaeger sinnfällig „zwei große Einflüsse auf das Leben und die Kunst des Komponisten“ (Elgar) in unmittelbaren Zusammenhang mit ihm selbst im Rahmen eines sinfonischen Selbstportraits. Gelegentlich wurde das Finale als selbstverliebtes, viktorianisch-protzendes englisches Gegenstück zu Richard Straussʼ „Ein Heldenleben“ (ebenfalls 1899 uraufgeführt) abgetan. Hört man sich die beiden von Elgar selbst unnachahmlich dirigierten Plattenaufnahmen an, sind allerdings Zweifel angebracht, denn hier entsteht ein ganz anderer Eindruck: Das melancholische Enigma des einsamen Künstlers wandelt sich nicht in imperialistisches Pathos, sondern in ein brillantes Feuerwerk, das ruhig auch mit etwas Augenzwinkern gehört werden darf. Das Schlimmste für Elgar war, wenn das Publikum – in seinen Worten! – „wie gemästete Schweine“ dasitzt. Er selbst hat gewusst, dass große Musik nicht immer ernst sein muss und Humor im Konzertsaal erlaubt ist.
Vorschau
3. Philharmonisches Konzert
„Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg.“
Peter Fox
Frederick Delius: Florida-Suite
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 e-Moll
„Aus der
Neuen Welt“
Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: GMD Florian Csizmadia
Öffentliche Generalprobe
Mo 28.10. / 19.00 Uhr Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Konzerte
Di 29.10. / 19.30 Uhr Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Mi 30. & Do 31.10. / 19.30 Uhr Stralsund: Großes Haus
Fr 01.11. / 19.30 Uhr Putbus
Impressum
Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH
Stralsund – Greifswald – Putbus
Spielzeit 2024/25
Geschäftsführung: André Kretzschmar
Textnachweise:
Redaktion: Katja Pfeifer
Gestaltung: Wenzel Pawlitzky
1. Auflage: 500
Druck: Flyeralarm www.theater-vorpommern.de
Die Texte über Charles Villiers Stanford und Edward Elgar stammen von Dr. Florian Csizmadia. Bei dem Artikel über Felix Mendelssohn Bartholdy handelt es sich um einen Text von Katja Pfeifer.
Bildnachweise:
Titelbild: Foto von Peter van Heesen; S. 3: Finghin Collins, Foto von Celine Michel; S. 4 und 7: Die Faraglioni vor Capri, gemeinfreie Fotos auf pxhere und unsplash; S. 10/11 Finghin Collins, 2022 am Theater Vorpommern, Foto von Peter van Heesen; S. 13: Charles Villiers Stanford, 1921, Fotograf unbekannt; S.17: Elgar Street Art in Malvern, Foto von Philip Halling – geograph.org.uk/p/3886135; S. 20: Traffic cone on Elgar Statue, Foto von Philip Halling – geograph.org. uk/p/4855922
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Theater Vorpommern
Stralsund – Greifswald – Putbus