Spielzeit 2024/25
Ein Käfig ging einen Vogel suchen
Szenische Lesung
„Ein Gegenstand ging ein Lebewesen suchen. Eine Industrie ging einen Konsumenten suchen. Ein Diktator ging einen Wähler suchen. Eine Grenze ging einen Eindringling suchen. Ein Zirkus ging ein Publikum suchen. Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ (frei nach Franz Kafka)
Ein Käfig ging einen Vogel suchen
Szenische Lesung
Es lesen und spielen:
Leitung
Bühne & Kostüme
Musik
Dramaturgie
Regieassistenz & Inspizienz
Premiere in Greifswald am 22. November 2024
Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde und 20 Minuten
Anjo Czernich
Hannes Rittig
Friederike Serr
Hannes Rittig
Eva Humburg
Andreas Dziuk
Joris Löschburg
Wolf-Dietrich Stückrad
Ausstattungsleiterin: Eva Humburg Technischer Direktor: Christof Schaaf
Beleuchtungseinrichtung: Friedemann Drengk Bühnentechnische Einrichtung: Andreas Franke, Tino Dluzinska Toneinrichtung: Nils Bargfleth, Robert Hoth
Leitung Bühnentechnik: Robert Nicolaus Leitung Beleuchtung: Kirsten Heitmann Leitung Ton: Daniel Kelm Leitung Requisite: Alexander Baki-Jewitsch Bühne & Werkstätten: Produktionsleiterin: Eva Humburg Tischlerei: Stefan Schaldach, Bernd Dahlmann, Kristin Loleit Schlosserei: Michael Treichel, Ingolf Burmeister Malsaal: Anja Miranowitsch, Fernando Casas Garcia, Sven Greiner Dekoration: Frank Metzner Kostüm & Werkstätten: Gewandmeisterinnen: Carola Bartsch, Annegret Päßler Modisterei: Elke Kricheldorf Assistenz: Dorothea Rheinfurth, Maisa Franco
Ankleiderin: Ute Schröder
Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.
Am Leben verhungern: Franz Kafkas tragische Helden der Existenz
Im kurzen Prosatext „Der plötzliche Spaziergang“ (1913) schildert Franz Kafka mit der für ihn typischen Detailversessenheit die Bedingungen eines unvorhergesehenen, abendlichen Spazierganges. Wenn man sich von einem plötzlichen Unbehagen gepackt und begleitet vom Erstaunen der übrigen Familienmitglieder auf die vom Laternenlicht beschienene Straße begebe, so sei damit nicht weniger als die Möglichkeit verbunden, aus dem „Kreis der Familie auszutreten“, schreibt Kafka. Die „Glieder“ würden die „plötzliche Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten“, man selbst würde sich zu nicht weniger als „seiner wahren Gestalt“ erheben. Obwohl der Erzähler am Ende tatsächlich auf die Straße getreten ist und damit „zu seiner wahren Gestalt“ gefunden hat, würde es ebenso wenig verwundern, wenn er für immer in der zirkulären Bewegung der reinen Vorstellung verweilen und so lediglich über die Möglichkeit eines erfüllten Seins sinnieren würde. Die Welt wird dabei als ein hindernisreicher Zusammenhang geschildert, das Leben als etwas, an dem man nur scheitern kann. Kafkas oftmals tragische Figuren sind darin nicht per se Außenseiter, sie geraten der Welt vielmehr abhanden, je länger
sie versuchen, dieses Scheitern abzuwenden, bis sie sich endlich bis zur Unkenntlichkeit deformiert haben.
Paradigmatisch wird dies in dem 1924 posthum von Max Brod veröffentlichten Erzählband „Ein Hungerkünstler“ durchgespielt: Die aus dem Kosmos des Zirkus entlehnten Figuren wie der Hungerkünstler, ein Akrobat, der auf einem Trapez lebt, oder eine lungensüchtige Kunstreiterin stehen für Lebensmodelle, die auf eine bestimmte Anerkennung angewiesen sind, ohne die sie nicht existieren können. Der Hungerkünstler, dessen Ansprüche des Hungerns scheinbar nicht mit der Sensationslust des Publikums zusammengehen, der Akrobat, der sich immer mehr auf sein entrücktes Leben auf dem Trapez zurückzieht, oder die für den Beobachter in „Auf der Galerie“ letztlich unerreichbare Kunstreiterin: Sie alle müssten sich vom eigenen Anspruch, dem Publikum gefallen zu wollen, lösen, um sich zu ihrer wahren Gestalt erheben zu können. Bei Kafka aber bleiben sie gefangen zwischen dem Anspruch an die eigene Kunst und einer Welt, in der sie immer schon fremd sind und darum höchstens als exotische Exemplare einer aussterbenden Art ausgestellt werden. Sobald das voyeuristische Interesse an
ihnen erlischt, werden sie zum Sterben zurückgelassen. Eindrücklich ist das in der Beschreibung des Hungerkünstlers der Fall, der nach wochenlangem Hungern schließlich mit den Überresten des Strohs aus seinem Käfig vergraben wird, bevor er durch einen vor Leben strotzenden Panther ersetzt wird.
Derartige nicht lebbare Lebensentwürfe finden sich auch in Kafkas großen Romanfragmenten wie in „Der Verschollene“ (1914) oder „Das Schloss“ (1922). Auch hier steht die initiale Energie des Aufbruchs in scharfem Kontrast mit einer Welt, die dem mit ihr konfrontierten Helden bald unüberwindbare Hindernisse gegenüberstellt, an denen diese nur zugrunde gehen können.
Das große mythologische Erzählmodell einer Odyssee, die der Held durch Geschick und Vernunft meistert, um gestärkt nach Hause zu kehren – bei Kafka wird es in sein Gegenteil gedreht. Statt zu wachsen, stürzen Kafkas Helden unaufhaltbar ins Bodenlose der Existenz. Statt eine Reise zu meistern, sind sie gefangen in einem Zirkus des unlebbaren Lebens.
Während dieses Zugrundegehen-ander-Welt in „Die Verwandlung“ (1912) vielleicht am eindrücklichsten beschrieben wird, nämlich als das plötzliche Erwachen als ein käferartiges Insekt, ein „ungeheures Ungeziefer“, besteht
die Qualität in den Romanfragmenten, ebenso wie in den Texten aus „Ein Hungerkünstler“ gerade darin, dass sie die perfide Eigenlogik jenes Zwischenzustands ausstellen, in dem die Figuren verweilen müssen.
Der Befreiungsschlag, der in „Der plötzliche Spaziergang“ mit dem Gang auf die Straße erreicht wird, bleibt für die meisten von Kafkas Helden unerreichbar. Ihre Tragik besteht insofern darin, dass sie so tief in das Sein einer für sie nicht lebensfähigen Welt verstrickt sind, dass sich die Perspektive der Befreiung im Sinne einer Realisierung des eigenen Selbst gar nicht stellt. Das erinnert an die Parabel „Im Tunnel“ (1917), in der Kafka die conditio humana mit der Situation von Eisenbahnreisenden vergleicht, „die in einem langen Tunnel verunglückt sind“. Die Frage nach dem richtigen Handeln oder dem Sinn desselben würden sich aufgrund des hoffnungslosen Orientierungsverlustes gar nicht erst stellen. Kafka erklärt damit nicht nur zwei der wesentlichsten Fragen der abendländischen Philosophie und damit des modernen Selbstverständnisses als obsolet, er entzieht dem Individuum zugleich sämtliche Verantwortung, sich aus dieser Situation zu befreien:
IM TUNNEL
Wir sind mit dem irdisch befleckten Auge gesehen, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind, und zwar an einer Stelle, wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, dass der Blick es immerfort suchen muss und immerfort verliert, wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer. Was soll ich tun? oder: Wozu soll ich es tun? sind keine Fragen dieser Gegenden.
Der auf eine unheimliche, dunkle Stimmung zielende Begriff des Kafkaesken bezieht seine Dynamik daraus, dass Kafkas Figuren in dieser ausweglosen Situation dennoch allerhand Überlegungen anstellen, wie sie sich am besten verhalten sollten. Dabei dringen sie immer tiefer in das Wesen einer per se perfiden Existenz, je länger sie sich weigern, einfach aufzugeben. Dem Landvermesser K. oder dem Protagonisten in „Der Verschollene“ möchte man zurufen, sie mögen endlich aufgeben, da sie sich in immer ausweglosere Situation bringen, je länger sie versuchen, ihr Ziel zu erreichen. Demgegenüber scheinen sich die seltsam entrückten Kunstgestalten aus „Ein Hungerkünstler“ schon eher mit ihrer sonderbaren Lage abgefunden zu haben – sie existieren nur noch ein wenig weiter, inmitten eines Publikums, das sich schon nicht mehr für sie interessiert, in einer Welt, die nicht mehr die ihre ist, oder es nie war. Das Leben ist etwas, an dem man schließlich verhungern muss und sei es, weil man schlicht nie jene „Speise finden konnte, die einem schmeckt“.
Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.
(Franz Kafka, Zürauer Aphorismen 1917/18)
Auf der Galerie (1919)
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das – Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüber-
windung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.
Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie.
(Franz Kafka, Zürauer Aphorismen 1917/18)
Die Brücke (1917)
Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. – So lag ich und wartete; ich musste warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.
Einmal gegen Abend war es – war es der erste, war es der tausendste, ich weiß nicht, – meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannesschritt! Zu mir, zu mir. – Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus,
schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.
Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.
Vor dem Gesetz (1915)
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht“. Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn.
Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen“. Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.
Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne.
Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben“. Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen.
Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert.
„Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich“. „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn“.
Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.
(Franz Kafka, Zürauer Aphorismen 1917/18)
Testamente
29. November 1922
Lieber Max,
vielleicht stehe ich diesmal doch nicht mehr auf, das Kommen der Lungenentzündung ist nach dem Monat Lungenfieber genug wahrscheinlich und nicht einmal dass ich es niederschreibe wird sie abwehren, trotzdem es eine gewisse Macht hat.
Für diesen Fall also mein letzter Wille hinsichtlich alles von mir Geschriebenem: Von allem was ich geschrieben habe gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. Wenn ich sage, dass jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, dass ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.
Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt ausnahmslos, am liebsten ungelesen (doch wehre ich Dir nicht hineinzuschauen, am liebsten wäre es mir allerdings wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand anderer hineinschauen) — alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich, Franz
Drei Fragen an Hannes Rittig (Regie)
Lieber Hannes, die Texte Franz Kafkas stecken voller Rätsel und Denkbilder. Sie sind aber auch relativ schwer zu entschlüsseln und in einer Sprache verfasst, die der gesprochenen eher fremd ist. Was hat Dich an der Beschäftigung mit Kafka gereizt und wie seid ihr damit umgegangen?
Was mich an Kafka reizt, ist der Zustand des Entschlüsselnwollens, in den er die Leser versetzt. Legt man das Buch weg, bleibt er trotzdem noch da. Es herrscht bei seinen Geschichten eine Spannung zwischen Wissen und Ahnung. Nur manchmal findet man das Schloss. Aber findet keinen Schlüssel. Oder umgekehrt. Das ist sehr gewitzt und distanziert, aber auch lebensnah und humorlos.
Seine Sprache ist tatsächlich manchmal schwer zu sprechen, vor allem in der Komplexität mancher nicht enden könnender Sätze. Ich habe aber auch viele ganz genaue, knappe Aussagen bei ihm gefunden. Die er so und nicht anders treffen musste. Eine der kürzesten ist: Ein Käfig ging einen Vogel suchen. Im Umgang mit diesen Texten haben wir uns entschieden, die komplexeren in einer konzentrierten Leseatmosphäre auf die Bühne zu bringen, und die knappen prägnanten Geschich-
ten in szenische Lösungen zu führen. Wir versuchen manches Rätsel körperlich zu lösen und spinnen manche seiner Denkbilder mit eigenen Worten und Bewegungen weiter. Wir suchen Spielorte oder Situationen für kurze Erzählungen. Der Reiz lag auch darin, vom gedruckten Text zur szenischen Bewegung zu kommen.
Euer Fokus liegt ja auf Texten, die im weitesten Sinne dem Kosmos des Zirkus zugeordnet werden können – wie kam es zu dieser Auswahl?
Kafkas angeblich so kleines Werk ist, wenn man in einem Sommer alles liest oder hört was er literarisch geschaffen hat, gar nicht so klein. Es bedurfte einer Eingrenzung. Immer wieder sprang mir aus seinen Erzählungen die Welt des Zirkus entgegen. Diese bietet viel Spielraum. Es liegt Bewegung, Fremdheit, Romantik und Gefahr in ihr. Und Musik und künstliche Farben. Ein schöner Widerspruch zu Kafkas trockenen Protokollen von menschlichen Eigenheiten der Zirkusleute, ein Widerspruch den er uns anbietet! In der Manege reiht sich Nummer an Nummer in einem mechanischem Ablauf. In manchem Zirkus dreimal am Tag. Dreimal muss der Clown lustig, dreimal der Dompteur mutig und dreimal der Panther gefährlich sein. Das hat viel mit Kafka, viel mit der Welt und uns Menschen zu tun. Wie geht es dem Clown, wenn er danach alleine hinter dem Zelt sitzt?
An der Inszenierung fallen die komischen Elemente auf, mit denen ihr die Texte bereichert. Teilweise werden dabei aber auch sehr grausame Geschichten erzählt. Wie geht das für Dich zusammen?
Beim Spaziergang erzählt man einen Witz, dabei tritt man, ohne es zu merken, auf einen Käfer. Für den Käfer ist das nicht komisch. Obwohl der Witz gut war. Zwei Fragen: Wie ging der Witz? Wer war der Käfer? So ist die Welt. So geht das für mich zusammen.
In diesem Moment (es ist gerade gegen Abend) ziehen sich zwei Menschen eine Uniform an und starten einen Luftangriff, gleichzeitig machen sich zwei Menschen schick für den Besuch einer Comedy-Show. Das ist der Stand der Dinge. Ein sensibler Mensch, wie Kafka es zweifelsohne war, leidet sicher darunter. Aber das ändert nicht den Stand der Dinge.
Impressum
Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH
Stralsund – Greifswald – Putbus
Spielzeit 2024/25
Geschäftsführung: André Kretzschmar
Bildnachweise:
Redaktion: Dr. Joris Löschburg
Gestaltung: Wenzel Pawlitzky
1. Auflage: 500
Druck: Flyeralarm www.theater-vorpommern.de
Das Coverfoto (U1): „KAFKA“: Martin O’Neill / cutitout.co.uk, Illustrationen: von Franz Kafka, bearbeitet, alle anderen Fotos stammen von Peter van Heesen.
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.