Programm Das Abendland

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DAS ABEND LAND SPIELZEIT 2020/21




PREMIERE IN STRALSUND 18. September 2020 PREMIERE IN GREIFSWALD am 3. Oktober 2020 AUFFÜHRUNGSDAUER 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause AUFFÜHRUNGSRECHTE Harlekin-Theaterverlag Tübingen.

In Einverständnis mit dem Verlag und der Autorin wurde der Text wegen der besonderen Corona-Auf lagen eingekürzt.

Ausstattungsleiterin: Eva Humburg / Technischer Direktor: Christof Schaaf / Beleuchtungseinrichtung: Marcus Kröner / Bühnentechnische Einrichtung: Andreas Flemming / Toneinrichtung: Hagen Währ / Leitung Bühnentechnik: Robert Nicolaus, Michael Schmidt / Leitung Beleuchtung: Kirsten Heitmann / Leitung Ton: Daniel Kelm / Leitung Requisite: Alexander Baki-Jewitsch, Christian Porm / Bühne und Werkstätten: Produktionsleiterin: Eva Humburg / Tischlerei: Stefan Schaldach, Bernd Dahlmann / Schlosse­r ei: Michael Treichel, Ingolf Burmeister / Malsaal: Ulrich Diezmann (Leiter), Anja Miranowitsch (Stv.), Sven Greiner / Dekoration: Mary Kulikowski, Frank Metzner / Kostüm und Werkstätten: Leiter der Kostümabteilung: Peter Plaschek / Ausstattungs­ assistentin und Ausbilderin: Carolin Wendorff / Gewandmeister: Ramona Jahl, Annegret Päßler, Andrea Schütte / Modisterei: Elke Kricheldorf / Kostümfundus: Angelika Birghan / Ankleiderinnen: Ute Schröder, Petra Westphal / Leiterin der Maskenabteilung: Carolina Barwitzki, Isabell Ahn (Stv.)

Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen. Es wird gefördert durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

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DAS ABENDLAND

von Julie Maj Jakobsen

Schauspieler 1 / Mitarbeiter Schauspieler 2 / Natashia, Liam, eine Frau Schauspieler 3 / syrische Frau Schauspieler 4 / Ersthelferin, belgische Frau Schauspieler 5 / Geschäftsmann, Maija, belgischer Mann Schauspieler 6 / LKW-Fahrer, Wachmann Schauspieler 7 / älterer Mann, Ersthelfer

FELIX MEUSEL FELINE ZIMMERMANN ANNETT KRUSCHKE CLAUDIA LÜFTENEGGER

Musikalische Leitung / Live-Musik Inszenierung Bühne und Kostüme Dramaturgie Regieassistenz / Abendspielleitung Inspizienz

SEBASTIAN UNDISZ DIRK LÖSCHNER GIOVANNI DE PAULIS OLIVER LISEWSKI OLIVER SCHEER BÉNÉDICTE GOURRIN, KERSTIN WOLLSCHLÄGER LINA SCHMIDT

Souff lage

MARKUS VOIGT NIKLAS KRAJEWSKI JAN BERNHARDT

Wir danken Hanna Sewing für die freundliche Unterstützung bei der Auswahl der Gesangschöre.

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Es wird darauf hingewiesen, dass Ton- und / oder Bildaufnahmen der Aufführung durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind. Zuwiderhandlungen sind nach dem Urheberrechts­g esetz straf bar.


Europas Seele suchen

Kontrastreicher können die Bilder nicht sein: Wir sehen dramatische Szenen der Hoffnung und zugleich Szenen des Grauens. Millionen Menschen versuchen den Katastrophen des Krieges, der Folter, des Hungers, der Not in ihrer Heimat zu entkommen. Ihr sehnsuchtsvoller Blick richtet sich auf einen kontinentalen Magneten: Europa. Und dann kommt der Überlebenskampf des Transfers. Diejenigen, die es schaffen, erreichen Lager, Transitzonen, Auffangzelte, deren humane Qualität zweifelhaft ist. Wir werden so daran erinnert, dass Völkerwanderungen zur Menschheitsgeschichte gehören. Aber der Zielhorizont wankt. Er erodiert von innen. Nationalistische Alleingänge, populistische Slogans, egoistische Interessenlagen: Kollektive Erregung vernebelt den Verstand. Der Firnis der Zivilisation ist offenbar dünner als bisher angenommen. Vertrauen ist verloren gegangen. Der Kontinent wirkt im Blick auf seine Gestaltungskraft, auf seine Integrationsleistung müde, alt, pessimistisch. Europa ist offenbar die diskursive Energie ausgegangen. Der Kontinent bewegt sich auf dem Humus des Misstrauens. Europa muss seine Seele wiederfinden. Bereits der weise Salomon wusste: Ein Volk, ohne Vision geht zugrunde. Ein Blick in die Geschichte zeigt uns: Krisen haben zu Lernprozessen geführt und dann zu Problemlösungen. Fehlende Antworten auf die Sinnfrage aber haben zu Katastrophen geführt. Seit der ersten Nennung des Namens Europa im 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum heutigen Tag steht dieser Kontinent unter Spannung, weil die größtmögliche Vielfalt an Temperamenten, Mentalitäten und Traditionen in größtmöglicher räumlicher Dichte ihr Zusammenleben organisieren. Die daraus resultierende Spannung entlädt sich mal positiv als zivilisatorische Großleistung, mal negativ als imperiale, hegemoniale Katastrophe. Europa kennt den Geist der Bergpredigt genauso wie das Wörterbuch des Unmenschen. Soll die positive Seite aufgeschlagen werden, dann gelingt dies nur, wenn man die politisch-kulturelle Leistung erbringt – nicht wenn man infantil immer wieder die alten Fehler wiederholt. Damit ist unsere Aufgabe für das nächste Europa definiert: Das Narrativ der künftigen Sinnantwort für Europa ist zu erarbeiten. Die Deutungs- und Erklärungsleistung ist zu bieten. Mit anderen Worten: Die Seele Europas muss wiedergefunden werden. Was macht Europa so spezifisch? Was hält Europa im Innersten zusammen? Was definiert Europas Identität? Wie ist Europa so geworden, wie es heute ist? Die Antworten auf diese Fragen gilt es aufzuspüren, Jahr für Jahr, Tag für Tag. Nur so wird man das elementare Grundgefüge der Seele Europas erfassen können. Werner Weidenfeld

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ICH GLAUBE AN DAS IN DER KUNST. DIE DRAMATIKERIN JULIE MAJ JAKOBSEN ÜBER IHR STÜCK In ihrem Stück Abendland tauchen plötzlich Flüchtlinge vor der Cafeteria einer Autobahnraststätte auf. Als es immer mehr werden, wissen die Leute drinnen nicht, wie sie sich verhalten sollen und schließen die Türen … JULIE MAJ JAKOBSEN: Ja, sie sitzen plötzlich fest an diesem Ort, der ja eigentlich nur ein Durchgangsort ist, und das führt natürlich zu Konflikten. Andererseits entfalten sich ihre Reisegeschichten vor uns und wir lernen sie ganz gut kennen – im Gegensatz zu denen vor den Türen.

Sie versuchen als Dramatikerin auch komödiantisch an das Thema heranzugehen, stellen die teilweise arrogante Selbstwahrnehmung dieser vermeintlich humanistischen Europäer zur Debatte. Ein Dilemma, das wahrscheinlich viele Menschen kennen. Wie kann ich überhaupt helfen? Kann man etwas verändern? JULIE MAJ JAKOBSEN: In der Sprache des Stückes wird deutlich, wie wir das Flücht-

lingsproblem theoretisieren, was eine Distanz schafft. Es wird in den unterschiedlichen Sprechakten der Charaktere sichtbar. Dieser Stoff hat mich stark beschäftigt und mich auch dazu veranlasst, mich selbst in die Kritik einzubeziehen. Ich habe viel über die Frage nachgedacht: Wann tun wir eigentlich etwas?

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NICHTRATIONALE

Wie sehen sie die Zukunft Europas? JULIE MAJ JAKOBSEN: Ich habe das Gefühl, dass wir Europäer uns mitten in einem

äußerst wichtigen Ringen mit uns selbst befinden. Es gibt Bewegungen in verschiedene Richtungen. Mit der optimistischen Brille betrachtet, könnte man das als ein Glück bezeichnen, weil es uns zwingt, Stellung zu beziehen. Ich glaube an die Menschen und es ist wichtig zu erkennen, dass es nicht allein um uns geht. Ein Krieg irgendwo in der Welt ist auch unser Krieg. Wir können die Grenzen davor nicht mehr verschließen. Je mehr wir diese Einsicht gewinnen, desto größer ist die Chance, gemeinsame Lösungen zu finden. Ich hoffe, wir landen in Europa als einem offenen Ort.

Glauben sie, dass Kunst und Theater die Welt verändern können? JULIE MAJ JAKOBSEN: Natürlich kann Kunst die Gesellschaft nicht eins zu eins ver-

ändern. Aber eine Gesellschaft ohne Kunst, wäre sehr arm. Ich glaube an das Nichtrationale in der Kunst und das ständige Infragestellen dessen, was wir sind und wer wir sind innerhalb unserer Gesellschaft. Es gibt Dinge, die in keine Schublade passen. Der Dramatiker Kjeld Abell hat einmal gesagt, "Im Theater können sich Menschen treffen und nur so wird der Mensch ein Mensch". Diese besondere Fähigkeit des Theaters, seine Lebendigkeit, sein Live-Charakter – z.B. im Vergleich zum Film – ermöglicht kollektive Erfahrungen jenseits des bloßen Zuschauens. Meine Texte wurzeln oft in Dilemmata bezüglich unseres Verständnisses von Gemeinschaft und persönlicher Verantwortung. Es stellt sich immer die Frage nach der Identität: Wo liegt unsere Verantwortung für uns selbst und untereinander? Gibt es einen Unterschied dazwischen? Ich möchte, dass das Publikum den eigenen Horizont erweitert, andere Perspektiven einnimmt, wenn es meine Stücke sieht. Ihre Welt sollte ein bisschen vielfältiger und größer werden.

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Interview: Mette Garfield


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ABENDLAND BEGRIFF

Der Begriff „Abendland“ entstand im 16. Jahrhundert im Kontext von Renaissance, Humanismus und Reformation als Gegenbegriff zum Ideal des Orients bzw. zu Martin Luthers Begriff des Morgenlandes (Neues Testament 1522). Im deutschen Sprachgebrauch findet sich der Begriff „Abendland“ erstmals 1529 als Lehnsübersetzung des Begriffs „Okzident“. Obwohl sich der Begriff zunächst nur geographisch auf das westliche Europa bezog, lud er sich zunehmend kulturell auf. Das heutige Begriffsverständnis entwickelte sich in der Romantik. Hier entstand eine spezifisch deutsche Tradition, in der der Topos vom „Abendland“ – in der Forschung nicht zu Unrecht als „Kampfbegriff“ bezeichnet – zum Teil ideologisch stark besetzt war. Fortan galt als das „Abendland“ jene europäische Völkergemeinschaft, die sich mit Bezug auf antike Wurzeln und die Prägung durch das Christentum im Mittelalter herausgebildet hatte. Diese kulturelle Definition des „Abendland“ gab dem Begriff ein statisches Element – es ist ein durch die Geschichte festgelegter, deshalb nicht wie Europa zum Wachsen befähigter Raum. Verstanden wurde dies in bewusster Abgrenzung gegenüber dem nicht-christlichen „Osten“, ein Motiv, das sich durch die gesamte Begriffsgeschichte des „Abendland“ zieht.

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Die Menschenrechte – eine große Idee Es besteht kein Grund zur Überheblichkeit - Europa ist nicht der Kontinent der Menschenrechte im Sinn eines gesicherten Besitzes. Wohl ist es den Europäern gelungen, die Teilung in den Menschenrechten abzubauen, jene Grundproblematik der Humanität, die darin besteht, zwar grundsätzlich das gleiche Menschsein aller anzuerkennen, aber doch konkret die Menschenrechte nicht allen zuzugestehen. Doch die nächsten Herausforderungen sind schon zu erkennen. In Zeiten, in denen die europäischen Gesellschaften durch Ungleichheit, Terror, Migrationsdruck und wachsende Pluralität verunsichert sind, nimmt auch die Bereitschaft zu, Menschen- und Bürgerrechte einzuschränken. Der Glaube an Humanität und Menschenrechte ist nicht unerschütterlich und es wird darauf ankommen, überzeugende Gründe zu finden, an ihnen auch in wechselhaften Zeiten festzuhalten. Im erinnernden Rückblick auf ihre Geschichte können Europäer solche Gründe finden, warum eine Teilung bei den Menschenrechten eine Teilung der Humanität bedeutet, gegen die sie Widerstand leisten sollten. Christof Mandry

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Europa und der Stier Der griechische Mythos erzählt, dass Europa, die Tochter des phönizischen Königs Agenor, sich mit ihren Gefährtinnen am Strand des Mittelmeeres vergnügt habe. Zeus verliebte sich in das schöne Mädchen und beschloss, es zu entführen. Er nahm die Gestalt eines weißen Stiers an, der dem Meer entstieg und sich Europa näherte. Das Mädchen streichelte das überaus schöne, zutrauliche Tier und fand sich schließlich bereit, auf dessen Rücken zu klettern. Darauf erhob sich der Stier und stürmte ins Meer, das er mit Europa auf dem Rücken durchquerte. Aber wie durch ein Wunder wurden sie und der Stier nicht einmal nass. Zeus entführte Europa nach Kreta, wo er sich ihr in seiner göttlichen Gestalt zu erkennen gab und mit ihr drei Söhne zeugte: Minos, Rhadamanthys und Sarpedon. Aufgrund einer Verheißung der Aphrodite wurde der heimatliche Erdteil nach ihr benannt.

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Fremdheit und Vertrautheit

Zur Welt kommen heißt, sich einer unfassbaren Fremdheit ausgesetzt zu sehen. Das ist der Anfang – und so geht es bis zum Ende des Lebens weiter. Das Urmuster aller Entscheidungen, die man fortan trifft, besteht darin, ob man der Fremdheit lustvoll oder aber feindlich begegnet, ob man ihr die Tore zum eigenen Inneren öffnet oder aber verschließt. Das ist auch ein Akt der Freiheit und des Willens. Es gibt erlernbare und einübbare Spielräume für den lustvollen und als bereichernd erfahrbaren Umgang mit Andersheit. Leben ist ein Umkreisen, Einkreisen und Ausgrenzen von Nichtgleichem. Aber bei dem Wort „Nichtgleich“ beginnt schon die falsche Orientierung: so, als sei das Eigene, das mit sich selbst Gleiche. Das Gegenteil ist der Fall: Das Eigene ist in seiner Struktur das Fremde, das Unverstandene und erst noch zu Entdeckende und zu Erschließende. Nur dort, wo wir uns auch an Fremdheit in uns selbst anschließen, ereignet sich das, was wir Leben nennen. Die Geschichte der Menschen ist von Beginn an eine mehr oder weniger aggressiv geführte Auseinandersetzung mit Fremdheit und den sie repräsentierenden Fremden. Unterbrochen von Gesten und Haltungen der Neugierde, Zuneigung, Freundschaft und Liebe. In diesem universellen Prozess ändert sich nur die Wahl dessen, wer und was als fremd empfunden und als bedrohlich abgewehrt wird. Der Blick auf den Fremden ist immer ein kulturell und emotional begrenzter Blick. Die schwierige Beziehung zum Fremden, und damit das Ausmaß des nicht zu Verstehenden, schichtet sich ins Endlose. Man hat – angesichts der aktuellen Ereignisse in der Türkei, in Amerika und Europa, im Nahen und Fernen Osten – den Eindruck von einer kaum noch fassbaren Beschleunigung sowie politischen und medialen Dramatisierung. Viele Nationen und soziale Gruppierungen scheren aus vertrauten Allianzen aus und verfallen dem Wahn, sie würden mit sich selbst und untereinander vertrauter, indem sie die nach außen führenden Türen schließen. Keine Gesellschaft aber wird einheitlicher, wenn Minderheiten verachtet oder einfach nur ignoriert werden. Die Fremdheit, die man zu verscheuchen versucht, wird noch unausweichlicher im Inneren der Gesellschaft aufbrechen. Das sich stetig ausweitende Feld menschenverachtender und menschenunwürdiger Übergriffe, Auslöschungsphantasien und -praktiken vertieft täglich das Ausmaß an Befremdnis gegenüber dem Menschen generell, offenbart die Brüchigkeit des Humanismus und der Zivilisation. Hans-Jürgen Heinrichs

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Brüssel oder der Austritt aus der Geschichte

Als Erinnerungsort ist die Architektur der Städte Paris, London und Berlin weit mehr ein steinernes Zeugnis von Weltreichen und von nationaler Macht als von europäischer Einheit. Dazu kommt freilich Rom, der europäische Ursprungsort der Idee des Imperiums wie der europäischen Einigung nach 1945. Gleiches lässt sich von der Architektur Brüssels sagen, die einerseits für das Weltreich und anderseits für die europäische Einigung steht, wobei die beiden nicht miteinander vermischt sind, sondern nebeneinanderstehen. Die Gebäude des Europaviertels spiegeln die Macht eines neuen Europas, das in Zukunft seinen Einfluss ausüben wird, während der benachbarte Triumphbogen an vergangene Größe erinnert, die freilich auf Profiten beruhte, die man dem Kongo abgepresst hatte. Ob Brüssel als Leuchtturm inmitten eines von fremdenfeindlichem Nationalismus zerrissenen Europas erscheinen wird, oder aber als Gründungsmythos eines Europas, das eine weitere Krise überwunden haben wird, das steht allerdings auf einem anderen Blatt. Aus der Geschichte sind Lehren zu ziehen: die erteilt uns ihre Lektionen, aber wir lernen nie aus ihr und oft genug schlägt sie nicht die von uns erwarteten oder erwünschten Wege ein. Eines ist jedoch klar: Die Geschichte ist nicht zu Ende und es ist unmöglich, aus ihr auszutreten. Bo Stråht

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Die Utopie einer europäischen Republik

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Utopien sind ein Kompass für gesellschaftliche Entwicklungen, denn ohne eine Idee davon, wie die Dinge sein könnten oder eigentlich sein sollten, ist keine Politik zu machen. Politik ist gesellschaftliches Design, Streit um eine immer bessere, immer gerechtere Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens. „Alternativlos“ ist nichts, außer man gibt den Anspruch auf, die Dinge immer besser machen zu wollen. Alternativlosigkeit heißt Gefängnis, Diktatur des Bestehenden und mithin Unfreiheit, allem voran die Unfreiheit des Denkens und des Geistes. Wir wollen etwas anderes! Für die Emanzipation Europas stehen die Vielen, die politische Verantwortung und bürgernahe Demokratie in den europäischen Regionen wollen. Die ein warmes und authentisches Lebensumfeld nicht verlieren wollen, die regionale Produkte fördern, das Klima schützen, europäische Verkehrswege, nachhaltige Energie, eine europäische Kranken- und Arbeitslosenversicherung, einen europäischen Mindestlohn und ein europäisches Grundeinkommen wollen. Die an soziale Strukturen und menschlichen Anstand glauben. Die verstanden haben, dass Geld nicht alles ist und dass Politik dies abbilden sollte. Die die aktuellen social movements beleben und ausprobieren, no-groth, slow-food, no-consumption und shared economy Konzepte. Die im Internet und mit Apps eine neue Welt designen. Die wollen, dass Europa wieder gesellschaftliche Avantgarde wird, um den Planeten Erde zu retten, anstatt sich wahlweise den Amerikanern zu ergeben, den Chinesen anzubiedern oder von den Russen treiben zu lassen. Es ist Zeit, der Jahrtausende alten europäischen Erzählung von der besseren Gesellschaft neues Leben einzuhauchen, unser eigenes ideengeschichtliches Kulturgut wiederzufinden. Grenzschließung, nationale Interessen, Überwachung, Kontrolle – so lauten die Rezepte, die derzeit in Europa en vogue sind. Es sind Diskurse der Einengung und Ausgrenzung, sie klingen bekannt und wecken schlechte Gefühle. Wir wissen auch, oder sollten uns erinnern, wo sie hinführen können. Wir werden damit rechnen müssen, dass charismatische Menschenfänger unsere Massenmediendemokratien mit immer schneller wechselnden Probleminszenierungen in Furcht und Schrecken versetzen. Die Reaktion auf das öffentliche Migrationstheater oder den Terror zeigt, welches Radikalisierungspotenzial jene in sich tragen, die meinen, sie hätten etwas zu verlieren. Fälschlicherweise denken sie dabei an materielle Güter wie Geld, Eigentum, Raum. Dabei haben sie in Wirklichkeit drei andere Dinge zu verlieren, die ungleich viel schwerer wiegen: ihre politische Selbstachtung, ihre Zivilisiertheit und ihre Humanität. Dafür stand Europa immer und dafür sollte Europa auch in Zukunft stehen! Ulrike Guérot


a r T e h c s i ä p o r u e r e D

Friedenssicherung, Rechtsstaatlichkeit, eine selbstkritische Erinnerung und die Achtung der Menschenrechte – taugen diese Lehren aus der Geschichte noch für die Gegenwart und Zukunft? Mehr denn je, wie ich meine. Das Mittelmeer, einst Symbol des Lebens, ist heute zu einem Symbol des Todes geworden. Dort haben Tausende ihr Massengrab gefunden auf ihrer verzweifelten Suche nach Asyl und Schutz vor Krieg, Terror und Gewalt. Diese Ereignisse sind aber noch keine Vergangenheit, auf die man sich irgendwann einmal im Modus des Gedenkens oder der Reue zurückbeziehen wird, sondern eine Gegenwart, auf die wir hier und jetzt reagieren müssen. Hier sind es gerade auch die Künstlerinnen und Künstler, die die Aufmerksamkeit auf das lenken, wovor

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die Gesellschaft die Augen verschließt, und sie an das erinnert, was sie gerade am liebsten vergessen würde. „Die Toten sind die Unsichtbaren. Sie sind aber nicht die Abwesenden“, hat Victor Hugo einmal geschrieben. Noch deutlicher hat Georges Bernanos dieses Grundprinzip einer auf Verantwortung, Rechenschaft und Versöhnung ausgerichteten Erinnerungskultur formuliert: „Die Zukunft gehört nicht den Toten, sondern denen, die von den Toten sprechen und erklären, warum sie gestorben sind.“ Aleida Assmann


JULIE MAJ JAKOBSEN (* 1982) absolvierte 2010 den Studiengang Szenisches Schreiben am Theater Aarhus und zählt seitdem zu den wichtigsten Stimmen des zeitgenössischen Theaters in Dänemark. Sie war Hausautorin am Theater Momentum in Odense und ihre Stücke erlebten zahlreiche Inszenierungen in Dänemark und Deutschland. Für ihr Stück Das Abendland wurde Jakobsen in Dänemark als beste Dramatikerin des Jahres 2018 ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es: „DAS ABENDLAND VEREINT POESIE, VER-

ZWEIFLUNG, GEWALT, MITGEFÜHL, ANGST UND OHNMACHT IN DER KONFRONTATION ZWISCHEN UNS AUF DER RICHTIGEN SEITE DER GLASTÜREN UND DEN FLÜCHTLINGEN, DIE DRAUSSEN AUF DER ANDEREN SEITE STEHEN.“

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Wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert und zu solchem Volke kรถmmt, und dreifach wehe dem, der, so wie ich, von groร em Schmerz getrieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kรถmmt! Friedrich Hรถlderlin, Hyperion

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Impressum

Theater Vorpommern GmbH Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2020/21 Geschäftsführung: Dirk Löschner, Intendant; Peter van Slooten, Verwaltungsdirektor Redaktion: Oliver Lisewski Gestaltung: Büro Jakobs & Hahn, Hamburg / Wiebke Jakobs Textnachweise: Werner Weidenfeld: Europas Seele suchen. Eine Bilanz der europäischen Integration, Baden Baden 2017, S. 5-7. / Interview mit Julie Maj Jakobsen: https://iscene.dk/2017/11/29/dilemmaet-om-flygtninge / Aleida Assmann: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte, München 2018, S. 187ff. / Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie, München 2017, S. 309ff. / Hans-Jürgen Heinrich: Fremdheit. Geschichten und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart, München 2019, S. 15ff. / Annette Kuhn: Warum sitzt Europa auf dem Stier? Matriarchale Grundlagen von Europa. In: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NRW: Frauen verändern EUROPA verändert Frauen. 2009. http://www.hdfg.de/pdf/Europa-Handbuch-08_ Kuhn.pdf / Christof Mandry: Die Menschenrechte - eine große Idee, in: Etienne Francois, Thomas Serrier (Hrsg.): Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte. Bd.1., Darmstadt 2019, S.230-243. / Bo Stråht: Brüssel oder der Austritt aus der Geschichte, in: Etienne Francois, Thomas Serrier (Hrsg.): Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte. Bd.1., Darmstadt 2019, S.513. Bildnachweise: S. 1/2, 7, 22: Illustrationen von Michael Hahn; S. 12: Jean-Jacques-François Le Barbier: Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (1789); S. 14: Tizian: Raub der Europa (1560); S. 16-17, 20-21: pxhere; S. 18: Heinrich Bünting: Europakarte in Form einer Jungfrau (1582).



THEATER VORPOMMERN GMBH SPIELZEIT 2020/21


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