Programm Woyzeck

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WOY ZECK SPIELZEIT 2020/21



Woyzeck ist die offene Wunde. Heiner Müller


Aufführungsdauer: 1

Stunde und 25 Minuten, keine Pause

Premiere in Greifswald am 22. August 2020 Premiere in Stralsund am 26. September 2020 Ausstattungsleiter & Kostümdirektor: Christopher Melching / Ausstattungsassistenz: Carolin Wendorff / Technischer Direktor: Christof Schaaf / Produktionsleitung: Eva Humburg / Beleuchtungseinrichtung: Christoph Weber / Bühnentechnische Einrichtung: Jens-Uwe Gut / Toneinrichtung: Nils Bargfleth / Bühnenobermeister: Robert Nicolaus (G), Michael Schmidt (S) / Bühnenmeister: Patrick Ernst (G), Jens-Uwe Gut (G), Andreas Flemming (S), Michael Maluche (S) / Leitung Beleuchtung: Kirsten Heitmann / Beleuchtungsmeister: Thomas Haack (G), Christoph Weber (G), Roland Kienow (S), Marcus Kröner (S) / Leitung Ton: Daniel Kelm / Tontechniker: Nils Bargfleth (G), Matthias Hilliger (G) / Werkstätten: Leitung Tischlerei: Stefan Schaldach / Leitung Malsaal: Ulrich Diezmann, Anja Miranowitsch (Stellv.) / Leitung Dekoration: Mary Kulikowski / Kostüm­ abteilung: Gewandmeister: Ramona Jahl (Damen/Herren), Eva Craig (Damen), Andrea Schütte (Herren) / Modisterei: Elke Kricheldorf / Kostümfundus: Angelika Birghan / Leitung Ankleider: Ute Schröder (G), Petra Westphal (S) / Leitung Maske: Carolina Barwitzki, Bea Ortlieb (Stellv.) / Leitung Requisite: Alexander Baki-Jewitsch (G), Christian Porm (S)

Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen. Es wird gefördert durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

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WOYZECK

VON GEORG BÜCHNER Inszenierung ___________________________ Reinhard Göber Bühne und Kostüme_________________________ Stefan Heyne Dramaturgie___________________________ Sascha Löschner Regieassistenz und Abendspielleitung____________ Oliver Scheer Inspizienz_________________________________ Jürgen Meier Souff lage_____ Klemens Humburg / Lina Schmidt (FSJ) Woyzeck_______________________________ Mario Gremlich Marie___________________________________ Sabrina Strehl Tambourmajor__________________________Hubertus Brandt Doktor____________________________________ Tobias Bode Margret_______________________________ Niklas Krajewski

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Es wird darauf hingewiesen, dass Ton- und / oder Bildaufnahmen der Aufführung durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind. Zuwiderhandlungen sind nach dem Urheberrechts­ gesetz strafbar.


Fontane schildert in seinem Roman Der Stechlin, dass ein brandenburgischer See seine Oberfläche wie bei einer Hautallergie kräuselt, sobald auf Java Menschen in großer Zahl umgebracht werden. Das ist Empathie. Ähnlich hieß es in Büchners Danton, wenn die Gefangenen guillotiniert werden: »Die Erde müsste eine Wunde bekommen von diesem Streich.« Meines Erachtens sehen wir uns heute einer Veränderung in der Geometrie des Erzählraums gegenüber. Dies sind »Erfahrungsbeben«. Autoren können mit dieser quasi objektiven Geometrie der Erfahrungsräume nicht nach subjektiver Willkür umgehen, nach Geschmack oder Kunstverstand. Sie reagieren vielmehr als professionelle Seismographen mit Messungen. Ihr Meßinstrument heißt Ahnungsvermögen. Georg Büchner hat dieses Instrument mit größter Präzision angewendet. Das ist das, was ich modern nenne.

Alexander Kluge

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Ist radikal sein nicht die Sache an der Wurzel fassen, die der Mensch ist? So formulierte es ein Zeitgenosse und anderer Emigrant auf demselben Fixstern, der fünfundzwanzigjährige Marx. Aber heißt nicht das immer, die Wurzel auszureißen? Ist nicht das der Inhalt des zupackenden 20. Jahrhunderts? Kamen seine Verwirklichungen nicht Verwüstungen gleich, hat es nicht die Ideen verbraucht wie die Leiber, oder schlimmer gesagt: die Ideen realisiert, indem es die Leiber verbrauchte. Man weiß, nach seinen Kriegen und Revolutionen, mehr davon, was ein Mensch ist, und nicht mehr, wie ihm zu helfen ist; man kennt die Bestialität, aber kaum noch die Menschheit. Wenn die Ideen begraben sind, kommen die Knochen heraus. Volker Braun


Der leere Raum, die Lücke zwischen der Erfahrung, in diesem Moment auf unserem Planeten ein normales Leben zu führen, und den öffentlichen Erzählungen, die zur Sinngebung für dieses Leben angeboten werden, ist ungeheuer groß. Darin liegt die Trostlosigkeit, nicht in den Tatsachen.

John Berger

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Fast alles, was wir ‚höhere Kultur‘ nennen, beruht auf der Vergeisti­gung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz; jenes ‚wilde Tier‘ ist gar nicht abgetötet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht. FRIEDRICH NIETZSCHE

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BÜCHNER BLEIBT UNSER ZEITGENOSSE

DER REGISSEUR REINHARD GÖBER ÜBER SEINE INSZENIERUNG

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Sascha Löschner: „Ein vielmal vom Theater geschundener Text“ sagte Heiner Müller über Büchners „Woyzeck.“ Was interessiert Dich heute an Autor und Text? Reinhard Göber: Georg Büchner ist ein Phänomen! Er schafft bis zu seinem frühen Tod mit 23 Jahren in seinen Stücken eine einzigartige Synthese aus authentischen Stoffen und künstlerischer Verarbeitung. „Woyzeck“ liegt das Gutachten des Prof. Dr. Clarus über die historische Person des arbeitslosen Friseurs und zeitweiligen Soldaten Johann Woyzeck zugrunde. Bei „Dantons Tod“ werden Protokolle der Revolutionssitzungen verarbeitet. Die Flugschrift „Der Hessische Landbote“ zitiert aus Statistiken. Die Erzählung „Lenz“ bezieht sich zum Teil wortwörtlich auf das Tagebuch des Pfarrers Oberlin, bei dem Lenz ein paar Wochen zu Gast war. „Leonce und Lena“ hat den Hofstaat des Großherzogtums Hessen-Darmstadt zum Vorbild, z.B. Ludwig I. als König Peter. Büchner ist der Vater der Moderne. Seine Traditionslinien laufen über Hauptmann, Wedekind, Brecht bis zu Artaud und Heiner Müller … und ein Ende seines Einflusses ist nicht abzusehen, er bleibt auch im 21. Jahrhundert ein Zeitgenosse. Sascha Löschner: Gibt es eine spezielle Zuspitzung des Konflikts in Deiner Inszenierung? Reinhard Göber: Das offene Fragment „Woyzeck“ spielt bei uns in einer „Geschlossenen Gesellschaft“, geprägt aus Perspektivlosigkeit und Prekariat, aber auch dem Wunsch nach sozialer Anerkennung und Liebe, nach einem anderen Leben in einer triebunterdrückten Gesellschaft, mit obskuren wissenschaftlichen Experimenten, die sich klar in ein „Oben“ und „Unten“ unterteilt. Verlorene Seelen sind sie alle, mit Woyzeck als Fixpunkt ihrer Projektionen. Sascha Löschner: Ist denn die Gesellschaft zu Büchners Zeiten mit unserer vergleichbar? Reinhard Göber: Wir leben in einer Traditionslinie der grundsätzlichen Antagonismen einer Klassengesellschaft seit Büchner, nur auf einem anderen materiellen und kulturellen Niveau. Man kann ja argumentieren wie Büchner, wenn er im „Hessischen Landboten“ Sozialstatistiken benutzt. Argumente für das Auseinandertriften von „Reich“ und „Arm“ finden sich bis heute endlos und vielgestaltig. In einem der reichsten Länder der Welt verdienen heute 20 Prozent der Bevölkerung weniger als 2203,00 Brutto, 40 Prozent der Deutschen haben keine Ersparnisse, 11 Millionen Menschen können von ihrer Rente nicht leben. Dagegen verdienen 2 Millionen Menschen mehr als 750.000 Euro Netto im Jahr und 627. 000 Menschen finanzieren ihr Leben ausschließlich aus ihrem Vermögen! Und Corona vertieft die Gräben. Sascha Löschner: Deine Inszenierung atmet Endzeitstimmung. Ist alles hoffnungslos? Reinhard Göber: Wir leben seit Jahrtausenden in permanenten Endzeitstimmungen, die jetzige ist sicherlich im Moment noch gut zu ertragen, seit 75 Jahren haben wir relativen Frieden und relativen Wohlstand in Europa, den Jugoslawien-Konflikt mal ausgeschlossen. Aber im biblischen Sinne stimmt es. Dort beschreibt „Endzeitstimmung“ die Spanne zwischen dem ersten und zweiten Erscheinen von Jesus. Da sind auch die Menschen in unserer „Geschlossenen Gesellschaft“. Marie ist am Ende tot. Doch hier hat sich nicht nur Woyzeck zum Mörder gemacht.


NACHT

Wieder eine Nacht herabgestiegen Auf das alte, ew’ge Erdenrund, Wieder eine Finsternis geworden In dem qualmerfüllten Kerkerschlund. Georg Büchner

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Sollte Sie vielleicht der Ton dieses Briefes befremden, so bedenken Sie, dass es mir leichter fällt, in Lumpen zu betteln, als im Frack eine Supplik zu überreichen und fast leichter, die Pistole in der Hand: la bourse ou la vie! zu sagen, als mit bebenden Lippen ein: Gott lohn’ es! zu flüstern. Georg Büchner an Karl Gutzkow Ende Februar 1835

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GEWALT.

Wieso laufen Menschen Amok? Wenn ein Mensch wie im Rausch tötet, löst das Trauer, Entsetzen und Unverständnis aus. Sind solche Menschen verrückt? Ist ihnen einfach die Sicherung durchgebrannt? Wissenschaftliche Untersuchungen geben einen tieferen Einblick in die Psyche von Amokläufern. Insbesondere bei jungen Tätern fallen Gemeinsamkeiten auf. Das hat die Amokforscherin Professor Britta Bannenberg in einer bislang in Deutschland beispiellosen Forschungsarbeit herausgefunden. (…) Jede Amoktat wird irgendwo angekündigt, fand die Justizprofessorin heraus – entweder in Internetforen oder gegenüber Freunden, die das allerdings meist nicht ernst nehmen. Ziel einer Amoktat ist es, möglichst viele Menschen zu töten und ein möglichst großes Medienecho zu erzielen, um sich nachhaltig ins Gedächtnis einzuprägen. Der Amoklauf ist eine Demonstration von Macht und Hass auf die Gesellschaft. Der Suizid, der meist am Ende der Tat steht, ist dabei nicht Ausdruck von Depression, sondern der Höhepunkt der Selbstinszenierung. Auch der Nachahmer-Effekt spielt bei jungen Tätern eine Rolle – sie vollziehen die Tat in etwa so, wie es ihre Vorbilder aus vergangenen Amoktaten gemacht haben und erschießen sich selbst. Erwachsene Amokläufer sind ebenfalls Einzelgänger und fast immer Männer. Ihre Motive sind aber vielfältiger als die junger Amoktäter. Prof. Bannenberg hat 39 Fälle mit 40 Tätern im Zeitraum von 1913 bis 2015 untersucht. Bei einem Drittel der Fälle fand sie eine paranoide Persönlichkeitsstörung. Ebenso häufig hatten die Täter eine krankhafte Psychose, vor allem die Form der paranoiden Schizophrenie. Außerdem gab es psychopathische Persönlichkeiten mit sadistischen Anteilen. Anders als junge Täter fallen Erwachsene oft schon im Vorfeld auf: Sie schimpfen und klagen an. Oft sind es Menschen, die in Beruf und Beziehung gescheitert sind. Alkohol und Drogenkonsum spielen eine Rolle. Ähnlich wie bei jungen Amokläufern treiben sie Hass und Groll zur Tat – auch sie wollen Rache üben.

Angelika Wörthmüller

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Der Gedanke, dass für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter. Georg Büchner

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H C I R O T K O D “ R R N E R „ H S Z IT TE ’ B A H Seit langem hat die Büchner-Forschung von Experimenten Liebigs Kenntnis genommen, die denen des Doktors im Woyzeck gleichen. Liebig hat in Gießen ernährungs­ physiologische Versuche an Soldaten durchgeführt, in denen das Gewicht der Nahrungsmittel in Relation gesetzt wurde zum Gewicht der Extremente; ferner analysierte er die chemische Zusammensetzung des Urins von Fleisch- und von Pflanzenfressern. Büchner hat 1833/34 in Gießen, in unmittelbarer Nähe Liebigs, studiert. Die Kongruenz des Menschenversuchs im Woyzeck und der Liebigschen Versuche ist so frappant, dass kaum ein Zweifel bleiben kann, was dem Dichter hier vor Augen stand. (…) Der Mediziner Büchner brachte vermutlich für Liebigs Experimente ein gewisses medizinisch-fachliches Interesse auf, im Rahmen seiner begrenzten Kenntnisse in organischer Chemie. Ein ganz anderes Interesse aber, behaupte ich, musste der Revolutionär Büchner daran nehmen. Ihn musste die Tatsache Menschenversuch elektrisieren. Er musste sich die Frage stellen: was bedeuten solche Versuche für die „unterst Stuf von menschliche Geschlecht“ für die Soldaten? Und was erbringen sie für die herrschende Klasse, die über Woyzeck und seinesgleichen kommandiert? Mein Lösungsvorschlag: Es handelt sich weder um den sadistischen Spleen eines „Wissen­schaftlers“, der nicht ganz richtig im Kopf ist, noch um die Forschung eines ‚ehrgeizigen und erfolgbesessenen Experimentalphysiologen (Buddecke). Es handelt sich nicht um eine chemische Verbindung (Derivat der Hippursäure), sondern um einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Der Zweck ist: das Fleisch, den kostenintensiven Bestandteil der Armeeverpflegung, durch das billige Surrogat Hülsenfrüchte zu ersetzen. Der Menschenversuch des Doktors ist demnach rational im höchsten Grad, wenn auch in einem unerwarteten Sinn: nicht als ‚reine‘ Wissenschaft, sondern ökonomisch: rationell. Der Zweck ist Rationalisierung, verhängt von denen, die wirtschaften und herrschen, über diejenigen, die niedergehalten und bewirtschaftet werden. Die Aus­ beutungsrate zu steigern, das ist das würdige Ziel dieser Wissenschaft.

Alfons Glück

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IM ERBSENWAHN

Ein fragwürdiges Ernährungsexperiment im 19. Jahrhundert

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Durch Georg Büchners „Woyzeck“ gelangte der Fall zu Berühmtheit: 1833 wollte der Chemiker Justus von Liebig herausfinden, ob sich tierisches Eiweiß durch den Verzehr von Hülsenfrüchten ersetzen lässt. Dazu startete er einen kuriosen Menschenversuch – mit gefährlichen Folgen. Die Forderung nach weniger Fleisch auf dem Teller wird immer lauter. Greenpeace beispielsweise rät zu mehr Bohnen, Erbsen und Linsen, denn auch die würden Eiweiß enthalten. Die Frage, ob Fleisch wirklich durch Hülsenfrüchte ersetzt werden kann, beschäftigt die Wissenschaft seit 180 Jahren. 1833 wurden dazu die ersten Versuche durchgeführt, und zwar an der Uni Gießen. Versuchskaninchen waren Soldaten, der Versuchsleiter hieß Justus von Liebig. Ein Schwerpunkt seiner Forschung galt dem Fleisch­ersatz. Ein berühmter Neurologe war Zeuge des wohl ersten Experiments zur Frage, ob Hülsen­früchte Fleisch ersetzen können. Nach seiner Schilderung musste der Proband drei Monate lang Erbsbrei essen – und nichts als Erbsbrei. Vertragsgemäß hatte er sich jederzeit für Untersuchungen zur Verfügung zu halten. Ganz besonders wichtig war neben der körperlichen und seelischen Verfassung die Untersuchung des Urins, weil er Rückschlüsse auf den Eiweißstoffwechsel zulässt. Dafür erhielt die Versuchsperson zwei Groschen am Tag. Der kommerzielle Hintergrund der Studie: Gelänge es teures Fleisch durch Trockenerbsen zu ersetzen, so könnte man das Militär und das Proletariat viel billiger verköstigen. Doch die extrem einseitige Speise bekommt dem Probanden überhaupt nicht. Er entwickelt allmählich Wahnvorstellungen, leidet unter Halluzinationen. Er verliert die Kontrolle über seine Muskeln, sein Puls wird unregelmäßig. Als er seinen Harn nicht mehr halten kann, gerät der Versuchsleiter in Rage. Der Berichterstatter – Georg Büchner – hat seine Beobachtungen in ein Drama verpackt, es heißt „Woyzeck“ – ein solider Einblick in die Ernährungsforschung der damaligen Zeit. Was auf den Betrachter des Dramas wie eine Satire auf die medizinische Forschung wirken mag, war ziemlich real. Versuche am Menschen waren damals normal. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Ernährungsfragen am Tier zu testen – gab es


doch genug Menschen, die entweder aus Armut mitmachten oder die dazu gezwungen werden konnten. Der Tierversuch kam erst auf, als das Leben eines Menschen mehr Wert hatte als das Leben einer Ziege. Für Büchner, der zum Zeitpunkt der Niederschrift des „Woyzeck“ bereits promovierter Neurologe war, war dieser Stoff natürlich ein gefundenes Fressen. Die neurologischen Symptome, die der Soldat Woyzeck im Laufe der Erbsenesserei entwickelt, sind nicht die Folge psychosozialer Belastung, sondern die Beschreibung einer Vergiftung. Viele Hülsenfrüchte enthalten sogenannte nicht proteinogene Aminosäuren. Das sind – wenn man so will – „gefälschte Aminosäuren“. Sie können vom Körper nicht zur Bildung von Eiweiß genutzt werden. In diesem Falle wirken sie als typische Nervengifte. In den Nährwerttabellen werden diese Gifte übrigens als wertvolles Eiweiß ausgewiesen. Problematisch ist in Gartenerbsen vor allem ein Stoff namens BIA, ausgeschrieben ß-(Isoxazolin-5-on-2-yl)-alanin. Daraus bildet sich im Körper ein Stoff namens BOAA, und der verursacht schwere Nervenschäden. Er ist auch in Platterbsen enthalten und führt in Anbauländern wie Bangladesch oder Äthiopien immer wieder zu Vergiftungen. Die Muskeln versagen dann ihren Dienst, auch Störungen der Blasenfunktion sind ein typisches Symptom – gerade so wie bei Woyzeck. Und woher kommen die Halluzinationen? Von einem Stoff namens DOPA. Auch der ist in Erbsen reichlich enthalten. Es geht hier wohlgemerkt nicht um die Verzehrgewohnheiten von Erbsenliebhabern – es geht um toxische Effekte, die auftreten können, wenn die Erbsen nicht mehr Beilage zum Fleisch oder Zutat im Eintopf sind, sondern ganz bewusst in großer Menge anstelle von Fleisch gegessen werden – gerade so wie im „Woyzeck“ geschildert. Das ist Wahnsinn – so oder so. Es gibt übrigens ein ganz einfaches Gegenmittel: Tierisches Eiweiß! Mahlzeit!

Udo Pollmer

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Ich würde Mengele nicht für einen Sadisten halten, denn das Wesen eines Sadisten ist ja, dass er an dem Schmerz seines Opfers Freude hat. Bei Mengele hatte man das Gefühl, dass er diesen Schmerz gar nicht merkt, der fällt ihm nicht auf. Die Häftlinge waren für ihn Meerschweinchen, Ratten, mit deren Seelenleben und Leiden man sich überhaupt nicht beschäftigt. Dr. Ella Lingens Gefangene und Häftlingsärztin in Auschwitz, über Josef Mengele

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Impressum

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Theater Vorpommern GmbH Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2019 / 20 Intendant: Dirk Löschner Verwaltungsdirektor/Kaufm.Geschäftsführer: Peter van Slooten Redaktion: Sascha Löschner Gestaltung: Büro Jakobs & Hahn, Hamburg Quellen: John Berger: Gute Nachrichten, Schlechte Nachrichten. Fünf Essays 1989-1992, Leipzig 1992; Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen. Aus der Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000 (https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis; letzter Zugriff 18.8.2020); Georg Büchner: Werke und Briefe, München 1988; Alexander Kluge: aus der Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2003; (https://www. deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis; letzter Zugriff 18.8.2020); Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, 1886; In: ders.: Kritische Studienausgabe, Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Neuausgabe 1999. Udo Pollmer: Im Erbsenwahn. Ein fragwürdiges Ernährungsexperiment im 19. Jahrhundert; (https://www.deutschlandfunkkultur.de/im-erbsenwahn.993.de.html?dram:article_id=266537, letzter Zugriff am 16.8.2020); Anna Rothenfluh: Geschichte der Menschenversuche: Geköpfte unter Strom, Pestflöhe und Gasbrand. Artikel aus dem online-Magazin Watson, Zürich, 22.05.2017; (http://www.watson.ch/Wissen/Best%20of%20 watson/565426547-Geschichte-der-Menschenversuche--Gek%C3%B6pfte-unter-Strom--Pestfl%C3%B6he-undGasbrand?ub=100&ss=0&ut=0&sp=36&utm_av=B; letzter Zugriff 16.8.2020); Angelika Wörthmüller: Gewalt. Wieso laufen Menschen Amok? https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/gewalt/amok-amoklaeufe-100.html (letzter Zugriff am 17.8.2020); Alfons Glück: Der ‚Woyzeck‘. Tragödie eines Paupers. In: Georg Büchner, Ausstellung, Der Katalog, Basel, Frankfurt am Main 1987. Fotos: Peter van Heesen


Es gibt geschichtliche Epochen, in denen Wahnsinn das zu sein scheint, was er ist: ein seltenes und ab­normes Elend. Es gibt andere Epochen – wie jene, in die wir gerade ein­getreten sind –, in denen Wahnsinn offenbar typisch ist. John Berger


THEATER VORPOMMERN GMBH SPIELZEIT 2020/21

Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt. GEORG BÜCHNER


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