2. PHILHARMONISCHES KONZERT
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2. Philharmonisches Konzert Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21 1. Adagio molto – Allegro con brio 2. Andante cantabile con moto 3. Menuetto. Allegro molto e vivace 4. Finale. Adagio – Allegro molto e vivace – Pause – Musik zum Trauerspiel „Egmont“ von Johann Wolfgang von Goethe für Sopran, Sprecher und Orchester op. 84 Ouvertüre 1 „Die Trommel gerühret!“ 2. Der erste Zwischenakt 3. Der zweite Zwischenakt 4. „Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein“ 5. Der dritte Zwischenakt Solo-Oboe: Julia Hoffmann 6. Der vierte Zwischenakt 7. Clärchens Tod bezeichnend 8. Melodram 9. Siegessymphonie Die Zwischentexte basieren auf den Dichtungen von Friedrich Mosengeil und Franz Grillparzer Soobhin Kim, Sopran Felix Meusel, Sprecher Philharmonisches Orchester Vorpommern Dirigent: GMD Florian Csizmadia
Öffentliche Generalprobe: Mo 16.10.2023, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal Konzerte: Di 17.10.2023, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal Mi 18. & Do 19.10.2023, Stralsund: Großes Haus Mo 23.10.2023, Putbus 2
Die koreanische Sopranistin SOOBHIN KIM wurde in Seoul geboren. Ihre Leidenschaft für Gesang und Musik führte sie an die Arts High School in Seoul und schließlich an die Universität der Künste Berlin. Mit 16 Jahren begann sie ihr Studium bei Prof. Carola Höhn, das sie im Juli 2021 erfolgreich abschloss. Soobhin Kim nahm an zahlreichen Meisterkursen teil und arbeitete mit diversen Künstler*innen zusammen, darunter Eric Schneider, Sebastian Stoermer, Klara Hornig, Frank Hilbrich, Isabel Hindersin, Christian Poewe, Bernarda Horres, Peter Nelson, Peter Maus, Errico Fresis und Axel Bauni. Zu ihrem Repertoire zählen u. a. Rollen wie Blonde („Die Entführung aus dem Serail“), Ännchen („Der Freischütz“), Gilda („Rigoletto“), Oscar („Un ballo in maschera“) und Adele („Die Fledermaus“). Nachdem sie in der Spielzeit 2022/23 am Theater Magdeburg umfangreiche Bühnenerfahrungen sammeln konnte, ist Soobhin Kim seit der Spielzeit 2023/24 Mitglied des Norddeutschen Opernstudios und wird regelmäßig als Solistin am Theater Vorpommern zu erleben sein.
FELIX MEUSEL, geboren in Stralsund, erhielt seine Schauspielausbildung an der Theaterakademie Vorpommern. Für die Jahre 2011 bis 2014 war er am Theater Vorpommern im Festengagement und in der Zeit u. a. als Romeo in „Romeo und Julia“, als Maik in „Tschick“ sowie als Trinculo in Shakespeares „Der Sturm“ zu erleben. Von 2014 bis Sommer 2017 war Felix Meusel immer wieder als Gast am Theater Vorpommern engagiert – seit der Spielzeit 2017/18 ist er wieder festes Ensemblemitglied am Haus. In dieser Spielzeit ist er u. a. als Michel in Florian Zellers Komödie „Die Wahrheit“ sowie als Jean-Michel in dem Musical „La Cage aux Folles“ zu erleben.
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Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen.
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Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
„Endlich bekam doch auch Herr Beethoven das Theater einmal, und dies war wahrlich die interessanteste Akademie seit langer Zeit.“ Allgemeine musikalische Zeitung vom 15. Oktober 1800
Sinfonie Nr. 1 C-Dur Wien, 2. April 1800. Der Anschlagzettel des Wiener Hoftheaters kündigt einen Konzertabend, „eine große musikalische Akademie“, an. Veranstalter und somit sowohl programmatisch als auch finanziell Verantwortlicher ist Ludwig van Beethoven. Einleitend soll eine Mozartsinfonie gespielt werden. Des Weiteren stehen auf dem Programm eine Arie und ein Duett aus Haydns „Schöpfung“, ein Klavierkonzert sowie ein Septett und die Ankündigung, dass Beethoven selbst am Klavier fantasieren werde. Den (krönenden) Abschluss bildet Beethovens ambitionierteste Komposition des Abends: seine erste Sinfonie. Nicht zufällig rahmen zwei sinfonische Werke den Konzertabend. Vermutungen legen nahe, dass es sich bei dem Mozartwerk um dessen „Jupiter“-Sinfonie gehandelt haben mag, die nicht nur eine tonartliche Entsprechung zu Beethovens Erstling bildet, sondern auch Rückschlüsse auf Beethovens Anspruch an sein eigenes Werk zulassen, das er sicher bewusst in diesen programmatischen Rahmen einbettet. Beethoven hatte es sich nicht leicht gemacht mit seiner ersten Sinfonie. Aus dem Schatten so großer Vorgänger wie Haydn und Mozart herauszutreten, war auch für denjenigen schwer, der ein Vierteljahrhundert später selbst einen geradezu übermächtigen sinfonischen Schatten werfen sollte. Bereits 1795/96 hatte Beethoven einen ersten Schritt in Richtung Sinfonie gewagt – und ihn verworfen. Nun, knapp fünf Jahre später, unternimmt er einen weiteren Anlauf. Vielleicht ist es die Jahrhundertwende, die ihn beflügelt, sich noch einmal einem sinfonischen Unternehmen zu widmen. Er wird nicht mehr auf seine ersten Entwürfe zurückgreifen, sondern etwas völlig Neues erschaffen für ein strahlendes Jahrhundert der Aufklärung. Der Gedanke einer (scheinbar) vorbildlosen Neuschöpfung schlägt sich bereits in der Tonart nieder, ein durchaus absichtsvolles C-Dur, das als „Ausgangstonart“ gleichermaßen für Klarheit, Helligkeit und Neubeginn steht. Diese Lesart der Tonartencharakteristik war im 18. und 19. Jahrhundert durchaus verbreitet und verblasste erst allmählich durch die mittlerweile überwiegende „wohltemperierte Stimmung“. Ihre Ursprünge finden sich in einer Zeit, in der noch die „ungleich schwebend temperierte Stimmung“ in der Instrumentalmusik vorherrschte, was bedeutete, dass sich die jeweiligen Tonarten nicht nur in ihrer Tonhöhe, sondern auch in sich unterschiedlich darstellten und somit deutlich unterscheidbare Intervallmerkmale aufwiesen. Beethoven setzte also bewusst mit dem vorzeichenfreien C-Dur ein Statement, die Neudefinition in Zeiten der Aufklärung. Formal entspricht die Sinfonie durchaus den Gepflogenheiten der Wiener Klassik mit marginal erscheinenden, aber wesentlichen Abweichungen. Der erste Satz beginnt mit einer langsamen Einleitung, wie sie auch bei zahlreichen Haydn-Sinfonien anzutreffen ist, bevor sich der eigentliche Sonatenhauptsatz herauskristallisiert. Doch diese Einleitung ist weit mehr als das sachte Einstimmen auf Folgendes. Hier hat bereits der erste Akkord Signalwirkung – ein Geniestreich im wörtlichen Sinne. Anstelle des zu erwartenden C-Dur, das den Hörer*innen die 5
Haupttonart klar vor Ohren führt, beginnt Beethoven mit einer C7-Dissonanz, die er nach F-Dur auflöst, und es bleibt nicht bei dieser einen harmonischen Überraschung. Ein weiterer Septakkord in G-Dur wird nach a-Moll, also der Tonikaparallele von C-Dur, aufgelöst, gefolgt von einem D7-Akkord, der wiederum in G-Dur mündet. Nun wird eine bewegtere Aktion in Gang gesetzt, die schließlich in das Allegro con brio mündet, und damit zur Grundtonart C und zum Hauptthema des Sonatensatzes führt. Was für ein unerhörter Beginn! Es ist, als wolle Beethoven sich dem tonalen Kern der Sinfonie über Umwege nähern, erst noch ein wenig fantasieren, bevor er zum Thema kommt. Gleichzeitig erwecken diese ersten Takte den Eindruck, als wolle Beethoven die Zuhörer*innen teilhaben lassen an der Entstehung der Sinfonie – einen Einblick geben in die Arbeit des Komponisten, der sich schrittweise dem Kern des Werkes nähert. Dieses Fantasieren, das Beethoven bei der Uraufführung laut Programmzettel unmittelbar vor der Sinfonie bereits am Klavier unternommen hatte, zeigt den Komponisten als Schöpfer, als „Originalgenie“. Es ist dieser Geniegedanke, in dem sich Beethoven ganz als Kind seiner Zeit erweist – in vielfacher Hinsicht. Er wertet den Schöpfungsakt – hier die Entstehung der Komposition – ungemein auf. Damit einhergehend legt er an die Schöpfung, also die Sinfonie, den Maßstab unbedingter Originalität. Hier entsteht ein einzigartiges Werk. Mit diesen ersten Takten ist die Zeit der seriellen Sinfonieproduktion endgültig Vergangenheit. Im folgenden Allegro con brio bewegt Beethoven sich auf den formal bekannten Bahnen eines Sonatensatzes mit einer Exposition, in der zwei gegensätzliche Themen vorgestellt werden, Durchführung und Reprise. Doch hier erweist sich Beethoven ebenfalls als raffinierter Neuerer, denn auch seine thematische Arbeit entspricht einem nachvollziehbaren Schöpfungsprozess: Aus einem einzigen „Urgedanken“, hier dem Hauptthema, wird alles Folgende entwickelt. So besteht zwischen dem ersten und zweiten Thema eine motivische, wenn auch kontrastierende Verwandtschaft, und selbst die Überleitungen speisen sich aus demselben motivischen Material. Anstelle des langsamen Satzes folgt an zweiter Stelle der Sinfonie ein durchaus bewegtes Andante cantabile con moto. Merkwürdig überstilisiert wirkt dieser Satz fast opernhaft und erinnert womöglich nicht nur wegen der gemeinsamen Tonart F-Dur entfernt an Mozarts „Ständchen“ aus dessen Oper „Le Nozze di Figaro“. Während dieser Satz geradezu einem Menuett ähnelt, handelt es sich beim dritten Teil, der tatsächlich mit Menuetto überschrieben ist, viel eher um ein regelrechtes Scherzo. Hier weht kein gemäßigter Wind, sondern der Satz fegt in Skalenbewegungen alles Höfische hinweg. Das Trio zeichnet sich durch betont schlichte Harmonien und sehr kurze Melodiefloskeln aus. Um die Sinfonie abzurunden, verweist das Finale sowohl thematisch als auch durch seine kurze Einleitung wieder auf den Anfang der Sinfonie. Auch hier wird der Schöpfungsprozess zum stilbildenden Element. Wie suchend tasten sich die einleitenden Skalen an das Thema heran, das sich aus eben diesen Bausteinen zusammensetzt und in seiner vollendeten Gestalt das Allegro molto e vivace als Thema bestimmt. Zwischen spielerischer Gelassenheit und energetischer Impulsivität entwickelt das finale Rondo Strukturen eines großen Sonatensatzes. Hier löst sich ein, was direkt zu Beginn angelegt wurde, der satzübergreifende Spannungsbogen neigt sich. Dieses Finale ist kein munterer Kehraus, wie er bei Haydn oft anzutreffen ist, auch kein sin6
fonisches „Opernfinale“ wie es bei Mozart bisweilen der Fall ist, sondern eine Überhöhung des Vorangegangenen, eine erste sinfonische Schluss-Apotheose, die Keimzelle dessen, was ein Vierteljahrhundert später in der „Ode an die Freude“ zur Reife gelangen sollte. Die Uraufführung am Wiener Hoftheater war ein beachtlicher Erfolg. In der Allgemeinen musikalischen Zeitung sprach man von „sehr viel Kunst, Neuheit und Reichthum an Ideen“. Der erste sinfonische Solitär war entstanden und sollte den Aufstieg der Gattung Sinfonie zur „Königsdisziplin“ der Orchestermusik begründen.
„Eine herrliche Kunstschöpfung. Alle Instrumente sind trefflich benutzt, ein ungemeiner Reichthum schöner Ideen ist darin prächtig und anmutig entfaltet, und doch herrscht überall Zusammenhang, Ordnung und Licht.“ Allgemeine musikalische Zeitung vom 13. Februar 1805
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„Zusammengefasster, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muss.“ Johann Wolfgang von Goethe über Ludwig van Beethoven, 1812
Musik zu Goethes Trauerspiel „Egmont“ Zwei Seelenverwandte begegnen sich hier in einem Werk. Johann Wolfgang von Goethe, der mit seinem Trauerspiel „Egmont“ den historischen Grafen Lamoral von Egmond, Feldherr und von 1559 – 1568 Statthalter in den spanischen Niederlanden, zum strahlenden Helden und Freiheitskämpfer stilisiert. Und Ludwig van Beethoven, selbst ein glühender Anhänger der freiheitlichen Werte der französischen Revolution, der es als eine Herzensangelegenheit betrachtete, für dieses Goethedrama eine Bühnenmusik zu komponieren. So sehr konnte sich Beethoven mit dem Drama und dessen Schöpfer identifizieren, dass er bezeugte, die Musik zum Trauerspiel „bloß aus Liebe zum Dichter geschrieben und um dieses zu zeigen, nichts dafür von der Theaterdirektion genommen“ zu haben. Beethoven hat zeitlebens nur wenige Schauspielmusiken geschrieben. Überhaupt war er nicht sehr bühnenaffin. Hingegen zeugen die zahlreichen Vertonungen von Goethetexten in Klavierliedern oder mit Werken wie „Meeresstille und glückliche Fahrt“ von der Bewunderung, die der 21 Jahre jüngere Komponist für den Dichter hegte. Mit dem Schicksal des patriotisch gesinnten Grafen Egmont und seiner Bedeutung für den Niederländischen Freiheitskampf gegen die spanische Fremdherrschaft (1568 – 1648) hatte Goethe einen Stoff gefunden, der im revolutionären Jahr der Uraufführung 1789 über ausreichend politischen Sprengstoff verfügte und den Zeitgenossen die Vision eines moralischen Sieges im bürgerlich-nationalen Befreiungskampf vor Augen führt. An der Form des Dramas und an der Ausarbeitung der Figur des Egmont schieden sich die Geister. Unmittelbar vor der Uraufführung fielen zunächst etliche Passagen aufgrund ihrer politischen Brisanz der Zensur zum Opfer. Doch auch unzensiert bemängelte beispielsweise Friedrich Schiller die heldisch überhöhte Zeichnung des Protagonisten, der „voll übertriebenen Vertrauens zu seiner gerechten Sache“ agiere. Tatsächlich gemahnt der Idealismus, der die Triebfeder allen Handelns dieses Egmonts ist, an den frühen Goethe, an seinen stürmenden und drängenden Helden „Werther“ und dessen absolute Unbedingtheit im Denken und Handeln. Und genau das scheint Beethoven an dem Drama zu reizen: die Bedingungslosigkeit des Freiheitsgedankens, den Egmont repräsentiert, gepaart mit einem überaus idealistischen Humanismus. Eine Bühnenmusik zu „Egmont“ ist von Anfang an vorgesehen. Goethe selbst dichtet zwei Lieder Clärchens für das Drama vor und vermerkt in der Bühnenanweisung eine Musik „Clärchens Tod bezeichnend“. Außerdem soll der große Schlussmonolog Egmonts von Musik begleitet werden, die im Moment seiner Hinrichtung in eine „Siegessymphonie“ mündet. Eine Ouvertüre und vier Zwischenaktmusiken für das fünfaktige Drama komplettieren die Bühnenmusik. Beethovens Komposition ist nicht die erste Begleitmusik zu Goethes „Egmont“ gewesen, aber sicher die nachhaltigste. Erstmals wurde das Drama mit Beethovens 9
Komposition am 15. Juni 1810 am Burgtheater in Wien aufgeführt. In der Folge etablierte sich Beethovens Partitur als die bevorzugte Schauspielmusik für dieses Drama. Bald entwickelt die Komposition sogar ein konzertantes Eigenleben, unabhängig vom Dramentext. Namentlich die Ouvertüre gehört bis heute zu den meistgespielten Konzertstücken. Die anderen Teile der Bühnenmusik stehen dahinter zurück, sind sie doch als ausgesprochene Bühnenmusiken an das Wort und die Imagination einer Dramenhandlung gebunden. Um dennoch eine konzertante Aufführung der gesamten Musik zu ermöglichen, veröffentlichte der Dichter und Stenograf Friedrich Mosengeil 1821 eine gereimte Textfassung, die mit einem Sprecher auskommt, der verbindende Texte zwischen den Musiken deklamiert. Goethe selbst kannte und autorisierte diese Dichtung. Franz Grillparzer erstellte auf Basis des Textes von Mosengeil 1834 eine eigene Variante. 1864 schuf Michael Bernays eine alternative Textfassung. Auch in jüngerer Zeit entstanden noch einige neue Versionen, so 1999 die von Thomas Hengelbrock und Klaus Maria Brandauer oder die auf Goethes Dramenversen basierende Fassung von 2011, die für Tobias Moretti eingerichtet wurde. Die düstere Einleitung der Ouvertüre ist rhythmisch als Sarabande angelegt – ein musikalischer Verweis auf den Stückinhalt, ist die Sarabande als Tanz doch spanischen Ursprungs. Im Hauptteil wird das Geschehen in sich immer wieder steigernden Motiven vorangetrieben, werden lyrische Passagen schroff unterbrochen. Das abrupte Ende der Reprise korrespondiert mit einer Eintragung in Beethovens Skizzenbuch: „Der Tod Egmonts könnte durch eine Pause angedeutet werden.“ Daraufhin folgt eine sich triumphal aufschwingende Coda, die die Siegessymphonie am Ende vorwegnimmt. Das dramatische Geschehen beginnt. Auf den Straßen der besetzten Stadt Brüssel regt sich Unzufriedenheit gegen die spanische Fremdherrschaft, während man den Grafen Egmont als Kriegshelden und Niederländer verehrt. Dieweil die männliche Bevölkerung sich auf dem Marktplatz mit Armbrustschießen die Zeit vertreibt, würde Bürgerstochter Clärchen nur zu gerne zur Waffe greifen und ihrem geliebten Egmont in die Schlacht folgen. Heimlich sind beide in Liebe zueinander entbrannt. Doch Clärchens Mutter sähe es lieber, wenn die Tochter sich nicht nach einem adeligen Heerführer, sondern nach dem bürgerlichen Brackenburg sehnte. Dieser aber hat das Nachsehen. Mit dem Soldatenliedchen „Die Trommel gerühret!“ macht Clärchen der Mutter und ihrem unglücklichen Verehrer unmissverständlich klar, dass sie aus einem anderen als dem gutbürgerlichen Mädchenholz geschnitzt ist: Clärchen würde alles darum geben, ein Paar Hosen tragen zu dürfen, um selbstbestimmt ihrem Egmont in den Freiheitskampf zu folgen. Unterdessen trägt sich der abgewiesene Brackenburg mit trüben selbstmörderischen Gedanken. Die erste Zwischenaktmusik leitet über vom bürgerlich-privaten Schauplatz zu wachsenden politischen Unruhen in den niederländischen Provinzen. Bilderstürmer haben die katholischen Kirchen geschleift. Die spanischen Besatzer reagieren mit Gewalt. Die Stimmung im Volk ist angespannt. Doch Egmont schaut hoffnungsvoll in die Zukunft, geht den Tagesgeschäften nach und schlägt die Warnungen seines Freundes, des Prinzen Wilhelm von Oranien, in den Wind.
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So freundlich die zweite Zwischenaktmusik beginnt, tun sich schon nach kurzer Zeit immer wieder tiefe, dissonante Abgründe auf, Abgründe, die auch vor dem Palast nicht Halt machen, den die erste Szene des dritten Aktes zeigt. Margarete von Parma, die Tochter Karls V. und Halbschwester des spanischen Regenten Philipp, herrscht hier als Regentin der Niederlande – noch, denn sie sieht politische Gewitterwolken deutlich aufziehen, dieweil bei Clärchen und Egmont alles eitel Sonnenschein ist. „Freudvoll und leidvoll“ und „himmelhoch jauchzend“ klingt es bei Goethe und Beethoven, dieweil auch Clärchens Mutter die heraufdämmernde Katastrophe vorausahnt. Doch die verliebte Jubelstimmung der Protagonisten klingt zum Beginn der folgenden dritten Zwischenaktmusik noch nach. Sie wird erst durch einen majestätischen Marsch verdrängt, der die Ankunft des Herzogs von Alba ankündigt.
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Der spanische Herzog kommt mit der erklärten Absicht, hier seinen berüchtigten „Blutrat“ zu halten. Während Wilhelm von Oranien sich den Häschern entzieht, bietet Egmont dem Herzog die Stirn. Zu spät erkennt er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens. Obwohl er der spanischen Krone die Treue gehalten hat, wird Egmont gefangengesetzt und zum Tode verurteilt. Der Vorhang fällt, die Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten. Ein letztes Mal leitet Beethovens vierte Zwischenaktmusik über zur Häuslichkeit Clärchens. Doch auch hier breitet sich Hoffnungslosigkeit aus. Nachdem Clärchen die Vergeblichkeit ihrer verzweifelten Rettungspläne für Egmont und sich erkennt, erbittet sie von dem suizidalen Brackenburg dessen Giftfläschchen: die letzte Möglichkeit, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Während die Musik „Clärchens Tod bezeichnend“ erklingt, entschwindet sie mit dem Fläschchen von der Bühne. Ferdinand, Herzog Albas Sohn, besucht Egmont im Kerker. Zwar ist Egmonts Lage aussichtslos, doch in den Zuschauer*innen offenbart sich, dass Ferdinand für dieselben Ideale einsteht, die Egmont nun zu Fall bringen – ein Funken Hoffnung für zukünftige Generationen. Während Egmont im Kerker dem Morgen seiner Hinrichtung, untermalt von Melodrammusik, entgegendämmert, erscheint ihm die Vision seiner Geliebten in Gestalt der Freiheitsgöttin und scheint ihm den Weg in den Heldentod zu weisen. Friedrich Schiller hatte diese Szene als „Salto mortale in eine Opernwelt“ kritisiert. Tatsächlich finden sich in diesem Finale auffällige dramatische Parallelen zu Beethovens einziger Oper „Fidelio“. Dort erwartet der gefangene Freiheitskämpfer Florestan im Kerker ebenso den Tod wie Egmont. Und auch ihm erscheint der „Engel Leonoren“, der den Weg in die Freiheit weist, den er – noch allein und in Ketten – in seiner Arie bereits musikalisch enthusiastisch beschreitet. Der Freiheitsgedanke, der den Tod überwindet, ist es auch, der am Ende von Goethes Drama die kurze aber umso enthusiastischere Siegessymphonie auslöst, eine Musik, die dem Tod des Helden trotzt und die Freiheit verherrlicht.
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Vorschau 3. Philharmonisches Konzert Sibelius-Zyklus VI
„… etwas, das man in Worten nicht ausdrücken kann.“ Jean Sibelius Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 6 d-Moll op. 104 Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 105 „Tapiola“, Tondichtung op. 112 15. & 16.11.2023, Stralsund 18.11.2023, Greifswald
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Weiterhin im Programm 3. PHILHARMONISCHES KONZERT SIBELIUS-ZYKLUS VI WERKE VON JEAN SIBELIUS 15. & 16.11.2023 Stralsund 18.11.2023 Greifswald
4. PHILHARMONISCHES KONZERT WERKE VON MOZART UND AHO 30.01.2024 Greifswald 31.01. & 01.02.2024 Stralsund
5. PHILHARMONISCHES KONZERT SIBELIUS-ZYKLUS VII WERKE VON MENDELSSOHN, DVOŘÁK UND SIBELIUS 27.02.2024 Greifswald 28. & 29.02.2024 Stralsund 6. PHILHARMONISCHES KONZERT WERKE VON SCHUMANN, WEBER UND HAYDN 26.03.2024 Greifswald 27. & 28.03.2024 Stralsund 31.03.2024 Putbus 7. PHILHARMONISCHES KONZERT ANTON BRUCKNER: SINFONIE NR. 5 B-DUR 16.04.2024 Greifswald 17. & 18.04.2024 Stralsund
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8. PHILHARMONISCHES KONZERT WERKE VON GEORG FRIEDRICH HÄNDEL 28.05.2024 Greifswald 29. & 30.05.2024 Stralsund 31.05.2024 Putbus 9. PHILHARMONISCHES KONZERT WERKE VON JOHANNES BRAHMS 11.06.2024 Greifswald 12. & 13.06.2024 Stralsund 14.06.2024 Putbus
LICHT!: Das neue (interaktive) Spielzeitheft 2023/24
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„Unglücklich ein Land, das keine Helden hat.“
„Unglücklich ein Land, das Helden nötig hat.“ Bertold Brecht
Impressum Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2023/24 Geschäftsführung: André Kretzschmar
Redaktion: Katja Pfeifer Gestaltung: giraffentoast
Textnachweise: Bei den Texten handelt es sich um Originalbeiträge von Katja Pfeifer für dieses Heft. Weitere Literaturhinweise: Geck, Martin: Die Sinfonien Beethovens. Hildesheim – Zürich – New York 2015; Rexroth, Dieter: Beethovens Symphonien. Ein musikalischer Werkführer. München 2005; Ulm, Renate (Hg.): Die 9 Symphonien Beethovens. Kassel – Basel – London –New York – Praha 2013; Archivseiten des Beethoven-Hauses Bonn: https://www.beethoven.de; Hell, Helmut (Hg): Kritischer Bericht zur Beethoven Gesamtausgabe des Henle-Verlages, Abt. 9 ; Bd. 7. München 1998; Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. Berlin 1963 Bildnachweise: S. 3 Soobhin Kim und Felix Meusel. Fotos von Peter van Heesen; S. 7 Beethoven-Denkmal, Bonn. Foto: pixabay; S. 11 Lamoraal van Egmont-Statue, Zottegem. Foto: Paul Hermans auf Wikipedia. org; S. 12 Freiheitsstatue, Liberty Island. Foto: Chris Linnet auf unsplash.com; S. 12 Auguste Rodin: Der Denker. Alte Nationalgalerie, Berlin. Foto: Dguendel auf wikipedia.org; Umschlagrückseite: Leerer Denkmalsockel. Foto: Jan Stubenitzky auf wikipedia.org.