3. PHILHARMONISCHES KONZERT
theater-vorpommern.de
3. Philharmonisches Konzert Sibelius-Zyklus VI
Jean Sibelius (1865 – 1957) Sinfonie Nr. 6 d-Moll op. 104 1. Allegro molto moderato 2. Allegretto moderato 3. Poco vivace 4. Allegro molto – Pause – Sinfonie Nr. 7 C-Dur (in einem Satze) op. 105 „Tapiola“, Tondichtung op. 112
Philharmonisches Orchester Vorpommern Dirigent: GMD Florian Csizmadia
Mi 15. & Do 16. November 2023, Stralsund: Großes Haus Sa 18. November 2023, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen.
2
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Verehrtes Konzertpublikum! Bei der Planung unseres Sibelius-Zyklus haben mir die Sinfonien Nr. 6 und 7 lange Kopfzerbrechen bereitet: Womit die 6. Sinfonie kombinieren, die der Komponist selbst als schwer programmierbar angesehen hat; und womit die einsätzige 7. Sinfonie, die nur gut 20 Minuten dauert? Schließlich habe ich mich entschieden, die beiden Sinfonien im selben Programm zu spielen und mit der Tondichtung „Tapiola“ zu einem reinen Sibelius-Programm zu ergänzen. Damit erklingt nun in einem einzigen Konzert das gesamte sinfonische Spätwerk von Sibelius, was insbesondere im Rahmen eines zyklischen Projekts von großem Reiz ist. Sinnfällig ist die Kombination auch deswegen, weil die drei Werke trotz signifikanter Unterschiede ein verbindendes Element haben: Sibelius geht in ihnen den ab der 3. Sinfonie eingeschlagenen Weg konsequent zu Ende und verzichtet auf die Verwendung traditioneller musikalischer Formen. Stattdessen entwickelt er seine eigenen Formen (denn „formlos“ sind die Werke natürlich nicht) aus dem musikalischen Material, was zu Lösungen geführt hat, die einzigartig und unwiederholbar sind.
Dass ein reines Sibelius-Programm nicht eintönig ist, haben wir – so hoffe ich – bereits im vergangenen Mai gezeigt, als wir die 5. Sinfonie gemeinsam mit dem Violinkonzert und der Pelléas-Suite aufgeführt haben. Auch wenn es sich heute nun um ein reines Orchesterkonzert handelt, garantiert Sibeliusʼ facettenreiche Tonsprache und vielfarbige Instrumentation ein abwechslungsreiches Hörerlebnis, und die drei heute gespielten Werke haben jeweils eine so individuelle Farbe, dass die insgesamt ca. 70 Minuten Musik (die Länge einer einzigen Bruckner- oder MahlerSinfonie!) eine Kombination in einem Programm rechtfertigen. Bemerkenswert ist, dass wir mit diesem Konzert eine Repertoirelücke schließen: Hat einer meiner Greifswalder Vorgänger, Ekkehard Klemm, zwischen 1994 und 1996 dort immerhin alle sieben Sinfonien aufgeführt, so ist die Sechste in Stralsund noch nie zu hören gewesen. Die Siebte hat unser Orchester seit fast 20 Jahren nicht mehr gespielt, und „Tapiola“, unbestritten einer der Meilensteine der sinfonischen Literatur des 20. Jahrhunderts und eines meiner persönlichen Lieblingswerke, ist hier bei uns noch nie aufgeführt worden. Höchste Zeit also, Ihnen diese drei Werke zu präsentieren und den vorletzten Abend unseres Sibelius-Zyklus zu einem kleinen Sibelius-Festival werden zu lassen! Ihr Florian Csizmadia
5
„Die Sinfonie Nr. 6 erinnert mich immer an den Duft des ersten Schnees.“ Jean Sibelius, 1943
Die Entstehung von Jean Sibeliusʼ 6. Sinfonie ist eng mit derjenigen der vorausgehenden 5. Sinfonie verknüpft: Skizzen zur Sechsten reichen zurück bis ca. 1914, als Sibelius an der Fünften arbeitete; ein Thema aus dem Skizzenmaterial zur Fünften wurde dann schließlich in das Finale der Sechsten übernommen. Während der Arbeit an der Fünften sprach Sibelius wiederholt in seinem Tagebuch von „Sinfonien“ im Plural und erwähnte hier sogar bereits die Siebte, sodass diese drei Werke als eine Art Trias gelten können. Dennoch unterscheidet sich die Sechste von den umliegenden Sinfonien, und zwar insbesondere dadurch, dass in ihr überwiegend dunkle Klangfarben vorherrschen. Dies liegt maßgeblich an der Tonart: Traditionell als „Sinfonie in d-Moll“ annonciert, ist dies eigentlich nicht korrekt, und auf dem Titelblatt der Partitur ist auch keine Tonart angegeben. Stattdessen verwendet Sibelius über weite Strecken den dorischen Modus: eine der acht sogenannten Kirchentonarten, die sich für den an das Dur-Moll-System gewöhnten Hörer durch eine altertümliche, archaische Wirkung auszeichnen. Sibelius mag sie durch einen Kontakt mit Alter Musik kennengelernt haben (bezeugt ist, dass er Werke des Renaissance-Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina kannte); die Modi prägen aber auch die ältesten Schichten der Volksmusik, und die finnische Folklore ist hier keine Ausnahme. Eine weitere Charakteristik – in den vorigen Sinfonien vorhanden, aber nirgendwo so radikal ausgeprägt wie hier – besteht darin, dass alle vier Sätze sehr abrupt enden und eine fast aphoristische Kürze implizieren, die man mit dem Stichwort „Sinfonie“ nicht unbedingt verbindet. Neu ist auch, dass Sibelius auf die Anwendung jeglicher traditioneller Formen verzichtet. Auch dies war spätestens ab der 3. Sinfonie vorgeprägt, aber bisher nicht in diesem Ausmaß auf eine gesamte Sinfonie ausgedehnt worden. Nicht einmal das sehr kurze Scherzo gehorcht einem etablierten Formschema, und auch der seit jeher zur Gattung „Sinfonie“ gehörende Sonatenhauptsatz mit einer Dialektik von (mindestens) zwei Themen bleibt aus. Bereits der Anfang des ersten Satzes mit seinen ineinander verschlungenen, schwebenden Linien der Streicher macht unmissverständlich klar, dass hier keine reguläre Themenexposition zu erwarten ist. Ja, eigentlich kann man nicht einmal mehr ein Thema ausmachen – und doch ist alles musikalische Material für die spätere Entwicklung relevant, was zu dem Eindruck großer Geschlossenheit und Kohärenz führt, der gerade diese Sinfonie auszeichnet. Auch in der Behandlung des Orchesters geht Sibelius individuelle Wege. Die Orchesterbesetzung ist, wie in allen seinen Sinfonien und in starkem Kontrast zur vorherrschenden Tendenz der damaligen Zeit, auf die Besetzung des klassischen Orchesters reduziert. Hinzugefügt ist jedoch eine Bassklarinette, deren Verwendung maßgeblich zum dunkel timbrierten Klang des Bläsersatzes beiträgt. Es ist Sibelius’ einzige Verwendung dieses Instruments in allen seinen Sinfonien. Zudem setzt er eine Harfe ein, die sich sonst nur in seiner 1. Sinfonie findet. Die transparente Orchestrierung, die sich durchaus von den umliegenden Sinfonien Nr. 5 und 7 abhebt, lässt klar werden, warum Sibelius – trotz grundsätzlicher stilistischer Unterschiede – zur Zeit der Komposition Mozart und Mendelssohn als seine großen Vorbilder in der Instrumentation bezeichnet hat.
7
Die Uraufführung fand 1923 in Helsinki unter der Leitung von Sibelius statt; das Konzert markierte das letzte Auftreten des Komponisten als Dirigent in seiner Heimat. Dass die Sinfonie schwer zu programmieren ist, hat Sibelius selbst zugegeben und auch darauf hingewiesen, dass das Werk nicht unbedingt dem Zeitgeist entspricht. Die Programmzusammenstellung der Uraufführung war alles andere als glücklich gewählt: Im ersten Teil des reinen Sibelius-Abends standen mehrere kürzere Stücke auf dem Programm, die dem Genre der (gehobenen) Unterhaltungsmusik zuzurechnen sind. Die 6. Sinfonie muss danach regelrecht deplatziert gewirkt haben. Auch spätere Generationen haben sich schwer getan mit dem Werk: Neben der Dritten ist die Sechste die am seltensten gespielte Sibelius-Sinfonie überhaupt. Als mögliches Motto für das Werk gab der Komponist in einem Interview an: „Wenn die Schatten länger werden.“ Es liegt eine gewisse Herbststimmung über dieser Sinfonie und insbesondere über ihrem Ende.
„Wenn die Schatten länger werden ...“ 8
„Die Sechste Sinfonie ist wild und leidenschaftlich im Charakter. Düster mit pastoralen Kontrasten. […] Die Siebte Sinfonie: Freude des Lebens und Vitalität, mit appassionato Passagen.“ Jean Sibelius, 1918
Ganz anders als die Sechste präsentiert sich die folgende 7. Sinfonie, in der phasenweise ein feierlicher, mystisch-religiöser Ton vorherrscht und dessen scherzoartige Abschnitte eine gelöste, fast tänzerische Heiterkeit ausstrahlen. Das Werk steht singulär da, nicht nur in Sibelius’ Schaffen, sondern in der gesamten Sinfonik. Dabei sind seine Besonderheiten keine Neuentwicklung, sondern waren in den vorherigen Sinfonien angelegt; die Siebte ist damit folgerichtiger Abschluss und für viele Betrachter krönender Höhepunkt der Reihe der sieben Sinfonien. Sibeliusʼ Streben nach äußerster Konzentration der musikalischen Mittel und der sinfonischen Aussage ist hier in einem Maß verwirklicht, wie in keiner der vorherigen Sinfonien. Mit einer Spieldauer von wenig mehr als 20 Minuten (und damit kürzer als ein einzelner Satz einer Bruckner- oder Mahler-Sinfonie) fällt sie vor allem durch ihre äußere Form auf: Sie besteht nur aus einem einzigen Satz. Ganz ungewöhnlich ist das nicht, und bei einer flüchtigen Betrachtung könnte man annehmen, Sibelius stelle sich hier in die Tradition von Komponisten, die in einer einsätzigen Struktur die vier traditionellen Einzelsätze einer Sinfonie oder Sonate vereint haben. Erwähnt seien hier als Beispiele Franz Schubert, Robert Schumann, Franz Liszt oder, aus Sibelius’ zeitlichem Umfeld, Arnold Schönberg. Von deren Werken unterscheidet sich Sibelius’ Siebte jedoch in einem signifikanten Punkt: Sie lässt sich selbst bei einer detaillierten Analyse des Notentextes nicht mehr ohne Weiteres in einzelne Abschnitte aufgliedern, und für den Hörer sind formale Zäsuren schlichtweg nicht mehr erkennbar. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass man, punktuell betrachtet, durchaus Elemente traditioneller Sinfonik ausmachen kann: Themenexposition, langsamer Satz, Scherzo, Finale … – sie sind spürbar vorhanden, aber wie sie zusammengefügt sind, entzieht sich auf fast magische Weise dem Zugriff. In der Siebten ist Sibelius damit das einzigartige Kunststück gelungen, anstelle eines sinfonischen Satzes, der aus einzelnen Abschnitten zusammengesetzt ist, eine organisch aus dem musikalischen Material erwachsende „echte“ einsätzige Sinfonie zu schreiben. Maßgeblich gelingt Sibelius diese musikalische Quadratur des Zirkels durch den Aufbau einer ingeniösen Tempodramaturgie: Die in den Noten gedruckten Tempoangaben dienen dabei nur noch der Verständigung zwischen Dirigent und Orchester und sollen durch unmerkliche Übergänge verbunden werden, sind damit aber für den Hörer nicht mehr als Tempowechsel und schon gar nicht als formale Zäsuren wahrnehmbar. Fragen von Tempo und Zeit scheinen in diesem Werk transzendiert. Angelegt war diese Idee bereits im Finale der Dritten und im ersten Satz der Fünften, aber nirgendwo hat Sibelius dies so konsequent auf ein gesamtes Werk angewandt.
11
„Trotz ihrer Kürze ist [die Siebte] die Kulmination seines Schaffens. Ihre Musik ist eine Konzentration des Kernwesens der besten Eigenschaften der restlichen Sinfonien.“ Simon Parmet, finnischer Dirigent und Komponist
Die Sinfonie beginnt mit einer aufsteigenden Tonleiter (die übrigens weit mehr als nur eine Einleitung ist, sondern bereits zur motivischen Substanz zählt und mehrfach wiederkehrt), die in Arabesken der Holzbläser mündet. Ein choralartiger Abschnitt der Streicher führt in einer großen Steigerung zu einem hymnischen Thema, das von der Solo-Posaune angestimmt und den übrigen Bläsern fortgeführt wird. Dieses Thema kehrt später noch zweimal wieder und fungiert als eine Art Ritornell, das die großformale Struktur zusammenhält. Bei seinem letzten Auftreten führt es zu einem überwältigenden Höhepunkt, der eine umgekehrte Rückkehr zum Beginn der Sinfonie einleitet. Wie sich dort Themen konstituiert haben und das Tempo allmählich schneller wurde, zerfällt das Material nun, und die Musik kommt zum Stillstand. Die letzten beiden Takte widersprechen ein wenig dem Bild einer feierlichen Apotheose in C-Dur und werden deshalb von manchen Dirigenten bis heute verändert. Wir spielen den Schluss exakt so, wie Sibelius ihn komponiert hat: Die Trompeten, Posaunen, Pauken und Kontrabässe werden leiser, die übrigen Streicher werden lauter, die Holzbläser und Hörner bleiben unverändert. Statt einem allgemeinen Crescendo am Schluss ein Changieren des Klangs, der den Hörer für einen Moment in der Schwebe lässt, ob das Werk wirklich zu Ende ist – Sibelius ist ein Komponist, der buchstäblich bis zum letzten Takt ungewohnte Wege geht.
12
Ein besonderes Konzept verlangte ursprünglich nach einem besonderen Titel, und so fand die von Sibelius dirigierte Uraufführung 1924 in Stockholm unter dem Titel „Fantasia sinfonica“ statt. Dass das Werk in Sibelius’ Tagebuch auch als „Fantasia sinfonica I“ firmierte, zeigt, dass er darin ein zukunftsträchtiges Konzept sah, das er womöglich auch auf spätere (nicht mehr geschriebene) Werke anwenden wollte. In einem Brief fällt auch der Begriff „Sinfonia continua“, also „durchgehende Sinfonie“. Die Idee war nicht neu: Bereits 1905, also fast 20 Jahre zuvor, hatte Sibelius an seine Frau Aino geschrieben, er wolle in Zukunft statt Sinfonien lieber Sinfonische Fantasien schreiben. Seine Begründung hierfür ist vielsagend: In diesem Genre könne er sich freier bewegen, ohne die Last der Tradition zu spüren. Auch in den 1910er Jahren tauchte der Gedanke wieder auf: 1914 arbeitete er an einer „Fantasia I“, hinter der sich wohl die 6. Sinfonie verbirgt. Und als er sich 1919 kurz mit dem Gedanken trug, die 5. Sinfonie auf deren ersten Satz zu reduzieren, räsonierte er im Tagebuch, ob er das Werk dann „Fantasia sinfonica I“ oder „Symphonie in einem Satze“ nennen solle. Letzterer Titel wurde kurz nach deren Uraufführung dann der 7. Sinfonie von Sibelius offiziell beigegeben. Das Ringen um den Titel zeigt, dass sich Sibelius der Ambivalenz und sicher auch der Einzigartigkeit des Werkes bewusst war. Dass er sich schlussendlich doch für den Titel „Sinfonie“ entschied, lag aber sicher auch daran, dass er sich darüber im Klaren war, dass ein einsätziges Werk auch aus einer anderen Traditionslinie kommen kann, und mit in der in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zur 7. Sinfonie geschriebenen Tondichtung „Tapiola“ lag ein solches Werk vor.
13
„Wir stehen ganz im Bann der düsteren Kiefernwälder; wir hören die heulenden Winde, deren eisige Töne vom Nordpol selbst zu kommen scheinen. Durch alles huschen die Geisterschatten von Göttern und seltsamen Wesen, die die nordische Mythologie bevölkern; sie flüstern ihre Geheimnisse und tanzen ihre mystischen Tänze zwischen Zweigen und Bäumen.“ Walter Damrosch über „Tapiola“ in einem Brief an Sibelius, 1926
Die Geschichte der Orchestermusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist maßgeblich von der Entwicklung zweier Strömungen geprägt: die Absolute Musik, die nichts sein will als Musik an sich und deren Sinfonien sich auf die Tradition der Wiener Klassik rückbeziehen lassen, sowie die Programmmusik, die ihre Anregung und gelegentlich sogar ihren Verlauf außermusikalischen Ideen verdankt. Sibelius gehört zu den wenigen Komponisten (Antonín Dvořák und Edward Elgar sind weitere Beispiele), die sich nicht einseitig diesen Strömungen zuordnen lassen: In seinem Schaffen finden sich neben den sieben Sinfonien, die der Komponist ausdrücklich bezeichnet hat als „Musik, die lediglich Musik ausdrückt“, ein gutes Dutzend Tondichtungen, die zwar keinem außermusikalischen Programm exakt folgen, aber ihre grundlegende Inspiration aus nicht-musikalischen Vorlagen beziehen. Es scheint, als ob sich Sibelius mit diesem Dualismus der Lösung kompositorischer Probleme von zwei Seiten genähert hat: In den Sinfonien löst er sich allmählich von traditionellen Formen; in den Tondichtungen gibt ihm ein programmatischer Vorwurf die Möglichkeit, seine musikalischen Ideen in einen geschlossenen Rahmen zu bringen. So ist es durchaus sinnfällig, dass am Ende von Sibelius’ Schaffen mit der 7. Sinfonie und „Tapiola“ zwei Werke stehen, die nicht nur die beiden Genres, „abstrakte“ Sinfonie und Tondichtung, repräsentieren, sondern die dann auch noch durch die Einsätzigkeit und eine ähnliche Spieldauer miteinander verwandt scheinen. Allerdings gibt es auch einen deutlichen Unterschied, der die gelegentliche Klassifizierung von „Tapiola“ als Sibelius’ „8. Sinfonie“ wenig plausibel erscheinen lässt: In seiner Siebten hat Sibelius, wenn auch in höchst sublimierter Form, Elemente der traditionellen Sinfonie anklingen lassen. Nicht so in „Tapiola“: Es gibt zwei Themengruppen, deren Material aber so eng verwandt ist, dass man von einer monothematischen Anlage sprechen kann. Kontraste der Tonarten oder unterschiedlichen Satzcharaktere gibt es hier nicht, stattdessen ist das Werk in einer einzigen Stimmung gehalten. Dies hängt eng mit dem Programm des Werkes zusammen. Tapio ist in der nordischen Mythologie der Gott des Waldes; im finnischen Nationalepos „Kalevala“ wird er einmal am Rande erwähnt, gehört aber nicht zu den handelnden Personen. Die Endung „-la“ bezeichnet im Finnischen die Heimstatt einer Person (so nannte Sibelius sein Haus „Ainola“, nach dem Vornamen seiner Frau Aino), und damit ist Tapiola die Wohnung des Waldgottes Tapio – mithin also der Wald. Damit macht schon der Titel klar, dass die Tondichtung keiner Handlung folgt, sondern eine Art Stimmungsbild darstellt. Sibelius hat dies unterstrichen, indem er dem Werk eine kurze Erläuterung voranstellte, die er in Prosa angab und von seinem (deutschen) Verleger in Verse formulieren und in dieser Form der Partitur voranstellen ließ: Da dehnen sich des Nordlands düstre Wälder Uralt-geheimnisvoll in wilden Träumen; In ihnen wohnt der Wälder großer Gott, Waldgeister weben heimlich in dem Dunkel. 15
Damit ist die Grundstimmung des Werkes treffend skizziert. Man bräuchte dieses Motto-Gedicht jedoch nicht, denn auch in der Musik selbst wird unmissverständlich klar, dass – verglichen mit anderen musikalischen Wald-Impressionen der Romantik – Sibelius’ Wald kein behaglicher Ort ist; auch allfällige Reminiszenzen an Hörnerschall oder Vogelgezwitscher fehlen völlig. Stattdessen entsteht das Bild einer immensen, menschenleeren Weite und Öde. Die musikalischen Mittel, die Sibelius hierfür einsetzt, sind einerseits so einfach wie wirkungsvoll und können andererseits in ihrem musikhistorischen Kontext geradezu als visionär angesehen werden: Nach dem Startimpuls der Pauke (übrigens eine Parallele zum Beginn der 7. Sinfonie, die genauso beginnt) erklingt in den Streichern ein kurzes Motiv, das, durch Pausen getrennt, unablässig wiederholt wird. Variationen halten sich in Grenzen oder bleiben sogar für eine Zeit lang ganz aus, eine Weiterentwicklung findet de facto nicht statt, und die Formung des Motivs zu einem geschlossenen Thema fehlt gänzlich. Im späteren Verlauf arbeitet Sibelius mit Ostinato-Techniken: der scheinbar endlosen Wiederholung weniger Töne und dem daraus resultierenden Aufbau von oszillierenden Klangflächen, die wiederum ohne Entwicklung bleiben: Sie entstehen scheinbar aus dem Nichts und lösen sich wieder auf. Die Musik wirkt damit nicht nur als Ausdruck der landschaftlichen Weite, sondern auch der Zeitlosigkeit. Mehrfach kommt es zu gewaltigen Klangeruptionen als musikalischem Ausdruck entfesselter Naturgewalten; so auch kurz vor Schluss, wo Sibelius mit einer eindrucksvollen Sturmmusik das Werk zu einem letzten Höhepunkt führt, ehe die Landschaft wieder in Öde versinkt. „Tapiola“ war eine Auftragsarbeit des amerikanischen Dirigenten Walter Damrosch, der auch die Länge des Werkes (15–20 Minuten) vorgab. Damrosch dirigierte die Uraufführung des ihm gewidmeten Werkes 1926 in New York. Die Europäische Erstaufführung fand 1927 in Helsinki statt, gemeinsam mit der finnischen Erstaufführung der 7. Sinfonie. Dirigent war Robert Kajanus, der 1932 auch die erste Schallplattenaufnahme machte. Da der mit Sibelius eng vertraute Kajanus sich nachweislich um eine authentische Wiedergabe im Sinne des Komponisten bemühte, ist dieses faszinierende Klangdokument für heutige Dirigenten eine unschätzbare Hilfe bei der Vorbereitung. Nach anfänglich eher verhaltenen Reaktionen wurde bereits von Sibelius’ Zeitgenossen die Bedeutung von „Tapiola“ erkannt. Nicht nur war bald die Rede von einem Meisterwerk, sondern von einem der bedeutendsten Werke Sibelius’ überhaupt, der damit sogar ungewollt zu einem wichtigen Impulsgeber für die Moderne wurde: Generationen von Komponisten, auch außerhalb von Skandinavien, haben sich von den in „Tapiola“ angewandten Techniken inspirieren lassen. Heute gilt das Werk unbestritten als einer der Meilensteine der Musik des 20. Jahrhunderts. Sibelius arbeitete noch jahrelang an einer 8. Sinfonie, allerdings verbrannte er das gesamte Material, sodass „Tapiola“ zum Schlussstein in seinem Schaffen wurde. Die letzten 30 Lebensjahre verbrachte er in Zurückgezogenheit und ohne weitere Werke zu veröffentlichen – eine Episode, die als das „Schweigen von Ainola“ in die Sibelius-Biographik eingegangen ist.
„Selbst wenn Sibelius nichts anderes geschrieben hätte, würde dieses eine Werk [‚Tapiola‘] ausreichen, um ihm einen Platz unter den größten Meistern aller Zeiten zu sichern.“ Cecil Gray, schottischer Musikschriftsteller
Vorschau 4. Philharmonisches Konzert „Wenn die moderne Kunst die ‚muffige Tradition‘ völlig ablehnt, wie es die Wirtschaft tut, wird sie sich dann aus dem Nichts, aus einer bloßen Täuschung heraus je selbst finden?“ Kalevi Aho Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonie Nr. 31 D-Dur KV 297, „Pariser Sinfonie“ Kalevi Aho: Konzert für Baritonhorn und Orchester DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonie Nr. 38 D-Dur KV 504, „Prager Sinfonie“ Solist: Felix Geroldinger, Baritonhorn Philharmonisches Orchester Vorpommern Dirigent: GMD Florian Csizmadia Öffentliche Generalprobe: Mo 29.01.2024, 19.00 Uhr, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal Konzerte: Di 30.01.2024, 19.30 Uhr, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal Mi 31.01.2024 & Do 01.02.2024, 19.30 Uhr, Stralsund: Großes Haus
19
Weiterhin im Programm 4. PHILHARMONISCHES KONZERT WERKE VON MOZART UND AHO 30.01.2024 Greifswald 31.01. & 01.02.2024 Stralsund
5. PHILHARMONISCHES KONZERT SIBELIUS-ZYKLUS VII WERKE VON MENDELSSOHN, DVOŘÁK UND SIBELIUS 27.02.2024 Greifswald 28. & 29.02.2024 Stralsund 6. PHILHARMONISCHES KONZERT WERKE VON SCHUMANN, WEBER UND HAYDN 26.03.2024 Greifswald 27. & 28.03.2024 Stralsund 31.03.2024 Putbus 7. PHILHARMONISCHES KONZERT ANTON BRUCKNER: SINFONIE NR. 5 B-DUR 16.04.2024 Greifswald 17. & 18.04.2024 Stralsund
8. PHILHARMONISCHES KONZERT WERKE VON GEORG FRIEDRICH HÄNDEL 28.05.2024 Greifswald 29. & 30.05.2024 Stralsund 31.05.2024 Putbus 9. PHILHARMONISCHES KONZERT WERKE VON JOHANNES BRAHMS 11.06.2024 Greifswald 12. & 13.06.2024 Stralsund 14.06.2024 Putbus 20
Keine Premiere mehr verpassen! Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und freuen Sie sich auf regelmäßige Updates aus unseren Häusern, zu unseren Aufführungen und alles Wissenswerte rund um das Theater Vorpommern.
Zum Newsletter anmelden
LICHT!: Das neue (interaktive) Spielzeitheft 2023/24
www.theater-vorpommern.de 21
Impressum Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2023/24 Geschäftsführung: André Kretzschmar
Redaktion: Stephanie Langenberg Gestaltung: giraffentoast
Textnachweise: Bei den Texten handelt es sich um Originalbeiträge von Dr. Florian Csizmadia für dieses Heft. Bildnachweise: S. 3-5: Fotografien vom Sibelius-Monument in Helsinki. Alle im Heft verwendeten Bilder sind rechtefreie Fotos von der Website www.pixabay.com.