5. Philharmonisches Konzert
Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)
Ouvertüre (Orchestersuite) C-Dur BWV 1066
Ouverture
Courante
Gavotte I – Gavotte II
Forlane
Menuet I – Menuet II
Bourrée I – Bourrée II
Passepied I – Passepied II
– Pause –
Gustav Mahler (1860 – 1911)
Sinfonie Nr. 5
1. Abteilung
1. Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt
2. Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz
2. Abteilung
3. Scherzo. Kräftig, nicht zu schnell
3. Abteilung
4. Adagietto. Sehr langsam
5. Rondo-Finale. Allegro
Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: GMD Florian Csizmadia
29.& 30. März 2023, Stralsund (Großes Haus)
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen.
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
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Johann Sebastian Bach: Ouvertüre C-Dur BWV 1066
Zu den musikalischen Formen des Barock, die dieses Zeitalter nicht überdauert haben, gehört die mehrsätzige Ouvertüre. Sie ist dadurch geprägt, dass auf die eigentliche Ouvertüre (die Bezeichnung steht also pars pro toto) eine Reihe von Tanzsätzen folgt, deren Anzahl und Auswahl nicht normiert war. Die Ouvertüre ist dabei der längste Satz, der bei Bach – wenn man, wie wir heute, alle vorgeschriebenen Wiederholungen berücksichtigt – ungefähr die Hälfte der Gesamtspieldauer einnimmt. Der bis heute oft verwendete Begriff „Orchestersuite“ stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist irreführend: Nicht nur gab es im Barock den Begriff „Orchester“ noch nicht, sondern die fraglichen Werke waren nicht für Ensembles bestimmt, die wir heute als Orchester bezeichnen würden. Dazu später mehr. Treffender ist die alternative Bezeichnung „Ouvertüren-Suite“, die sowohl der Mehrsätzigkeit Rechnung trägt als auch der Struktur, denn es gibt im Barock auch Suiten ohne Ouvertüre.
Ihren Ursprung hat die Ouvertüren-Suite im Frankreich des 17. Jahrhunderts: Hier war es Mode, Ausschnitte aus Opern zu Suiten zusammenzustellen. Diese bestanden aus der Opernouvertüre, gefolgt von Tänzen aus dem späteren Verlauf der Oper. Untrennbar verbunden war diese Form mit dem französischen Komponisten Jean-Baptiste Lully. Ob Bach seine Ouvertüren kannte, ist fraglich, da er selbst (anders als manche seiner Zeitgenossen) nie in Frankreich war und Lullys Werke unter strengem Copyright standen und nicht exportiert werden durften. Die Ouvertüren-Suite als Kompositionsform wurde
aber zunehmend außerhalb Frankreichs bekannt und entwickelte sich dort zu einer eigenständigen Gattung. Insbesondere waren die Sätze nicht mehr einer Oper entlehnt, sondern die Suiten waren nunmehr eigens für Konzertzwecke komponierte Werke. Auch stilistisch lehnen sich deutsche Komponisten nicht exklusiv an den französischen Stil an, sondern lassen auch andere Einflüsse erkennen, was ausdrücklich zu den Forderungen der damaligen Zeit zählte und als „vermischter Geschmack“ bezeichnet wurde. Zu den maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligten Komponisten gehört der Bach-Zeitgenosse Georg Philipp Telemann, der als führender deutscher Repräsentant des französischen Ouvertüren-Stils galt. Da Bach und Telemann eng befreundet waren, verwundert es nicht, dass Bachs eigene Ouvertüren in Struktur und Stilistik von Telemann beeinflusst scheinen. Die Entstehung der im heutigen Konzert gespielten Ouvertüre C-Dur liegt im Dunkeln. Ein Autograph Bachs ist nicht erhalten; die älteste Quelle ist eine nicht von Bach hergestellte Abschrift von ca. 1724/25. Allerdings hatte Bach zu dieser Zeit keine Verwendung für das Werk: Er war als Thomaskantor für die Kirchenmusik zuständig; weltliche Musik benötigte er erst wieder, als er 1729 zusätzlich die Leitung des Leipziger Collegium musicum übernahm. Man geht deshalb davon aus, dass die Abschrift für einen Kollegen erstellt wurde, der das Werk aufführen wollte. Nicht auszuschließen ist aber, dass Bach selbst das Werk bei einem nicht mehr zu ermittelnden Anlass verwendet hat. Die Komposition dürfte wohl bereits
Ende der 1710er Jahre entstanden sein, als Bach Hofkapellmeister in Köthen war und für diese Art Repertoire reichlich Verwendung gehabt hat.
Wir orientieren uns in der Interpretation an einigen historischen Erkenntnissen: In Köthen hat Bach das Werk mit Sicherheit in solistischer Besetzung aufgeführt, das heißt mit neun Spielern. Mit Rücksicht auf die Größe unseres Saals haben wir uns für eine größere Besetzung entschieden, die mit 18 Musiker*innen ungefähr der der Leipziger Collegia musica zu Bachs Zeit entspricht und auch in zeitgenössischen Lehrwerken empfohlen wird. Die Aufstellung des Ensembles basiert auf einem historischen Sitzplan aus einer Leipziger Stadtchronik von 1746, der sich auch in anderen historischen Quellen findet. In der Ausführung der Tanzsätze halten wir uns grundsätzlich an die überlieferten Charakteristika der Tänze, berücksichtigen aber die Anweisung von Johann Mattheson (1717), dass ein Tanz, der im Konzert gespielt wird, nicht unbedingt an das originale Tanztempo gebunden ist („Eine Allemande zum Tanzen und eine zum Spielen sind wie Himmel und Erde unterschieden“).
Die Rahmenteile der Ouverture lassen den punktierten Rhythmus der französischen Ouvertüre anklingen, tragen aber die Charakteristik der Allemande in stilisierter Form. Die zentrale Fuge, stilistisch italienisch geprägt, hat konzertante Elemente und stellt die drei Holzbläser den Streichern gegenüber. Von den zwei möglichen Varianten der Courante (italienisch und französisch) wählt Bach die langsamere französische Courante. Die Gavotte ist ein lebhafter Tanz mit heiterem Charakter. In Teil II konzertieren die beiden Oboen vor einer fanfarenähnlichen Begleitung.
Die Forlane ist ein Tanz italienischen Ursprungs. Er wird in deutschen Suiten selten verwendet; es handelt sich hier um die einzige Forlane in den Ouvertüren und Suiten Bachs. Für das Thema in den 1. Violinen verwenden wir einen historischen Bogenstrich von Georg Muffat (1698), der dem wilden, ausgelassenen Charakter des Tanzes Rechnung trägt. Das Menuet ist ein vornehmer Tanz in gemessener Bewegung. Die Bourrée ähnelt im Charakter der Gavotte, soll aber zeitgenössischen Quellen zufolge schneller als diese gespielt werden. Teil II wird vom Bläsertrio allein ausgeführt. Die Suite schließt mit einem Passepied , einer schnelleren Art des Menuetts, der hier die Besonderheit aufweist, dass in Teil II das Thema von Teil I in der Mittelstimme wiederkehrt und diesen Teil als Variation erscheinen lässt.
„Unsagbar ist, was ich von Bach lerne –freilich als Kind zu seinen Füßen sitzend.“
Gustav Mahler
An dieser Stelle könnte ein Artikel über Gustav Mahlers 5. Sinfonie bereits enden – vielleicht sollte er es sogar, denn es stimmt: Alles, was man über dieses Werk wissen muss, sagt die Musik selbst aus. Doch ist Mahlers Musik – und vor allem diese 5. Sinfonie – so beredt, dass die Fülle von Eindrücken vielleicht einer gewissen Einordnung bedarf, zumal der Komponist sich mit diesem Werk selbst auf neue Pfade begab. Und diesen Weg nachzuzeichnen, ist ein lohnenswertes Unterfangen.
Hatte Mahler in den vorangegangenen Sinfonien 2 bis 4 seine Ausdruckspalette um die menschliche Stimme erweitert, so konzentrierte er sich in der Fünften auf den reinen Orchesterklang. Auch entschied er sich bewusst gegen ein außermusikalisches Programm, das bislang alle seine Sinfonien begleitet hatte. Doch nun sprach er sich explizit dagegen aus.
Die Vehemenz, die aus Mahlers Äußerung spricht, scheint begründet zu sein, schließlich suchen bis heute immer wieder Wissenschaftler und Literaten nach einem geheimen Programm, das dieser Sinfonie zugrunde liegen möge, womöglich getrieben von dem Wunsch, diese äußerst kontrastreiche und farbige Musik so besser (in Worte) fassen zu können.
„DIE MUSIK ENTSTEHT OHNE ÄU ß EREN ANLASS. SIE IST IN MIR. ICH ERGRÜNDE NICHTS UND WILL MIR SPÄTER NICHT BESCHEINIGEN
LASSEN …, DASS ES ETWAS ANDERES
WAR. ‚ES‘ GEHT IN MIR UM. ‚ES‘ SOLL WERDEN. NICHTS ANDERES WIRD.
DAS MUSS SO SEIN. NIEMAND SOLL FRAGEN WARUM …!“
In den Sommermonaten der Jahre 1901 und 1902 arbeitete Mahler an dem neuen Opus. Am 20. August 1902 verkündete er freudig: „Endlich bin ich fertig! Die 5. Sinfonie ist also auch da.“ Ja, „da“ war sie, aber fertig noch lange nicht. Schon unmittelbar nach Aufführung der ersten Fassung nahm Mahler umfangreiche Änderungen an der Partitur vor. Viele weitere sollten folgen und so zog sich die Entwicklungsgeschichte der Sinfonie noch über zehn Jahre und mutmaßlich neun Umarbeitungen hin, bis er im Februar 1911 in einem Brief an den Dirigenten Georg Gohler schrieb: „Die 5. Sinfonie habe ich fertig. Sie musste faktisch völlig uminstrumentiert werden. Es ist unfassbar, wie ich damals so völlig anfängerhaft irren konnte. Offenbar hatte mich die in den ersten vier Sinfonien erworbene Routine hier völlig im Stich gelassen – da ein neuer Stil eine neue Technik verlangte.“ Tatsächlich war Mahler erst mit der Zeit klar geworden, wie sehr sich seine 5. Sinfonie formal und musikalisch von den Vorgängerwerken unterschied und dass er – namentlich in der Instrumentierung – neue Wege einschlagen musste, um sein Ziel zu erreichen: musikalische Klarheit.
„Es bedarf nicht eines Wortes, alles ist rein musikalisch gesagt.“
Gustav Mahler
Mahler, der sich während der Sommermonate meist in die Abgeschiedenheit seines nur 20 m² messenden „Komponierhäuschens“ in Maiernigg am Wörthersee zurückzog, um dort zu komponieren, hatte zeitgleich mit der Entstehung der Fünften an mehreren Liedern gearbeitet, die sich zum Teil im Themenmaterial der Sinfonie wiederfinden. Einen weitaus größeren Einfluss hatte aber die Tatsache ausgeübt, dass Mahler in seinem geistigen wie realen Gepäck eine Ausgabe von Bachs „Kunst der Fuge“ mit sich trug. Das Verweben und Überlagern unterschiedlicher Themen war schon immer ein Kompositionsprinzip Mahlers gewesen, aber nun widmete er sich explizit polyphonen Strukturen, die zwar stark von Bachs Meisterschaft inspiriert waren, aber keinen bloßen Rückgriff auf barocke Muster darstellten, sondern eine völlig neue Einbindung historischer Satzweisen in das sinfonische Gefüge zur Folge haben sollten und einen zentralen Gestaltungsgedanken dieser Sinfonie ausmachen.
Schon die äußere Anlage der Sinfonie lässt aufmerken. Das fünfsätzige Werk ist gruppiert in drei Abteilungen, deren erste und dritte jeweils zwei Sätze enthalten und sich um den zentralen Satz, das Scherzo, gruppieren. Dass ein Scherzo – historisch gesehen eher ein leichtfüßiger, nicht ganz so schwerwiegender Satz – hier den Dreh- und Angelpunkt bildet und tatsächlich mit seinen 800 Takten Länge das ausgedehnteste Scherzo der Musikgeschichte darstellt, ist das große Novum dieser Sinfonie.
„GERADE SO, VON GANZ VERSCHIEDENEN SEITEN HER, MÜSSEN
DIE THEMEN KOMMEN UND SO VÖLLIG UNTERSCHIEDLICH SEIN IN
RHYTHMIK UND MELODIK – ALLES
ANDERE IST BLOSS VIELSTIMMIG -
KEIT UND VERKAPPTE HOMOPHO -
NIE – NUR DASS SIE DER KÜNSTLER
ZU EINEM ZUSAMMENSTIMMENDEN UND KLINGENDEN GANZEN ORDNET UND VEREINT.“
Auch mag auffallen, dass der Sinfonie keine Tonart zugeschrieben ist. Gegen die Gepflogenheit, jeder Sinfonie nach der Tonart des ersten Satzes – in diesem Falle wäre es cis-Moll – zu benennen, hatte sich Mahler ausdrücklich verwehrt. Aus gutem Grund, denn dieses Benennungssystem muss versagen bei einer Sinfonie, die im Verlauf von fünf Sätzen vier Tonarten durchmisst und deren doppelte Strukturierung durch Sätze und Abteilungen den ersten und zweiten Satz zu einer gedanklichen Einheit verbindet, die allein durch zwei Tonarten gekennzeichnet ist.
Also keine Tonart, kein programmatischer Beiname – dieses Werk kommt ganz pur daher als
Sinfonie Nr. 5
Die Sinfonie wird mit einer Trompeten-Fanfare eröffnet. Doch der straffe militärische Ton bricht schnell in sich zusammen und weicht einem ausgedehnten Trauermarsch, der diesen ersten Satz bestimmt. Thematische Anklänge an die Lieder „Der Tambourg’sell“ und das Kindertotenlied „Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n“ lassen sich ausmachen. Im Mittelteil intensiviert sich der Ausdruck „leidenschaftlich, wild“, kurze, fast tröstliche Momente keimen in den Celli und Holzbläsern auf, doch der tragische Grundton bricht sich immer wieder Bahn. Abschließende Fanfarenfragmente lassen den Marsch in scheinbarer Ferne verklingen.
Zwar deklariert Mahler diesen Trauermarsch als eigenständig, doch fasst er die ersten beiden Sätze bewusst zu einer „Abteilung“ zusammen, sodass Zusammenhänge zum nun folgenden „stürmisch bewegten“ zweiten Satz sinnfällig sind: Hier scheint die Grundstimmung des Anfangs übernommen zu werden,
auch motivisch verknüpft Mahler beide Sätze, indem er Themen des Trauermarsches in der Durchführung wieder aufgreift. Leidenschaftliche Passagen, die unerwartet von scharfen Trompeteneinsätzen und Schlagwerk abgerissen werden, bestimmen diesen Satz. Aus einem Klangdickicht polyphon geschichteter Ebenen erhebt sich nach mehreren dramatischen Steigerungen und plötzlichen Zusammenbrüchen schließlich ein Bläserchoral in strahlendem D-Dur. Doch Mahler gönnt den Hörer*innen keine erlösende Schlussapotheose, der Choral verebbt – und mit ihm der ganze Satz.
An zentraler Stelle folgt das Scherzo , das als einziger Satz eine Abteilung für sich bildet. Ein ausgedehnter Ländler, der nur im ersten Moment vermag, den Eindruck einer Walzeridylle mit Solohorn zu vermitteln. Schon bald verschieben sich Akzente, verselbständigen sich Instrumentengruppen und eine ausgefeilte Kontrapunktik bestimmt den Fortlauf.
„Ich bleibe bei meinem Prinzip, dass sich nichts wiederholen darf, sondern sich alles aus sich selbst heraus weiterentwickeln muss. Es ist durchgeknetet, dass auch nicht ein Körnchen ungemischt und unverwandelt bleibt“, schildert Mahler das Prinzip, das er hier im Verlauf von Scherzo, Trio und erneutem Scherzo so weit ins Rauschhafte steigert, dass es eine Herausforderung darstellt, diesem Satz nicht zu nehmen, was er so unbedingt braucht: Durchsichtigkeit.
Es ist das polyphone Geflecht vor allem dieses Scherzos, das Mahler dazu veranlasste, die Sinfonie mehrfach zu überarbeiten und die Instrumentierung den Bedürfnissen der Musik anzupassen. Und doch bleibt dieser Satz eine Herausforderung – für Musiker und Dirigenten.
„DAS SCHERZO IST EIN VER-
DAMMTER SATZ. DIE DIRIGENTEN WERDEN IHN FÜNFZIG JAHRE LANG
ZU SCHNELL NEHMEN UND EINEN
UNSINN DARAUS MACHEN, DAS PUBLIKUM – O HIMMEL – WAS SOLL
ES ZU DIESEM CHAOS, DAS EWIG
AUFS NEUE EINE WELT GEBÄRT, DIE
IM NÄCHSTEN MOMENT WIEDER ZU -
GRUNDE GEHT, ZU DIESEN URWELTSKLÄNGEN, ZU DIESEM SAUSENDEN, BRÜLLENDEN, TOSENDEN MEER, ZU
DIESEN TANZENDEN STERNEN, ZU
DIESEN VERATMENDEN, SCHILLERN-
DEN, BLITZENDEN WELLEN FÜR EIN
GESICHT MACHEN? … O KÖNNT ICH
MEINE SINFONIEN FÜNFZIG JAHRE
NACH MEINEM TOD AUFFÜHREN!“
Tatsächlich ist dieses Scherzo von der Art „Zukunftsmusik“ gewesen, die 1911 noch weitgehend auf Unverständnis stieß. Theodor Adorno sollte den Satz als „Novum des Durchführungsscherzos“ betiteln und Mahler klagte, seine 5. Sinfonie sei „ein verfluchtes Werk. Niemand kapiert sie“. Eine pauschale Äußerung, die schon damals so nicht stimmte. Denn der folgende Satz, Adagietto , wurde mit ziemlicher Sicherheit als das verstanden, was er war: eine musikalische Weltflucht und eine Liebeserklärung an die Musik und an Mahlers Ehefrau Alma, die er zum Zeitpunkt der Entstehung der Sinfonie gerade erst kennengelernt hatte. Nur von Streichern und einer Harfe ausgeführt, ist das Adagietto ein verträumtes Lied ohne Worte, in dem Anklänge an das Rückert-Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ zu finden sind. Die nahezu unendliche Melodie steuert im Zentrum des Satzes auf ein Zitat aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ zu, das sogenannte (Liebes)blick-Motiv, eine musikalische Botschaft an Alma, die deren Bedeutung durchaus verstand.
Anders als bei den beiden ersten Sätzen, erfolgt der Übergang vom Adagietto in den Finalsatz fließend. Mahler wählt hier die Rondoform, erweitert sie aber in seinem Sinne, sodass der Satz als großer Schmelztiegel aus Themen und Motiven der vorangegangenen Sätze und zahlreichen fugierten Abschnitten fungiert. Thematische Grundlage ist hier der Choral vom Beginn der Sinfonie, flankiert von einem Teil der Adagiettomelodie als Seitenthema. Der etwas verhaltene Beginn nimmt bald Fahrt auf, und der Satz gipfelt schließlich in dem erneuten Aufgreifen des strahlenden D-Dur-Chorals aus dem zweiten Satz. Auf eine jubelnde Stretta folgt ein abrupter Schluss.
Und diesmal ist die Freude ungebrochen. So düster die Sinfonie begonnen hat, so sehr scheint sie nun „per aspera ad astra“ („durch Mühsal zu den Sternen“) angekommen zu sein. Die zahlreichen Erstaufführungen der verschiedenen Fassungen in Köln (1904), Hamburg (1905), Straßburg, Triest, Wien, Breslau, Antwerpen (1906), Amsterdam, Rom (1907) und St. Petersburg, die Mahler selbst dirigierte, stießen auf ein gemischtes Echo, das vom Vorwurf eines „kärglichen Eklektizismus“ bis hin zum ungezügelten Lob der „überwältigenden Fülle von Schönheiten“ reichte. Und tatsächlich war es der kürzeste Satz, das verträumte Adagietto, das dieser Sinfonie auf einen Schlag zu Weltruhm verhalf. Als Luchino Visconti seiner Verfilmung von Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ dieses Adagietto als Filmmusik unterlegte, während er dem Protagonisten Gustav von Aschenbach die Züge Gustav Mahlers verlieh, wirkte sich das auch auf die Konzertsäle aus. Die Sinfonie wurde zu einer der meistgespielten. Jedoch – und das ist die tragische Note – ist das Adagietto seitdem untrennbar mit den Bildern Viscontis verbunden, mit einem Programm, das Mahler in dieser Sinfonie so sehr hatte vermeiden wollen.
Ich bin der Welt abhanden gekommen, Mit der ich sonst viele Zeit verdorben, Sie hat so lange nichts von mir vernommen, Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben! Es ist mir auch gar nichts daran gelegen, Ob sie mich für gestorben hält, Ich kann auch gar nichts sagen dagegen, Denn wirklich bin ich gestorben der Welt. Ich bin gestorben dem Weltgetümmel, Und ruh’ in einem stillen Gebiet! Ich leb’ allein in meinem Himmel, In meinem Lieben, in meinem Lied!
Friedrich Rückert
Vorschau
6. Philharmonisches Konzert Sibelius-Zyklus IV
„Eine Sinfonie ist keine ‚Komposition‘ im normalen Sinn. Sie ist vielmehr ein Glaubensbekenntnis in verschiedenen Lebensabschnitten.“
Jean Sibelius
Nigel Westlake: „Out of the Blue“ für Streichorchester Deutsche Erstaufführung
Béla Bártok: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3
Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 4 a-Moll op. 63
Solistin: Eloïse Bella Kohn, Klavier
Philharmonisches Orchester Vorpommern Dirigent: GMD Florian Csizmadia
18., 19. & 20. April 2023, 19.30 Uhr, Stralsund (Großes Haus)
Weiterhin im Programm
6. Philharmonisches Konzert
18., 19. & 20.04. / 19.30 Uhr
Theater Stralsund: Großes Haus
7. Kammerkonzert
Werke von Schönberg, Debussy, Bernstein u. a.
06.04. / 19.30 Uhr
Greifswald: Aula der Universität
08.04. / 18.00 Uhr
Stralsund: Löwenscher Saal im Rathaus
Herausgeber:
Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2022/23
Geschäftsführung:
Ralf Dörnen, Intendant
Peter van Slooten, Verwaltungsdirektor
Textnachweise:
Impressum
Redaktion: Katja Pfeifer
Gestaltung:
giraffentoast
Bei dem Text über Bachs Ouvertüre C-Dur BWV 1066 handelt es sich um einen Originalbeitrag für dieses Heft von Dr. Florian Csizmadia. Bei dem Text über Mahlers 5. Sinfonie handelt es sich um einen Originalbeitrag für dieses Heft von Katja Pfeifer.
Bildnachweise:
S. 3: gemeinfreies Foto von inspiredimages auf pixabay; S. 5: Jürgen Ludwig: Arnstadt, Denkmal für Johann Sebastian Bach, 1985 auf wikimedia; S. 6: Katja Pfeifer: Gustav Mahler, Graffito in Opatija, Kroatien, 2021; S. 9 gemeinfreies Foto von David Schwarzenberg auf pixabay; S. 11: gemeinfreies Foto von Eberhard Grossgasteiger auf pexels; S. 12: gemeinfreies Foto von Limat MD Arif auf pixabay.