PGH _ 7 Philharmonisches Konzert

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7. PHILHARMONISCHES KONZERT

theater-vorpommern.de

7. Philharmonisches Konzert

Sibelius-Zyklus V

Jean Sibelius (1865 – 1957)

Suite aus der Bühnenmusik zu „Pelléas et Mélisande“ op. 46 (Auszüge)

1. Am Schlosstor

2. Mélisande

5. Pastorale

6. Mélisande am Spinnrad

8. Mélisandes Tod

Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 47

1. Allegro moderato

2. Adagio di molto

3. Allegro ma non tanto

– Pause –

Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82

1. Tempo molto moderato – Allegro moderato

2. Andante mosso, quasi allegretto

3. Allegro molto

Solistin: Lea Birringer, Violine

Philharmonisches Orchester Vorpommern

Dirigent: GMD Florian Csizmadia

16., 17. & 18. Mai 2023, Stralsund (Großes Haus)

Wir danken der Jean Sibelius Gesellschaft Deutschland e.V. für die leihweise Bereitstellung der Sibelius-Ausstellung anlässlich des Sibelius-Zyklus. Die Ausstellung ist vom 17.04.2023 bis zum 19.05.2023 in den Foyers des Theaters Stralsund zu sehen.

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Die deutsche Violinistin Lea Birringer konnte sich bereits als viel beachtete Künstlerin auf internationalen Podien etablieren. Auftakt ihrer internationalen Karriere war ihr Solo-Debüt in der Berliner Philharmonie, gefolgt von Einladungen zu Festivals, wie den Salzburger Festspielen, dem Davos Festival, dem MDR Musiksommer, dem Festival Alfredo de Saint Malo in Panama oder den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern. Ihre Vielseitigkeit und ihr breites Repertoire konnte sie bei der Arbeit mit Orchestern wie den Berliner Symphonikern, der Polska Filharmonia Bałtycka, den Münchner Symphonikern, der Deutschen Radio Philharmonie, der Jenaer Philharmonie, der Robert - Schumann - Philharmonie oder dem Orchestra Sinfonica di Roma zeigen.

Ihre Musikalität spiegelt sich auch in ihren zahlreichen Auszeichnungen und Preisen wider, unter anderem bei den internationalen Violinwettbewerben

Johannes Brahms, Kloster Schöntal, Premio Rodolfo Lipizer, Louis Spohr und Abram Yampolsky. Als Anerkennung für ihre außergewöhnlichen Erfolge wurde ihr der Kulturpreis des Stadtverbandes Saarbrücken verliehen.

Neben ihrer solistischen Tätigkeit widmet sich Lea Birringer intensiv der Kammermusik. Mit ihrer Schwester und Pianistin Esther Birringer gelang ihr 2011 auch im Duo der internationale Durchbruch, als sie die beiden internationalen Kammermusikwettbewerbe ‚Premio Vittorio Gui‘ und ‚Concorso Internazionale di Musica da Camera Città di Pinerolo‘ gewannen.

2019 veröffentlichte Rubicon Classics Lea Birringers erstes solistisches Album „Di tanti palpiti“, welches ihr Nominierungen bei den International Classical Music Awards 2020 sowie beim Preis der deutschen Schallplattenkritik einbrachte.

Lea Birringer absolvierte ihr Bachelor-Studium bei Igor Ozim an der Universität Mozarteum in Salzburg und ihren Master bei Pavel Vernikov an der Musik und Kunst Privatuniversität in Wien jeweils mit Auszeichnung. Weitere künstlerische Impulse erhielt sie außerdem von Stephan Picard und Vadim Gluzman.

Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.

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Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen. Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

Nur kurz nach der 4. Sinfonie folgt in unserem Sibelius-Zyklus nun die 5. Sinfonie des finnischen Meisters. Die recht dicht beieinanderliegenden Konzerttermine habe ich bewusst genutzt, gerade diese beiden Werke rasch aufeinander folgen zu lassen, damit Sie vielleicht noch mit der Klangwelt der 4. Sinfonie im Ohr nun die ganz anders geartete 5. Sinfonie hören können.

Das heutige Programm ist eines von zwei reinen Sibelius-Programmen in unserem Zyklus (das andere folgt im Herbst mit den Sinfonien Nr. 6 und 7 sowie der Tondichtung „Tapiola“). Die Zusammenstellung der drei Werke ist von historischen Informationen geprägt: Die „Pelléas“-Suite und die endgültige Fassung des Violinkonzerts stammen beide von 1905, und die „Pelléas“-Suite stand 1916 auch auf dem Programm der Erstaufführung der 2. Fassung der Sinfonie. Eintönig geht es in einem reinen SibeliusProgramm keineswegs zu; vielmehr zeigen die drei Werke des heutigen Abends den Komponisten von sehr unterschiedlichen Seiten: zunächst in der „Pelléas“Suite als Meister der Miniatur, der mit wenigen Pinselstrichen eine ganze Welt darzustellen vermag und auch für ein reduziertes Orchester außerordentlich klangfarbenreich zu schreiben versteht (die eigenwillige Streicherbesetzung mit vergleichsweise wenigen Violinen und einer starken Kontrabass-Gruppe ist von Sibelius übrigens ausdrücklich vorgeschrieben); sodann in seinem einzigen Instrumentalkonzert als Komponist, der seinem eigenen Instrument – Sibelius war ausgebildeter Geiger – ein eben-

so virtuoses wie klangvolles Konzert auf den Leib schrieb, das nach anfänglich verhaltener Aufnahme heute zurecht zu den wichtigsten Violinkonzerten des Repertoires zählt.

Und nach der Pause steht mit der 5. Sinfonie ein Werk auf dem Programm, das ich persönlich zu den Meilensteinen der sinfonischen Literatur des 20. Jahrhunderts zähle. Ungeachtet (oder vielleicht gerade wegen?) seiner schwierigen Entstehungsgeschichte handelt es sich um ein in jeder Hinsicht perfekt ausbalanciertes Meisterwerk, in dem keine Note zu viel steht und das Musiker und Publikum gleichermaßen immer wieder begeistert. Dem Sog des Finales kann man sich nur schwer entziehen, und die zuvor in der 4. Sinfonie erreichte Verdichtung von Struktur und Material wird hier mit mehr Wärme kombiniert und hinterlässt einen versöhnlicheren Eindruck. Viel wurde über den „Schwanenhymnus“ des Finales geschrieben, der nicht (wie oft fälschlich behauptet) durch ein Naturerlebnis hervorgerufen wurde, sondern dessen Verwendung dem ebenso zum Mystizismus wie zu Schaffenskrisen neigenden Sibelius durch die Erscheinung der Schwäne bestätigt wurde –ein schaffenspsychologisch höchst interessantes Detail, das die Sinfonie entlarvt als Bekenntniswerk, das uns den Menschen Sibelius vielleicht näher bringt als jedes andere seiner Werke.

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Konzertpublikum!
Verehrtes
Ihr

Pelléas et Mélisande

„Natürlich konnte ich es nicht lassen, für das Theater zu komponieren. Eine alte schlimme Angewohnheit von mir!“
Jean Sibelius in einem Brief an seinen Freund Axel Carpelan

Dieser „schlimmen Angewohnheit“ sind zahlreiche Bühnenmusiken zu verdanken, die sich im Laufe der Jahre mal mehr, mal weniger von den Dramen, für die sie ursprünglich komponiert wurden, emanzipierten und ein Eigenleben in Form von musikalischen Miniaturen oder Suiten entwickelten. Das bekannteste Beispiel ist sicher der „Valse triste“, der sich aus der Bühnenmusik zu Arvid Järnefelts "Kuolema" (Der Tod) löste und als Konzertstück zu Sibelius’ berühmtesten Werken zählt.

Zeit- und womöglich auch neigungsgemäß nahm sich Sibelius zahlreicher symbolistischer Dramen an, darunter August Strindbergs „Svanevit“ (Schwanenweiß) oder „Ödlan“ (Die Eidechse) des finnlandschwedischen Dichters Mikael Lybeck, und so begann Sibelius 1904 auch an einer Bühnenmusik zu dem wohl namhaftesten Drama des Symbolismus, Maurice Maeterlincks „Pelléas et Mélisande“ zu arbeiten. Anlass war die (schwedischsprachige) finnische Erstaufführung, die für den 17. März 1905 vom Schwedischen Theater in Helsinki angesetzt worden war und für die es eine Bühnenmusik zu komponieren galt.

Maeterlincks mystisch-düsteres Drama hatte bereits Claude Debussy zur Komposition einer Oper und Gabriel Fauré zu einer Bühnenmusik – beide im Jahr 1898 – inspiriert. Im Abstand weniger Monate sollten nun 1905 Arnold Schönbergs sinfonische Dichtung in Wien und Sibelius’ Schauspielmusik zu „Pelléas et Mélisande“ in Helsinki aus der Taufe gehoben werden.

Während Schönbergs Komposition jedoch direkt als autarkes Musikwerk verstanden (und von der Kritik verrissen) wurde, wurde Sibelius’ Schauspielmusik zunächst nur im Zusammenhang mit der dramatischen Erstaufführung wahrgenommen. Obwohl Sibelius selbst am Dirigentenpult stand, kam der Musik keine eigene Rezension zugute, wiewohl der Theaterabend in Gänze auf ein sehr positives Echo stieß. So erscheint es beinahe zwangsläufig, dass Sibelius die Bühnenmusik auch für den Konzertsaal hörbar machen und somit das Augen- bzw. Ohrenmerk auf diesen Teil der Aufführung lenken wollte, indem er aus nahezu allen Teilen der Bühnenmusik – er strich lediglich eine einzige Nummer – eine Konzertsuite schuf. Diese wurde ein Jahr später, am 12. März 1906, im Festsaal der Universität Helsinki mit dem Orchester der Philharmonischen Gesellschaft unter der Leitung von Robert Kajanus uraufgeführt. (In demselben Konzert stand ebenfalls in finnischer Erstaufführung die überarbeitete Fassung von Sibelius’ Violinkonzert op. 47 auf dem Programm.) Als thematischen Hinweis und um den Bezug zum Drama nicht ganz zu kappen, hatte Sibelius die zuvor nur durchnummerierten Stücke nun mit Überschriften versehen.

Ungeachtet dessen handelt es sich hier dennoch nicht um Programmmusik im

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handlungsdramatischen Sinn, sondern um ausgefeilte sinfonische Miniaturen, die in ihrer klanglichen und motivischharmonischen Gestaltung den symbolistischen Charakter des MaeterlinckDramas in Musik übersetzen.

Der unwirklichen, ja traumwandlerischen Atmosphäre des Dramas trägt Sibelius mit ruhigen, dämmrigen Stimmungen bei. Die vergleichsweise kleine Orchesterbesetzung mit teils nur einfach besetztem Holz und lediglich zwei Hörnern sowie einem bewussten Schwerpunkt auf den tiefen Streichern, kommt der unheilvoll düsteren Grundstimmung zugute.

Am Schlosstor ist die ursprünglich als Ouvertüre fungierende Nr. 1 überschrieben. Mit gravitätischen Klängen wird hier ein Bild jenes trutzigen Schlosses gezeichnet, das den Protagonisten gleichsam zum Gefängnis wird. Etwas luftiger gibt sich der Mittelteil, der durch die Streicherpizzicati ein wenig an Fluss und Leichtigkeit gewinnt, bevor es zum gravitätischen Anfangsduktus zurückgeht. Die Nr. 2 widmet sich dem Waldmädchen Mélisande . Über einem dunkel gefärbten Streicherteppich erhebt sich eine einsame Englischhornkantilene – womöglich Ausdruck der seelischen Verlorenheit der Heroine. Tänzerische Anklänge und dramatischere Steigerungen verklingen immer wieder nach kurzer Zeit. Der melancholische Charakter bleibt vorherrschend. Mit der Pastorale hellt sich die Stimmung merklich auf. Tatsächlich markiert dieses Stück im Drama den Moment, wo Pelléas und sein Bruder Golaud der Enge der Schlossmauern entfliehen, sozusagen aus der Gruft ans Tageslicht treten – ein befreites Aufatmen, bevor

das Drehen der Spindel seine Sogwirkung in Mélisande am Spinnrocken entfaltet. Dabei schildern die Violen in stetigem Halbtonostinato nicht nur das Surren eines Spinnrades, sondern verleihen dem gesamten Stück einen dramatischen Unterton. Mélisandes Tod schließlich stellt nicht nur den Abschluss von Maeterlincks Drama, sondern auch den emotionalen Höhepunkt in Sibelius’ Suite dar. Ein Trauergesang, der durchaus Parallelen zu „Åses Tod“ aus Edvard Griegs Bühnenmusik zu „Peer Gynt“ aufweist, aber in seiner differenzierten Ausgestaltung darüber hinausgeht, sich in einem dramatischen Höhepunkt aufbäumt und schließlich in düsterem d-Moll verklingt.

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Pelléas

„Ich höre nur dein Herz in der Dunkelheit ... “

„Wenn er in seinem Lehnstuhl in der Bibliothek von Ainola saß, befingerte er sehr oft mit seiner linken Hand einen imaginären Violinenhals. Die Hand glitt zu Positionswechseln, die Finger gruppierten sich, um Klänge zu bilden und suchten Fingersätze für Tongänge, die in seinen Sinnen wie Töne der Violine klangen. “

So erinnert sich Jussi Jalas an seinen Schwiegervater Jean Sibelius als einen Musiker, dessen Gedanken immer wieder zur Violine führten. Schon als Kind hatte Sibelius begonnen Geige zu spielen. Später beherrschte er das Instrument weit über das gewöhnliche Maß hinaus. 1915 schrieb er in sein Tagebuch, er habe einen Traum gehabt: „Ich war zwölf und ein Virtuose.“ An technischen Fähigkeiten fehlte es ihm nicht, es ist bekannt, dass er einmal Mendelssohns Violinkonzert öffentlich aufgeführt hat, aber seine nervliche Konstitution ließ es nicht zu, eine berufliche Laufbahn als Geiger anzugehen. Ein Probespiel bei den Wiener Philharmonikern, das Sibelius im Alter von 26 Jahren unternahm, scheiterte an seinem Lampenfieber. Rückwirkend betrachtet war dies vielleicht sogar ein glücklicher Umstand, denn es steht zu vermuten, dass das Violinespiel für Sibelius weit mehr war als die Interpretation von notierter Musik. Es scheint, als ob der Klang der Violine Sibelius vielmehr einen Weg aufzeigte zu kommunizieren, Gedanken auszudrücken, in mystische Welten abzuschweifen. „Immer wenn ich Geige spiele, erfüllt mich ein eigenartiges Gefühl; es ist, als öffne sich mir das innerste Wesen der Musik“, notierte er 1883.

Umso erstaunlicher scheint es vor diesem Hintergrund, dass er nur ein einziges Violinkonzert geschrieben hat. Die Idee zu einem zweiten „Concerto lirico“ reifte 1915, im Entstehungsjahr der 5. Sinfonie, kam aber nie zur Ausführung.

Erste Ideen zu dem Konzert reichen bis in das Jahr 1890 zurück. Acht Jahre später erwähnte Sibelius erneut, dass er ein Violinkonzert plane. Die gedankliche Arbeit war also schon jahrelang fortgeschritten, als er 1901 die ersten Skizzen zum d-Moll-Konzert niederschrieb. Doch scheint das Projekt erst richtig Gestalt angenommen zu haben, nachdem Sibelius im Sommer 1902 in Berlin dem Violinvirtuosen Willy Burmester begegnet war, den er bereits aus einer Zusammenarbeit in Helsinki kannte, der ihm aber nun – so scheint es –in seinem Vorhaben, ein Violinkonzert zu schreiben, bestärkte. Im September 1902 schrieb Sibelius an seine Frau Aino: „Ich habe wundervolle Themen für das Violinkonzert bekommen.“

Genau ein Jahr später waren die ersten beiden Sätze des Konzertes als Klavierauszug fertig. Sibelius sandte sie an Burmester, der als Widmungsträger und Solist für die Uraufführung vorgesehen war. Im Dezember 1903 war auch der dritte Satz vollendet, die ersten beiden waren mittlerweile orchestriert.

Sibelius wünschte sich nun schnellstmöglich eine Aufführung, doch Burmester stand für die vorverlegte Premiere im Februar 1904 nicht zur Verfügung. Da Sibelius den Termin nicht mehr verschieben konnte und wollte, fand die Uraufführung am 8. Februar 1904 im Festsaal der Universität Helsinki statt. Jean Sibelius dirigierte das Orchester

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der Philharmonischen Gesellschaft. Der Solist war Viktor Nováček. Die Kritik nach der Aufführung fiel eher verhalten aus. Mag sein, dass der Solist, der sich nicht durch ausgesprochene Virtuosität auszeichnete, den technischen Schwierigkeiten der Komposition nicht gewachsen war, aber vielleicht war es auch die Neuartigkeit des Werkes, das in klassischer Dreisätzigkeit daherkam, um innerhalb dieses formalen Rahmens Grenzen zu sprengen. Der Kritiker Karl Flodin formulierte es so: „Es ist ganz deutlich, dass der Komponist nicht solch eine Art Violinkonzert hat schreiben wollen, das nichts anderes als ein sinfonisches Orchesterwerk mit einer obligaten Solopartie gewesen wäre. [...] Er bevorzugte die andere Alternative: den Solisten die ganze Zeit hindurch souverän Herrscher sein zu lassen und nebenher allen traditionellen Pomp und Staat zu entwickeln. Dabei aber begegnete ihm die kompakte Masse all des zuvor Gesagten, Geschriebenen und Komponierten. Unmöglich, mit etwas wirklich Neuem zu kommen! Und auf dieser Untiefe strandete das Fahrzeug!“ Mag sein, dass sich Sibelius die Kritik zu Herzen nahm. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er selbst letztlich nicht zufrieden mit der Komposition war, jedenfalls zog er das Konzert bereits im Juni 1904 zurück, um es grundlegend zu überarbeiten. Möglicherweise war er dem Wunsch Burmesters, ein Virtuosenkonzert zu schreiben, allzu weit nachgekommen und hatte diesem Bemühen alle anderen Gedanken zu sehr untergeordnet. Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn Karl Flodin von „technischer Überfrachtung, die nicht nur ziemlich überwältigende Schwierigkeiten für den Solisten mit sich brachten, sondern die ganze Komposition auf ein Mittelmaß herunterbrachen“

schreibt. Sibelius zieht die Konsequenzen: „Der erste Satz muss umgearbeitet werden, im Schnitt auch das Andante. Ich lass das Konzert ein wenig liegen. Es wird schon noch gut werden.“

Es wird gut: 1905 wird die überarbeitete Fassung des Violinkonzertes mit einer Opuszahl versehen, vom Verlag Robert Lienau herausgegeben und in Berlin am 19. Oktober 1905 uraufgeführt. Es spielen die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Richard Strauss. Der Solist des Abends ist abermals nicht Willy Burmester, sondern der 1. Konzertmeister der Berliner Philharmoniker Karel Haliř.

Über einer fast unhörbaren Wellenbewegung Bewegung der Violinen setzt das Soloinstrument mit dem Hauptthema ein, das den Themenkomplex eröffnet. Grundsätzlich als Sonatensatz angelegt, weist dieses Allegro moderato formal einige Besonderheiten auf. Anstelle von zwei Themen verarbeitet Sibelius hier drei. Das breit angelegte 3. Thema leitet zu einer großen Kadenz über, die die Position der Durchführung einnimmt. In der sich anschließenden Reprise wird das thematische Material variiert. Nichts wiederholt sich, alle Gedanken werden weitergesponnen bis hin zum dramatischen Schluss.

Die Holzbläser gestalten die Eröffnungstakte des Adagio di molto , bevor die Solovioline mit dem breit angelegten lyrischen Thema einsetzt. Dreiteilig angelegt belebt sich der Satz im Mittelteil, bevor er wieder zum lyrischen Ausgangsgestus zurückfindet und sanglich endet.

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Das äußerst virtuose Finale ist von zwei rhythmisch prägnanten Themen bestimmt, die den überschäumenden und äußerst virtuosen Charakter des Allegro ma non tanto prägen. Obgleich der Satz keine Kadenz im eigentlichen Sinne enthält, ist der solistische Part mit technischen Finessen gespickt, dieweil er mit Doppelgriffen und Oktavgängen der Schlussstretta entgegen strebt, jedoch nie überstürzt. Sibelius selbst meinte, nach der Temposvorstellung dieses Satzes gefragt: „Er soll souverän gespielt werden. Schnell natürlich, aber nicht schneller, als wenn er vollständig ‚von oben‘ gespielt würde“.

Der Uraufführung dieser überarbeiteten Fassung war von Anfang an ein größerer Erfolg beschieden, obwohl es auch hier ablehnende Stimmen gab. Der Geiger Joseph Joachim bezeichnete das Konzert als „scheußlich und langweilig“, was Sibelius eher lakonisch kommentierte: „Es tut mir sehr leid wegen Joachim, den ich sehr liebe. Nämlich seinetwegen. Er scheint nicht mehr das Gefühlleben der Zeit zu verstehen. Ein Greis –unwiderruflich.“ Tatsächlich ist Joachim die prägende Figur im 19. Jahrhundert gewesen. Sibelius’ Violinkonzert aber ist, trotz seiner romantischen Anlage, ein Werk, das ins 20. Jahrhundert blickt und schon bald zu einem der wichtigsten Konzerte seiner Zeit wurde.

Die finnische Erstaufführung fand, zusammen mit der Uraufführung der „Pelléas et Mélisande“-Suite am 12. März 1906 im Festsaal der Universität Helsinki statt. Der Solist des Abends war Hermann Grevesmühl.

Willy Burmester hat Sibelius’ Violinkonzert nie gespielt.

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„Es scheint, als würde der Krieg noch lange dauern. Wie komme ich zurecht? “
Jean Sibelius

Es war das Jahr 1915. Die weltpolitische Lage war eskaliert, die finanzielle Situation im Hause Sibelius angespannt. Der Komponist führte „ein Leben auf zwei Ebenen“. Aufgrund der eingeschränkten Verbindungen mit dem Ausland war der Kontakt mit seinen deutschen Verlegern abgebrochen, und er sah sich gezwungen, unzählige Kleinstücke für finnische Verlage zu komponieren, um Geld zu verdienen. Gleichzeitig arbeitete er aber auch an einer großen neuen Sinfonie, einem Auftragswerk der finnischen Regierung, das zu seinem 50. Geburtstag uraufgeführt werden sollte. Nicht selten war Sibelius in dieser Zeit von tiefen Schaffens- und Daseinskrisen geplagt, die weit über eine „Midlife-Crisis“ hinausgingen. „Meine Generation verlässt die Bühne“, schrieb er im Januar 1915, nicht ganz frei von Pathos, in sein Tagebuch. Doch trotz seiner Niedergeschlagenheit setzte er die Suche nach einer neuen ästhetischen Identität fort: „Es scheint, als würde jetzt der echte ‚Jean Sibelius‘ entstehen“, notierte er. Und dabei schien sich alles um sein nächstes großes Werk zu drehen, dem er, noch bevor die ersten Takte niedergeschrieben waren, bereits eine entscheidende Bedeutung zumaß:

„Wieder weit unten. Aber ich kann schon den Berg sehen, den ich mit Sicherheit besteigen werde. Gott wird die Tür für einen Augenblick öffnen und sein Orchester wird die Sinfonie Nr. 5 spielen.“

Bereits seit dem Frühjahr 1912 hatte sich Sibelius Gedanken über eine neue Sinfonie gemacht. Doch es dauerte bis zum Sommer 1914, bis ihm das erste „wunderbare Thema“ einfiel. Sibelius hatte sich nach Ainola, seinen Wohnsitz mitten in der Natur zurückgezogen. Hier, weit ab vom städtischen Leben und den weltpolitischen Umwälzungen, konzentrierte er sich nun auf sein großes Vorhaben. Eine klein erscheinende Begebenheit wurde nun zum Schlüsselereignis. Am 21. April 1915 trat Sibelius morgens auf die Veranda hinaus und es bot sich ihm folgender Anblick: „Sah heute zehn vor elf 16 Schwäne. Einer der größten Eindrücke meines Lebens! Mein Gott, diese Schönheit! Sie kreisten lange über mir, verschwanden im Sonnendunst wie ein von Zeit zu Zeit aufblitzendes Silberband. … Naturmystik und Lebensschmerz! Finalthema für die fünfte Sinfonie.“ Neben diesen Tagebucheintrag notierte Sibelius ein paar Noten, die als „Schwanenhymne“ bekannt werden sollten. Auch wenn es erst im dritten Satz voll zur Entfaltung kommt, wird es den Charakter der neuen Sinfonie grundsätzlich bestimmen. Die Form erwächst erst aus den inhaltlichen Gedanken, was ungeahnte thematische Möglichkeiten eröffnet. Gleichzeitig erhält so die Entstehung der Sinfonie Züge einer Sinnsuche. Sibelius notierte am 10. April 1915 in sein Tagebuch: „Es ist, als ob Gott Vater Mosaiksteine aus dem Boden des Himmels herabschleudert und mich bittet herauszu-

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finden, wie sie ursprünglich angeordnet waren.“ Es war ein kompliziertes Unterfangen. Fünf Jahre Arbeit, drei Fassungen und unzählige Skizzen zeugen von dem Ringen um das Werk.

Zunächst aber wurde die Sinfonie so termingerecht fertig, um am 8. Dezember 1915, dem 50. Geburtstag des Komponisten, in Helsinki uraufgeführt zu werden. Das in seiner Erstfassung noch viersätzige Werk wurde vom Publikum gefeiert, gestaltete es sich doch wesentlich zugänglicher als die für schwierig gehaltene 4. Sinfonie. Für einen Teil der Kritiker war sie jedoch eine Enttäuschung, denn man hatte insgeheim gehofft, Sibelius würde den Weg in die Atonalität, der sich in der Vierten schon angedeutet hatte, mit der Fünften fortsetzen. Dem war jedoch nicht so. Sibelius hatte sich entschieden, „Wahnsinn und Chaos“ jenseits der Grenze der Tonalität zu vermeiden. Er war zu traditionelleren Harmonien zurückgekehrt und suchte auf anderem als dem harmonischen Weg, die sinfonische Form zu erneuern. Doch war ihm das mit der 5. Sinfonie, so wie sie 1915 vorlag, noch nicht gelungen. Und so begann er unmittelbar nach der Uraufführung, sie zu überarbeiten. Am 8. Dezember 1916, seinem 51. Geburtstag, dirigierte er die überarbeitete Fassung. Die zwei ersten Sätze hatte er jetzt zu einem zusammengezogen und gravierende Änderungen an den anderen Sätzen vorgenommen. Die Sinfonie hatte nun bereits ihre endgültige dreisätzige Gestalt, allein Sibelius war noch nicht zufrieden. Er zog die Sinfonie abermals zurück, um sie erneut zu überarbeiten. Doch die Arbeit kam nur schleppend voran. Die nächsten Jahre waren von politischen Unruhen und persönlichen Zweifeln geprägt: 1917

erlangte Finnland seine Unabhängigkeit – mitten im Ersten Weltkrieg – und als sich die russische Revolution auf Finnland ausdehnte, kam das Kriegsgeschehen gefährlich nahe. Sibelius lebte in ständiger Angst und konnte nicht arbeiten. So erhielt die Fünfte erst 1919 ihre endgültige Form, die sich der Komponist förmlich abgerungen hatte: „Sinfonia V – mirabile, um nicht zu sagen horribile dictu, in ihrer endgültigen Form fertig. Ich habe mit Gott gerungen. Meine Hände zittern, dass ich kaum schreiben kann ... Draußen +2° und Sonne. Das Eis liegt noch. An Zugvögeln ‚nur‘ Wildgänse gesehen, aber keine Schwäne.“

Und immer noch war er nicht zufrieden. Sechs Tage später wollte er den zweiten und dritten Satz ganz streichen, tat es dann aber doch nicht. Jedoch arbeitete er das Finale noch ein letztes Mal um und nahm glücklicherweise eine zuvor gestrichene Passage aus der 1915er-Fassung wieder auf. „Jetzt ist sie gut“, stellte Sibelius fest und gab die Sinfonie frei.

Die Kombination aus zwei ursprünglich autarken Sätzen zu einem einzigen lässt den Tempo molto moderato überschriebenen Einstieg formal rätselhaft wirken, was schon zu vielen Analysen mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Doch scheint der sinnstiftende Zusammenhang eher thematischer denn formaler Natur zu sein. So erwachsen die Themen aus charakteristischen Bausteinen, wie dem einleitenden Horn-Quart-Ruf, den Sechzehntelbewegungen in den Holzbläsern und schließlich einer choralartigen Akkordfolge, die in immer wieder wechselnde Beziehungen zueinander gesetzt werden.

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Das Andante mosso ist als Variationssatz gestaltet. Eine FünftonMotivkette in den Flöten ist das pastorale Thema, das sich im Verlauf des Satzes mal lyrisch, mal erregt gibt. Hier klingt auch bereits das Hauptthema des Finalsatzes an, das sich aber erst später voll entfalten wird. Einstweilen endet das Andante mosso geradezu pastoral mit einer friedlichen Holzbläserwendung.

Temperamentvoll und spannungsreich beginnt das Allegro molto mit raschen Streicherbewegungen, aus denen sich thematische Momente entwickeln, bevor die Hörner das eigentliche Hauptthema vorstellen, das in seiner hymnischen Erhabenheit zunächst über den kleinteiligen Streicherbewegungen zu schweben scheint, bevor der Gedanke vom gesamten Orchester Besitz ergreift. Zwei große Steigerungswellen strukturieren den Satz. Die zweite mündet in einem gewaltigen Crescendo, das durch sechs Schlussakkorde final gebremst wird.

Der thematische Gedanke des „Schwanenhymnus“ ist wohl der eindrücklichste der gesamten Sinfonie und bildet so auch den Höhepunkt des Werkes. Oder wie Sibelius es so treffend formulierte:

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„Das Finalthema der 5. Sinfonie: Herr Gott! Naturmystik + Romantik und Gott weiß was.“

Vorschau

8. Philharmonisches Konzert

„Man muss lernen, was zu lernen ist, und dann seinen eigenen Weg gehen.“

Georg Friedrich Händel

Georg Friedrich Händel:

Concerto grosso D-Dur op. 6 Nr. 5 HWV 323

„Silete, venti“, Motette HWV 242

„Wassermusik“ HWV 348 (Auszüge) & Concerto F-Dur HWV 331

Solistin: Katharina Constanti, Sopran

Philharmonisches Orchester Vorpommern Dirigent: GMD Florian Csizmadia

Öffentliche Generalprobe:

27. Mai 2023 , Stralsund (Großes Haus)

Konzerte:

29. Mai 2023 , Putbus (Theater)

30. & 31. Mai 2023 , Greifswald (Stadthalle: Kaisersaal)

01. & 02. Juni 2023 , Stralsund (Großes Haus)

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Weiterhin im Programm

8. Philharmonisches Konzert

27.05., 01. & 02.06. / 19.30 Uhr

Theater Stralsund: Großes Haus

29.05. / 18.00 Uhr Theater Putbus

30. & 31.05. / 19.30 Uhr

Stadthalle Greifswald: Kaisersaal

9. Philharmonisches Konzert 05., 06. & 08.07. / 19.30 Uhr

Theater Stralsund: Großes Haus

09.07. / 18.00 Uhr Theater Putbus

Regenbogenparty

Theaterball mit Preisverleihung

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Herausgeber:

Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2022/23

Geschäftsführung:

Ralf Dörnen, Intendant

Peter van Slooten, Verwaltungsdirektor

Textnachweise:

Impressum

Redaktion: Katja Pfeifer

Gestaltung: giraffentoast

Bei den Texten handelt es sich um Originalbeiträge für dieses Heft von Katja Pfeifer. Das Vorwort schrieb GMD Florian Csizmadia.

Bildnachweise:

S. 3: Lea Birringer, Foto von FANDEL Foto & Design; die Fotos auf den Seiten 5, 6, 9, 10, 13 und 14 sind gemeinfreie Bilder von unsplash.de; das Foto auf der Umschlagrückseite ist ein gemeinfreies Bild von pxhere.com.

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