ORPHEUS IN DER UNTERWELT
Operette von Jacques Offenbach
Orpheus in der Unterwelt
Operette von Jacques Offenbach
Libretto von Hector Crémieux und Ludovic Halévy
Deutsch von Ludwig Kalisch und Frank Harders-Wuthenow
Eurydike
Orpheus, ihr Ehemann
Meike Hartmann
Bassem Alkhouri
Jupiter Maciej Kozłowski
Pluto Semjon Bulinsky
Die Öffentliche Meinung
Thomas Rettensteiner
Juno Pihla Terttunen
John Styx
Charon
Zerberus
Diana
Cupido
Venus
Merkur
Orpheus’ Violine
Olympische Götter
Andreas Sigrist
Jovan Koščica
Alexandru Constantinescu
Soobhin Kim
Kaho Yamashita*
Vera Meiß*
Bernd Roth*
Julius Maier** / Marijn Seiffert**
Opernchor des Theaters Vorpommern
Philharmonisches Orchester Vorpommern
* göttliches Mitglied des Opernchors des Theater Vorpommern
**höllisches Mitglied des guten Philharmonischen Orchesters Vorpommern
Ausstattungsleiterin: Eva Humburg / Technischer Direktor: Christof Schaaf / Beleuchtungseinrichtung: Marcus Kröner Bühnentechnische Einrichtung: Michael Maluche / Toneinrichtung: Hagen Währ / Leitung Bühnentechnik: Michael Schmidt / Leitung Beleuchtung: Kirsten Heitmann / Leitung Ton: Daniel Kelm / Leitung Requisite: Alexander Baki-Jewitsch, Christian Porm / Bühne und Werkstätten: Produktionsleiterin: Eva Humburg / Tischlerei: Stefan Schaldach, Bernd Dahlmann, Kristin Loleit / Schlosserei: Michael Treichel, Ingolf Burmeister / Malsaal: Anja Miranowitsch, Fernando Casas García, Sven Greiner / Dekoration: Frank Metzner / Kostüm & Werkstätten: Leiter der Kostümabteilung: Peter Plaschek / Gewandmeisterinnen: Ramona Jahl, Annegret Päßler, Carola Bartsch Modisterei: Elke Kricheldorf / Ankleiderinnen: Ute Schröder, Petra Westphal / Maske: Tali Rabea Breuer, Jill Dahm, Antje Kwiatkowski, Kateryna Maliarchuk, Ilka Stelter
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne & Kostüme
Licht
Choreographie
Chor
Dramaturgie
Musikalische Assistenz
Regieassistenz und Abendspielleitung
Inspizienz
Übertitel & Übertitelinspizienz
Alexander Mayer
Tamara Heimbrock
Nathalie Himpel
Marcus Kröner
Gisela Fontarnau Galea
Jörg Pitschmann
Katja Pfeifer
David Behnke, David Grant, David Wishart
Paula Brune
Lisa Henningsohn
Katja Pfeifer, Luisa Grimmecke
Premiere in Stralsund am 18. Mai 2024
Aufführungsdauer:
ca. 2 ¾ Stunden, eine Pause
Aufführungsrechte:
Boosey & Hawkes, Bote & Bock GmbH, Berlin
Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen.
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Zunächst …
… möchten wir uns bedanken, dass Sie heute ins Theater gehen – und auch noch ein Programmheft gekauft haben! Theater kann nur mit Ihnen, unserem Publikum, funktionieren, denn darum geht es: um Sie, um uns, um das Theater. Keine Sorge, dies wird keines dieser Vorworte, in denen von Krise und Untergang die Rede ist – ganz im Gegenteil. Wir möchten heute Abend , und auf die Bühne bringen und, ja, auch , und . Denn Theater ist ein Abbild des Lebens – hier insbesondere auch des Zusammen- und Auseinanderlebens. Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt “ scheint wie gemacht für diesen Zweck. Nein, sie ist nicht wie gemacht – sie ist explizit dafür gemacht. Der antike Orpheus-Stoff bot schon Offenbach 1858 die Gelegenheit, die geltenden Geschlechterrollen, die Begrifflichkeiten erbaulicher und unterhaltender Kunst, gesellschaftliche und Regierungsphänomene sowie das Theater selbst zum Gegenstand seiner Operette zu machen. Und dabei bewies er einen so scharfen Blick auf das Menschliche, das Wesentliche und das Theatrale, dass dem bis heute eigentlich nichts hinzuzufügen ist. Daher nimmt sich diese Inszenierung das Leichteste und zugleich Schwierigste vor: Sie auf vielfältigste Weise zu unterhalten mit einer aberwitzigen Geschichte parodistischen Anstrichs, mit der dramatischen, tänzerischen und sprachlichen Vielfalt, die das Theater ausmacht, mit überraschenden Wendungen, Effekten, Theaterzauber und vor allem mit viel mitreißender Musik.
KUNST MUSIK UNTERHALTUNG VERWIRRUNG VIELFALT CHAOS
Also schauen Sie auf die Bühne, seien Sie gespannt, haben Sie Spaß, öffnen Sie die Hände und am Ende des Abends – oder einer Passage, die Sie gut unterhalten hat – schließen Sie sie gerne wieder und erzeugen dabei ein klatschendes Geräusch. Und dies dürfen Sie beliebig oft wiederholen. Darüber freuen wir uns dann auch sehr.
Wir wünschen Ihnen eine vergnügliche Vorstellung!
Das irdische Team von „Orpheus in der Unterwelt“
Aus den Erlebnistagebüchern zweier Frauen
Samstag , der 1. Akt, 1. Bild
Liebes Tagebuch, eigentlich hätte es ein schöner Tag werden sollen. Ich hatte die Küche herausgeputzt, mich natürlich auch und wollte ihn mit einem Kuchen überraschen. Und plötzlich steht ER in der Tür – wie immer mit seiner besten Freundin, der Geige. Und dann fängt er auch noch an zu spielen – wie ich diese Frequenzen hasse! Ja, früher war das anders, irgendwie abenteuerlicher, romantischer … Aber jetzt: Er komponiert und ist berühmt. UND ICH? – seine Gattin … Wenn ich diesen tollen Schäfer – oder ist er Imker?, ich weiß es gar nicht genau – nicht kennengelernt hätte, hätte es wohl schon viel früher gekracht. Aber Aristeus, so heißt der Süße, verspricht mir Freiheit, Abenteuer und heiße Nächte. Allerdings waren wir noch nie allein. Immer sind seine schrägen Kumpels bei ihm: so ein finsterer Fährmann, sein Schoßhund (mit Appetit für drei …) und ein Typ, der behauptet, schon mehrere hundert Jahre alt zu sein …
Also heute wollte er zu mir kommen, mein Aristeus, und ich war schon ganz Feuer und Flamme, da geht die Tür auf und wer steht da? ORPHEUS! MIT GEIGE!
UND DA IST ES ESKALIERT! Jetzt sieht die Küche aus wie ein Schlachtfeld, meine Frisur ist im Eimer, aber wenigstens seine Geige auch! Und … ich habe es endlich ausgesprochen: Ich hasse ihn und wir sollten uns trennen – wegen unüberwindlicher Abneigung!
Das hätte es sein können für heute und für immer, aber dann höre ich diesen laufenden Hexameter in der Küche kramen und denke, was er da wohl wieder zu schaffen hat, und was soll ich sagen: UMBRINGEN WOLLTE ER MICH! So viel kriminelle Energie hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Und auch noch mit einer S C H L A N G E, wo er doch weiß, wie sehr die mich ekeln! Aber frau weiß sich zu helfen: Es gibt so leckere Schlangenrezepte, also ab mit dem Vieh in den Topf. Und da kommt auch schon Aristeus – natürlich mit seinen drei Plüschpopos im Gefolge. Zuerst gibt er wieder den Unwiderstehlichen und denkt dabei nur an sich und sein Aussehen, aber dann wird er auf einmal ganz anders. Und mir wird auch ganz anders. Aristeus …. In deinen Armen zur Hölle!
Eurydike
Mittwoch Donnerstag , der 1. Akt, 2.
Liebes Göttinnentagebuch, ein Tag ist wie der andere – öde. Ich weiß noch nicht mal mehr, welcher Tag heute ist. Doch: DENN GESTERN IST WAS PASSIERT . Ich war auf einem Ausflug (Yeah!) nach Cythere (naja), ein wenig Erdenluft schnuppern, viel ist da auch nicht los, aber: Ein Gerücht macht dort die Runde. Mein Göttergatte Jupiter soll eine Frau entführt haben. Eurydike heißt sie und ist verheiratet! Er bestreitet es natürlich und hat Merkur losgeschickt, um ihm ein Alibi zu verschaffen. Ich könnte mich jetzt aufregen von wegen Untreue, aber was soll ich sagen: Es ist ja nicht das erste Mal … nein, auch nicht das zweite Mal oder dritte –eigentlich sollte ich mir den Tag im Kalender rot anstreichen, an dem er mal fremdgeht. Alimente zahlt er auch nicht für die vielen Kinder, die der schon in die Welt gesetzt hat. Und während er sich auf der Erde vergnügt, vernachlässigt er den Olymp total. Alle seine Regierungspflichten und MICH! Aber das muss sich ändern und es wird sich ändern – es kann nicht mehr lange dauern. Wir Göttinnen – und damit meine ich auch Venus, Cupido und Diana – haben die Nase gestrichen voll von Männerwirtschaft, Poolpartys, Nektar, Ambrosia und ich wäre blöd, wenn ich den allgemeinen Unmut nicht für meine Zwecke nutzen würde. Proben wir also den Aufstand und sehen, wohin uns das führt, und ob sich mein Göttergatte nicht diesmal mit seiner irdischen Eroberung selbst ein Bein gestellt hat …
Entschlossenheit führt zum Sieg!
Juno
Welcher Tag auch immer , der 2. Akt, 1. Bild
LIEBES TAGEBUCH
ich habe immer gedacht, in der Hölle sei was los und der Himmel sei öde. Da habe ich mich aber geirrt! Ich sitze jetzt hier seit Wochen in einem goldenen Bett – ODER SOLL
ICH KÄFIG
SAGEN? –, das zwar sehr gut gefedert ist, aber LEER ! Der feurige Aristeus hat sich als Pluto, Gott der Unterwelt, herausgestellt und „Bums, das war’s“ (um es mit seinen eigenen Worten zu sagen). Seitdem ist er verschwunden und streitet sich mit seinem Bruder Jupiter im Olymp herum. Und ich bin allein hier mit seinem, seinem – ja, wer ist das eigentlich? Er sagt, er heiße John Styx und sei früher Prinz von Arkadien gewesen. Mit „früher“ meint er mehrere hundert Jahre früher. Eigentlich ist er ganz nett, aber etwas vergesslich. Und er starrt mich immer so an … Aber heute passiert tatsächlich mal etwas Aufregendes: Pluto ist gerade in die Unterwelt zurückgekommen und hat in seinem Gefolge den gesamten Olymp! Sie wollen hier Party feiern. Wenn die wüssten … Aber tatsächlich interessiert sich auf einmal jemand für mich. Na gut, ich muss Abstriche machen: dieser „Jemand“ ist eine Fliege, die behauptet, Jupiter zu sein. Aber immerhin kommt der gleich zur Sache. Vielleicht sollte ich sein Angebot annehmen und sehen, wie es im Olymp so ist – und wenn es mir dort gefällt, kann er die Fliege machen
.. .
Eurydike
Nachtrag:
Das sind doch alles egoistische Pfeifen, diese Götter! Jetzt sind sie allesamt abgerauscht zur Götterparty und haben mich hier allein zurückgelassen! Naja, nicht ganz allein: Pluto ist ohne seine drei Begleiter los – er hat sehr wichtig getan, musste noch die Verleihung des Goldenen Tanzbeins organisieren, pah! Und jetzt sitzen wir hier zu viert. Eigentlich ist es ganz nett mit ihnen …
Sonntag, 2. Akt, 2. Bild
Liebes Göttinnentagebuch, das ist also aus unserem Aufstand geworden: eine Unterweltsparty . Naja, was nicht ist, kann ja noch werden. Jetzt ist also erst mal Maskenball angesagt.
Juno
Sonntag, 2. Akt, 2. Bild
Liebes Tagebuch, erst lassen sie mich alle hängen und jetzt wollen sie beide mit mir fliehen: Pluto UND Jupiter. Dabei fragt keiner mich, was ICH eigentlich will.
Eurydike
Sonntag, 2. Akt, 2. Bild Liebes Göttinnentagebuch, DER BALL WIRD EINE KATASTROPHE! Wunderbar! Ich glaube, diesmal fliegt Jupiter alles um die Ohren … und mit Fliegen kennt er sich ja aus, sagt man. Ich hoffe, dass ich dort auch diese Eurydike treffe; ich bin ja so gespannt auf sie. Und wenn dann auch noch Orpheus und die Öffentliche Meinung da auftauchen, dann war’s das mit seiner vielbeschworenen „Ehre der Mythologie“. ICH FREU MICH DRAUF!
Die zwölf Os für Operettenbesucher *innen
O – wie Offenbach
Jacques Offenbach (1819 – 1880) stammt aus Köln und hieß seinerzeit noch Jakob, genannt „et Köbesje“. 1833 reiste er mit seinem Vater, viel musikalischem Talent und einem Cello im Gepäck nach Paris, um dort Musik zu studieren. Er blieb dort, entdeckte neben seiner musikalischen auch die Theaterleidenschaft und gründete 1855 sein eigenes Musiktheater, die „Bouffes-Parisiens“. Zunächst starken Repressalien unterworfen, (im Gründungsjahr durften nicht mehr als 2 Personen die Bühne „bevölkern“ …), sollte er schon wenige Jahre später hier seine größten Erfolge feiern, darunter die Uraufführung von „Orpheus in der Unterwelt“ am 21. Oktober 1858.
O– wie Operette
Aus heutiger Sicht wird „Orpheus in der Unterwelt“ also die erste Operette der Musikgeschichte wahrgenommen. Tatsächlich bezeichnete Offenbach selbst das Werk zunächst als „opéra bouffon“ („komische Oper„), denn erst einige Zeit später wurde klar, dass Offenbach mit seinem „Orpheus“ eine neue Musiktheatergattung ins Leben gerufen hatte – so wie vor ihm Claudio Monteverdi mit seinem „Orfeo“ (1607) die erste namhafte Oper überhaupt geschrieben und Christoph Willibald Gluck mit „Orfeo ed Euridice“ (1762) die überkommene Form der Barockoper entscheidend reformiert hatte.
O – wie Orpheus
Der antike Orpheus-Stoff , der jahrhundertelang alle bis auf die darstellenden Künste inspirierte, wurde um 1600 Gründungsmythos der Oper und zieht sich seitdem wie ein roter Faden durch die Geschichte des Musiktheaters. Ist doch das musikalische Moment hier handlungstragend: Orpheus, der durch Musik wilde Tiere besänftigt, Steine erweicht und Götter zu Ausnahmeregelungen bewegt, verliert seine geliebte Eurydike. Die von einer Schlange Gebissene weilt unerreichbar in der Unterwelt, doch Orpheus wird es von olympisch berufener Stelle erlaubt, die geliebte Frau aus der Unterwelt zurückzuholen – unter der Bedingung, dass er schweigen muss und sich nicht nach seiner Frau umschauen darf auf dem Weg zurück ins Leben. Beides unmenschliche Forderungen für einen Musiker. Deshalb endet die Geschichte tragisch.
O– wie Opernparodie
Seit der Antike hat sich am Grundgerüst der Orpheuserzählung nicht viel geändert. Lediglich der Schluss variiert bisweilen, wenn ein „lieto fine“, also ein „Happy End“ gefordert wird. Jacques Offenbach rüttelt nun aber an den Grundfesten dieser Erzählung, indem er nicht das Ende, sondern die Ausgangssituation verändert, als er die alles entscheidende Frage stellt: Was ist, wenn Orpheus und Eurydike sich gar nicht mehr lieben? Und schon steht der Mythos kopf.
Ö – Öffentliche Meinung
Und das ruft die „Öffentliche Meinung “ auf den Plan. Eine Instanz unbestimmten Stimmfachs, die Offenbach zur Wahrung der mythischen Handlung auf die Bühne bringt. Die Öffentliche Meinung ist der Tradition verpflichtet und dem korrekten Fortgang der Erzählung. Sie ist die Hüterin der Asche, wo das Weitertragen der Flamme schon längst stattfindet.
Und sie hat einen Verbündeten in der Realität: Jules Janin, den gefürchteten Pariser Kritiker der ersten Stunde. Er sah in Offenbachs „Orpheus“ eine „Profanation des glorreichen Altertums“, wetterte über den Missbrauch des Mythos und weckte gerade dadurch das Interesse des Publikums an der Operette. Die Librettisten Victor Crémieux und Ludovic Halévy kolportierten alsbald, dass die komischsten Stellen in Plutos blumigen Ausführungen wörtliche Zitate aus Janins Kritiken seien. Fortan waren die Vorstellungen ausverkauft. Und das Stück wurde gespielt, bis die Aufführungsreihe nach über 200 Vorstellungen wegen Erschöpfung der Darsteller abgebrochen wurde.
O – wie Olymp
Einer erzittert vor der Öffentlichen Meinung wie kein anderer: Jupiter . Wie jeder Autokrat sucht er seine Legitimation im Rückhalt seiner Untertanen. Je demagogischer er dabei vorgeht, desto erfolgreicher wird er seinen Herrschaftsanspruch behaupten. Nur gibt es bei Offenbach weder wahre Herrscher noch echte Demagogen auf der Bühne, womit die „Öffentliche“ also mit ihrer Meinung bisweilen sehr alleine dasteht – ebenso wie Jupiter, der entweder von seinen Mitgöttern demontiert wird oder es gleich selbst besorgt.
O– wie originell
Es ist die Basis des Humors, den Gegenstand des Amüsements zu überhöhen, zu verzerren, in einen komischen Zusammenhang zu stellen, schlicht: zu parodieren . Die Librettisten Ludovic Halévy und Victor Crémieux waren bekannt für ihre originellen Libretti und erfahren im Geschäft. Insbesondere Ludovic Halévy, der zur Entstehungszeit des „Orpheus“ zeitgleich zu den literarischen Aufgaben ein wichtiges politisches Amt als Generalsekretär bekleidete, hatte einen tiefen Einblick in die zeitgenössische Gesellschaft, die es zu parodieren galt und die der heutigen so frappant ähnelt – eben weil es zutiefst menschliche Schwächen sind, die hier aufs Korn genommen werden und die zeiten- und staatenunabhängig sind. Und weil – und das ist das große Verdienst sowohl Halévys/Crémieux’ als auch Offenbachs – diese Schwächen liebevoll parodistisch aufgezeigt werden. Das Unvollkommene, das das Menschsein bestimmt, wird hier nicht kritisiert, sondern zum Anlass genommen, sich über sich selbst zu amüsieren. Und in diesem Amüsement liegt eine ungeahnt subversive Kraft. Es ist kein Zufall, dass das Lachen das erste ist, was in Diktaturen erstickt wird. Doch Halévy und Crémieux gelingt es immer wieder, im Libretto funkelnde kleine Spitzen gegen den herrschaftlichen Olymp zu platzieren. So finden sich in der Figur des Jupiters zahlreiche Anspielungen auf Napoleon III., den französischen Herrscher des 2. Kaiserreichs, der sich mit Pomp und großer Architektur umgab und sich dafür feiern ließ, die sozialen Ungleichheiten und die Probleme der bürgerlichen und Arbeiterschicht großzügig übersehend. Das Kaiserreich ist Geschichte, die Autokratie nicht und auch die Demokratie hat ihre Jupiters –nur heißen sie hier Großindustrielle, Oligarchen oder FIFA …
O – wie Original und Parodie
So gut ein Libretto auch sein mag, es wäre verloren ohne entsprechende Musik. Zeit also, um Jacques Offenbach als Meister der musikalischen Parodie zu feiern. Es gibt nahezu keinen Stil, den er nicht aufgreift, um ihn punktgenau satirisch einzusetzen. Überflüssig zu erwähnen, dass natürlich auch Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Eurydice“ gebührend zitiert wird. Doch nicht nur die Oper muss hier Federn lassen: Fugen und Menuette stehen für vergangene, gepuderte Zeiten. Selbstredend ist es der älteste aller Götter, Jupiter, der sein Tanzbein zu einem Menuett schwingt, während sich die aufmüpfige nächste Göttergeneration dem revolutionären Can-Can hingibt – freilich erst nachdem sie einen Aufstand wegen mangelnder Abwechslung auf dem göttlichen Speiseplan geprobt hat und dies – natürlich – zu den Klängen der Marseillaise.
O – wie Originalgenie
Mit dem Orpheus wird nicht nur eine mythische Sagenfigur in seiner Eigenschaft als heldenhaft Liebender demontiert, sondern auch der Musiker Orpheus unter die Lupe genommen. Seit das ausgehende 18. Jahrhundert den Geniegedanken in die Kunst und somit auch in die Musik brachte, nimmt das Virtuosentum absonderliche Ausmaße an. Der „Schneller-höher-weiter-Gedanke“ , der so mancher Komposition von Paganini oder Liszt zugrunde liegt, entspringt bisweilen eher einem (olympischen) Wettbewerb, denn einem musikalischen Bedürfnis. Und so sind es nur die wenigen aufrichtigen Augenblicke, in denen Orpheus seiner Geige wirklich Musik entlockt. Aber Offenbach gönnt ihm diese Momente – das macht seine menschliche Größe aus.
O– wie offene Anlage
Tatsächlich gibt es DEN „ Orpheus in der Unterwelt“ nicht. Offenbach passte seine Werke an die jeweiligen Aufführungssituationen und -gebräuche an. So variieren die Fassungen in der orchestralen Besetzung ebenso wie in der Zahl der Akte und Musiknummern. Die Urfassung von 1858 unterscheidet sich wesentlich von der späteren aus dem Jahr 1874. Aber Offenbach war nie Purist: Ihm kam es darauf an, mit der im Hinblick auf die Aufführung bestmöglichen Variante ein möglichst optimales Ergebnis zu erzielen. Daher ist es bis heute üblich, Mischfassungen zu spielen. Die Handlung bleibt dabei immer gleich, die musikalischen Nummern variieren und bisweilen kommen so Figuren zu Wort, die sonst ein wenig zu kurz kämen – im Falle dieser Inszenierung sind das die oft so unterweltlich belichteten Personen des John Styx, des Charon und des Zerberus, die endlich einmal singen dürfen – gemeinsam mit Eurydike.
O– wie obszön
Kein „Orpheus“ ohne Can-Can. Als wohl bekannteste Musik dieser Operette darf der berühmte „Höllengalopp“ nie fehlen. Und meist sieht man die schwingenden Beine und die mehrlagigen Rüschenröcke schon vor dem geistigen Auge – und sitzt damit einem Irrtum auf, denn als Offenbach seinen Can-Can komponierte, schwang man die Beine noch nicht in dieser Weise dazu. Zunächst handelte es sich nicht um einen Varieté-, sondern um einen Gesellschaftstanz, der aber nicht weniger skandalös war als das, was durch das berühmte „Moulin Rouge“ später zum Inbegriff des Can-Can wurde und bis heute zu Offenbachs Musik getanzt wird. Zunächst einmal fiel der in den 1830er Jahren in Paris entstandene Tanz durch die Tatsache auf, dass Frauen ihn alleine – ohne männlichen Partner – tanzten. Also ob das nicht schon skandalös genug gewesen wäre, verwendeten die Tanzenden provokante Schritte und Figuren, die mit Bezeichnungen wie „La Cathédrale“ (die Kathedrale), „Le Fussil“ (die Flinte) oder „Le Coup de Cul“ („Der Arschschuss“) und den entsprechenden Bewegungen Kirche und Staat verhöhnten. Der Staat reagierte prompt und verbot den Tanz, ja stellte sogar die Aussprache des Wortes „Can-Can“ unter Strafe.
O– wie off the record
Am Tag der Uraufführung des „Orpheus“ , dem 21. Oktober 1858, kurz bevor der Vorhang sich hebt, herrscht im Theater der ganz normale Premierenwahnsinn – so weiß das „Journal amusant“ seinerzeit aus Paris zu berichten … „Offenbach nimmt gerade ein paar Änderungen an der Partitur der kleinen Flöte vor, da meldet man ihm, dass Fräulein Tautin, die Darstellerin der Eurydice, ein echtes Tigerfell verlange, weil sie sonst nicht in bacchantische Stimmung gerate. Dann treten nacheinander mehrere Deutsche ein, die in ihrer Eigenschaft als Landsleute Offenbachs Freikarten erbetteln. Kaum sind sie hinausbefördert, so wird Offenbach davon verständigt, dass die kleine Flöte einen Fieberanfall habe und heute Abend nicht spielen könne. Drei geheimnisvolle Herren tauchen auf und verschwinden wieder; offenbar die Gerichtsvollzieher.
Ein Kommissionär gibt einen Brief ab, in dem ein Anonymus, zweifellos der Autor eines von Offenbach zurückgewiesenen Manuskripts, während der Premiere Krach zu schlagen droht. Der Theaterportier berichtet aufgeregt, dass eben das Gasrohr in der Straße geplatzt sei; das Innenministerium fordert noch verschiedene Striche; der Journalist Villemessant erscheint im Türrahmen und ersucht Offenbach, ihm unverzüglich bei einem Duell Sekundantendienste zu leisten.“
Jacques Offenbach
„Ihr sollt niemals aufhören zu leben, ehe ihr gestorben, welches manchem passiert und ein gar ärgerliches Ding ist.“
Termine
Premiere in Stralsund am 18. Mai 2024
TwoGo – Die smarte Mitfahrlösung für mehr Mobilität
Aufgrund der Sanierung des Großen Hauses in Greifswald können einige große Produktionen auch weiterhin nur im Theater Stralsund gezeigt werden. Da sich die Anfahrt mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu unseren Spielstätten in einigen Fällen als unflexibel und teuer erweist, möchten wir Ihnen für Ihre Theaterbesuche eine angenehme Alternative anbieten. Dafür nutzen wir die smarte Mitfahrlösung von TwoGo.
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Herausgeber:
Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2023/24
Geschäftsführung:
André Kretzschmar
Redaktion: Katja Pfeifer
Gestaltung: giraffentoast Impressum
Textnachweise: Bei den Texten handelt es sich um Originalbeiträge für dieses Heft unter Zuhilfenahme folgender Werke: Grun, Bernhard: Kulturgeschichte der Operette, München 1961; Volker Klotz: Operette –Portrait und Handbuch einer unerhörten Kunst. Würzburg 2016; Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Frankfurt a.M. 1976.
Bildnachweise: Die Szenenfotos von Peter van Heesen entstanden auf den Proben am 10. & 15.05.2024.