Stelle dich dem Regen entgegen, laß die eisernen Strahlen dich durchdringen, gleite in dem Wasser, das dich fortschwemmen will, aber bleibe doch, erwarte so aufrecht die plötzlich und endlos einströmende Sonne.
Franz Kafka, Tagebücher. 27. Mai 1914
Stelle dich dem Regen entgegen, laß die eisernen Strahlen dich durchdringen, gleite in dem Wasser, das dich fortschwemmen will, aber bleibe doch, erwarte so aufrecht die plötzlich und endlos einströmende Sonne.
Franz Kafka, Tagebücher. 27. Mai 1914
Ballett von Ralf Dörnen mit Musik von Johannes Brahms
Per Stefano. Grazie e in bocca al lupo!
Johannes Brahms: Violinsonate Nr. 1 G-Dur Op.78
REGEN KLÄRT DIE LUFT. Regen reinigt. Nach dem Regen kommt (zumeist) die Sonne. Regen ist ein Übergang: Vom Dunkel ins Helle, vom Sommer zum Herbst, zum Winter und auch vom Frühling zum Sommer, von grau zu grün. Somit liegt im Regen sowohl ein Abschied als auch ein Neubeginn, der den Weg über das Erinnern und Loslassen genommen hat. Der Regen ist ein Umbruch.
In Johannes Brahms‘ sehr poetischer Regensonate Nr. 1 G-Dur Op.78 klingen das Loslassen, Abgeben, Abschied nehmen sowie Neubeginn thematisch durch. Der Komponist zitiert darin musikalisch seine Stücke „Regenlied“ und „Nachklang“, beides Gedichtvertonungen des befreundeten Dichters Klaus Groth. Der musikalischthematische Bezug zu den Texten verhalf der Sonate zu den Beinamen „Regensonate“ oder auch „Regenlied-Sonate“. Entstanden ist Brahms‘ erste Sonate im Frühjahr 1878 bei einem Besuch am Wörthersee, der für ihn den Umbruch vom Frühjahr zum Sommer sehr deutlich werden ließ. Allerdings wird die Entstehungszeit des Werkes überschattet durch die Krankheit seines 24-jährigen Patenkindes Felix Schumann. Johannes Brahms hatte 1855 für den Jungen von Clara und Robert Schumann die Patenschaft übernommen. Felix erlag im Alter von nur 25 Jahren seiner schweren Tuberkulose-Erkrankung. So verwundert es nicht, dass wehmütiges Erinnern, aber auch Hoffnung in der Musik durchklingen. Die Sonate verbindet alles miteinander.
Nachklang
Regentropfen aus den Bäumen Fallen in das grüne Gras, Tränen meiner trüben Augen Machen mir die Wange naß. [Wenn die Sonne wieder scheinet,] Wird der Rasen doppelt grün: Doppelt wird auf meinen Wangen Mir die heiße Träne glühn.
Klaus Groth (1819 – 1899)
Regenlied – Ballettabend
DAS DREISÄTZIGE WERK bildet den musikalischen Teppich der Choreographie und bedient sich ebenfalls der genannten großen Themen: Abschied, Loslassen, Erinnerung und nahender Neubeginn. Jeder einzelne von uns bringt persönliche Abschiede und Erinnerungen mit. Jede neue Spielzeit bringt Veränderungen mit sich und jedes Ende einer Spielzeit geht mit Abschieden einher. War die erste Vision zur inhaltlichen Ausrichtung des Ballettabends noch eine allgemeine Aussage zu Abschied und Neubeginn zu kreieren, entstand im Verlauf der Arbeit mit der Musik und dem Ballettensemble eine immer konkretere Idee. Zum Ende dieser Spielzeit verlassen fünf Ensemblemitglieder das BallettVorpommern. Darunter drei Tänzer*innen, die ihre Tanzkarriere abschließen und damit jeweils sehr persönliche Perspektiven zu den eingeschriebenen Themen der Musik und der entstandenen Choreographie einnehmen. „Regenlied“ bildet damit einen Abschluss für all jene, denen wir Lebewohl sagen.
Im 1. SATZ , einem Solo für einen Tänzer, steht die Erkenntnis des Endes der aktiven Tänzerkarriere mit all ihren Facetten im Mittelpunkt. Er befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Leistung und doch ist da das Erkennen, dass der Körper nicht mehr das zu leisten vermag, was der Kopf umsetzen möchte. Da sind die Erinnerungen an all die Höhen und Tiefen im Leben eines Tänzers - die harte Arbeit, der Mut, ... und dann am Ende kurz vor der Premiere das Glücksgefühl nach der körperlichen Schwerstarbeit auf den Proben. Zugleich ist da auch die Erinnerung an den Applaus, an die strahlenden Augen des Publikums und an all die Momente mit den Menschen auf und hinter der Bühne, denn der einzelne Tänzer ist auch immer Teil eines Ensembles. All das vereinigt sich in diesem Solo. Der 2. SATZ widmet sich den konkreten Erinnerungen und dem Loslassen. Drei Tanzpaare symbolisieren die Bilder aus der Vergangenheit. Der Tänzer erlebt Momente seiner Biografie erneut, lässt die Zeit auf der Bühne Revue passieren und diese schmerzlich an sich vorbeiziehen, um sie zugleich in sich aufzunehmen, aktiv auf sie einzugehen und sie schließlich an sich vorbeigleiten zu lassen, um Abschied zu nehmen, den (eigenen) Weg und die Bühne freizumachen für Neues. Dabei kämpft der scheidende Tänzer mit der ganzen Bandbreite der Emotionen, die ein solch starker Einschnitt mit sich bringt.
Den FINALSATZ kennzeichnet die Befreiung von den Ängsten des Loslassens und des Abschieds. Über allem schwebt eine freudige Erwartung auf neue Herausforderungen. Der regnerische Himmel lichtet sich, die Sonne bricht durch die Wolken, vertreibt damit die Zweifel und Ängste, denn gewiss ist: Das Leben geht weiter und die Vögel werden immer noch singen…
Ein Brief ist eine Seele.
Er ist ein so treues Abbild der geliebten Stimme, die spricht, daß empfindsame Seelen ihn zu den köstlichsten Schätzen der Liebe zählen.
Honoré de BalzacBallett von Ralf Dörnen basierend auf dem Album „The Juliet Letters“ von Elvis Costello und dem Brodsky Quartet
1. Deliver Us
2. For Other Eyes
3. Swine
4. Expert Rites
5. Dead Letter
6. I Almost Had a Weakness
7. Why?
8. Who Do You Think You Are?
9. Taking My Life in Your Hands
10. This Offer Is Unrepeatable
11. Dear Sweet Filthy World
12. The Letter Home
13. Jacksons, Monk and Rowe
14. This Sad Burlesque
15. Romeo’s Seance
16. I Thought I’d Write to Juliet
17. Last Post
18. The First to Leave
19. Damnation’s Cellar
20. The Birds Will Still Be Singing
Alle Songtexte finden Sie unter: www.elviscostello.info/wiki/index.php/The_Juliet_Letters_lyrics
BRIEFE VOLLER HOFFNUNG ODER TRAUER , Wünsche oder Ängste, Zweifel oder Freude; gerichtet an Julia Capulet; ja, die Shakespeare’sche Julia, die dem Dramatiker folgend in Verona in Italien lebte und in der berühmtesten Liebesgeschichte der Welt zusammen mit ihrem Romeo in den Tod ging. Geschrieben wie an eine imaginäre Brieffreundin, vielleicht ein bisschen wie ein Sorgentelefon, dem man sein Innerstes anvertraut; vielleicht auch gerade weil man gar keine Antwort erwartet … Elvis Costello, der erfolgreiche englische Sänger und Komponist, hat gemeinsam mit dem Brodsky Quartett zwanzig fiktive Briefe verfasst, vertont und im Lieder-Zyklus „The Juliet Letters“ zusammengestellt, der als Studio-Album dem Ballett-Abend zugrunde liegt. Ausgangspunkt für die Idee des Albums bildete eine Zeitungsnotiz, auf die Elvis Costello durch seine damalige Frau Cait aufmerksam gemacht wurde: In Verona gründete Giulio Tamassia, ein Professor, mit einigen Frauen den „Club di Giulietta“, der es sich ehrenamtlich zur Aufgabe machte die Briefe mit der offiziellen Adresse „Julia, Verona, Italien“ handschriftlich und individuell zu beantworten.
Die Texte von Costello und den Musikern für das Album sind nicht ausschließlich Liebesbriefe, sondern auch Abschiedsbriefe, Beileidsbriefe, Bettelbriefe, verschriftlichte Kindheitserinnerungen. Sogar eine mögliche Antwort des Professors bezogen sie für das Album als Textgrundlage mit ein.
Die Konzeption des Ballettabends spielt mit dem Gedanken, dass fremde Menschen die eigenen Gedanken lesen. Nicht die tragische Liebe zwischen Romeo und Julia stehen im Mittelpunkt, sondern die Verfasser der Briefe, die Adressaten und die Leser. Wie auch das Album und die zugrunde liegenden Briefe nicht dazu gedacht sind, eine Art Dialog zu bilden und damit Nähe zu schaffen, so stehen auch die einzelnen Titel des Ballettabends unabhängig nebeneinander. Die Texte werden nicht choreographisch übersetzt, sondern zum Teil meditativ begleitet, assoziativ bebildert, karikiert oder tänzerisch kommentiert und interpretiert.
ELVIS COSTELLO , einer der bekanntesten nicht bekannten Musiker, wurde 1954 als Declan Patrick Macmanus geboren und ist der Sohn des Trompeters Ross MacManus. Er arbeitete zunächst als Informatiker und trat schon Anfang der 70er solistisch in Clubs auf. 1976 spielte er mit der Band Flip City, nahm dabei erste Demobänder auf, die ihm einen Vertrag bei dem Label Stiff Records einbrachten. Dort erschien 1977 sein Debütalbum „My Aim Is True“, wo er unter dem Künstlernamen Elvis Costello firmierte (der sich aus Elvis Presley und dem Mädchennamen von Costellos Mutter zusammensetzt).
Als Backing-Band entstand dabei auch The Attractions, die ihn fortan auf einem Großteil seiner Auftritte und Alben begleiteten. Ein Jahr später erschien das zweite Album „This Year’s Model“, das erfolgreicher als der Vorgänger war, ebenso wie der Nachfolger „Armed Forces“, das in Großbritannien und den USA ein Top10-Hit wurde. Costello begann auf seinen regelmäßig erscheinenden Alben mit verschiedenen Musikstilen zu spielen, „Get Happy!!“ (1980) ist vom SOUL geprägt, auf „Almost Blue“ (1981) covert er COUNTRYSONGS, „Imperial Bedroom“ (1982) ist stark am POP orientiert. Bei „Punch the Clock“ arbeitete er mit den sehr erfolgreichen Produzenten Clive Langer und Alan Winstanley zusammen und das Album ist für Costello eines der erfolgreichsten. Der Nachfolger „Goodbye Cruel World“ floppte.
1986 erschienen gleich zwei Alben, „King of America“ und „Blood and Chocolate“, auf dem er für eine Weile das letzte Mal mit den Attractions zusammenarbeitete. 1987 wechselte er zu Warner Bros., arbeitete mit Paul McCartney zusammen und veröffentlichte „Spike“, auf dem der mit McCartney geschriebene Song Veronica enthalten ist, Costellos erfolgreichste Single in den USA. 1989 erschien „Mighty Like a Rose“.
1993 arbeitete er mit dem Brodsky Quartet zusammen an dem Album „The Juliet Letters“. Mit den Attractions entstand 1994 „Brutal Youth“, 1995 die Cover-Compilation „Kojak Variety“, 1996 „All This Useless Beauty“ mit Songs, die er für andere Künstler geschrieben hatte und 1998 „Painted From Memory“ zusammen mit Burt Bacharach.
2001 wurden all seine ersten Alben mit Bonus-CDs wiederaufgelegt. Costello unterrichtete an der Universität von Kalifornien, Los Angeles, trat in Filmen auf und veröffentlichte 2002 „When I Was Cruel“ zusammen mit Mitgliedern der Attractions, die nun The Imposters hießen. 2003 erschien „North“, mit Diana Krall arbeitete Costello an ihrem Album und veröffentlichte das Klassik-Album „Il Sogno“ und das KonzeptAlbum „The Delivery Man“ mit den Imposters. 2006 erschien die Live-Orchester-Kollaboration „My Flame Burns Blue“ und zusammen mit Allen Toussaint „The River In Reverse“. „National Ransom“ erschien 2010 und wird Album des Monats im Rolling Stone. Costello ist zum dritten Mal verheiratet. Die erste Ehe wurde 1974 mit Mary Burgoyne geschlossen, mit der er 1975 einen Sohn bekam. 1986 heiratete er die ehemalige Pogues-Musikerin Cait O‘Riordan; das Paar ließ sich 2002 scheiden. Ein Jahr später heiratete Costello die kanadische Jazzpianistin und Sängerin Diana Krall. 2006 bekam das Paar Zwillinge.
DAS BRODSKY QUARTET ist benannt nach dem großen russischen Geiger Adolf Brodsky. Die Musiker (Ian Belton (Violine), Michael Thomas (Violine), Paul Cassidy (Viola) und Jacqueline Thomas (Violoncello)) gaben seit der Gründung 1972 über 3000 Konzerte auf den bedeutendsten Konzertpodien der Welt und spielten rund 60 Aufnahmen für Rundfunk- und CD-Produktionen ein.
Das Streichquartett bestritt in der 50-jährigen Konzerttätigkeit Gastspiele in Australien, Nord- und Südamerika, Asien, Südafrika, Europa und in ihrem Heimatland Großbritannien. Zu seiner Spezialität gehört die Aufführung vollständiger Quartettzyklen von Schubert, Beethoven, Tschaikowsky, Britten, Schönberg, Zemlinsky, Webern, Bartók und vor allem Schostakowitsch. Die ausgeprägte Neugier und Erkundungslust führten das Quartett mit großer Energie in verschiedenste künstlerische Richtungen abseits der gängigen Kammermusik. Die Zusammenarbeit u.a. mit Elvis Costello, Björk, Sting und Paul McCartney sowie internationale Auszeichnungen und fortgesetztes pädagogisches Engagement für die Begegnung mit der jüngeren Generation zeichnet das Brodsky Quartett ebenso aus wie internationale Meisterkurse und Künstlerresidenzen an der University of Cambridge, dem Royal Conservatoire of Scotland.
Eine weitere Besonderheit des Quartetts ist es, dass die Mitglieder meist im Stehen musizieren, die Cellistin modifizierte zu diesem Zweck ihr Instrument mit einem überlangen Klangstachel und benutzt einen kleinen Schemel unter ihrem linken Fuß, so dass sie das Cello am gebeugten Knie abstützen kann. Die Musiker schmücken ihre Aufführungen häufig durch humorvolle sowie informative Ansagen. Im Mai 1988 wurde das Brodsky Quartett mit dem „Royal Philharmonic Society Award“ für seine herausragenden Beiträge zur Musik ausgezeichnet. In der aktuellen Formation des Streichquartetts spielt Krysia Osostowicz die erste Violine.
Premiere in Greifswald 17. Mai 2024 , Stadthalle/Kaisersaal
Premiere in Stralsund 08. Juni 2024 , Großes Haus
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Aufgrund der Sanierung des Großen Hauses in Greifswald können einige große Produktionen auch weiterhin nur im Theater Stralsund gezeigt werden. Da sich die Anfahrt mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu unseren Spielstätten in einigen Fällen als unflexibel und teuer erweist, möchten wir Ihnen für Ihre Theaterbesuche eine angenehme Alternative anbieten. Dafür nutzen wir die smarte Mitfahrlösung von TwoGo.
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„Ich denke nicht mit (…) einem Ansatz über meine Musik nach. Das ist mir zu analytisch. Wir Musiker machen die Musik mit dem Material, das uns in einem bestimmten Moment zur Verfügung steht. Ich denke niemals daran, ob das, was ich mache, nun New Wave, Alternative, Americana oder sonst etwas ist. Solche Etiketten bergen immer die Gefahr, dass man den Blick für das Wesentliche verliert, nämlich für den tatsächlichen Inhalt der Musik, ihre Lebendigkeit. Das ist, als ob man eine Packung Kekse kauft und dann in die Verpackung beißt, in der Erwartung, dass sie gut schmeckt.“
Herausgeber:
Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2023/24
Geschäftsführung: André Kretzschmar
Impressum
Redaktion:
Inga Helena Haack Gestaltung: giraffentoast
Textnachweise: S. 4, 5, 11: Die Texte sind Originalbeiträge für das Programmheft von Ralf Dörnen und Inga Helena Haack. Alle weiteren Texte entstanden für das Programmheft unter Verwendung der nach-folgenden Quellen: Elvis Costello (Declan MacManus): Unfaithful Music – Mein Leben. Berlin Verlag, 2015; www.cavewithoutaname.com/upload/20180113-juliet-letters-story.pdf, (Letzter Zugriff: 4.09.2020); www.indiepedia.de/index.php/Elvis_Costello (Letzter Zugriff: 4.09.2020); www.aphorismen.de, (Letzter Zugriff: 28.08.2020); www.laut.de/Elvis-Costello (Letzter Zugriff: 01.09.2020); www.sueddeutsche.de/ reise/liebesdienst-in-verona-an-julia-verona-italien-1.987108, (Letzter Zugriff: 4.09.2020)
Bildnachweise: Coverbild und Probenfotos (14.05.2024) © Peter van Heesen
Elvis Costello