PGH _ Winterreise

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WINTERREISE

Szenischer Liederzyklus Musik von Franz Schubert auf Gedichte von Wilhelm Müller

theater-vorpommern.de


Winterreise Szenischer Liederzyklus Musik von Franz Schubert auf Gedichte von Wilhelm Müller Maciej Kozłowski, Bariton David Behnke, Klavier Musikalische Leitung David Behnke Szenische Einrichtung Dirk Löschner Bühne & Kostüme Christopher Melching Licht Christoph Weber Leitung der Wiederaufnahme und Dramaturgie Katja Pfeifer Inspizienz & Abendspielleitung Lisa Henningsohn, Kerstin Wollschläger Premiere in Putbus am 16. November 2023 Wiederaufnahme in Stralsund am 18. November 2023 Wiederaufnahme in Greifswald am 03. Dezember 2023 Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde und 10 Minuten, keine Pause

Ausstattungsleiterin: Eva Humburg / Technischer Direktor: Christof Schaaf / Beleuchtungseinrichtung: Christoph Weber Bühnentechnische Einrichtung: Robert Nicolaus, Michael Schmidt / Toneinrichtung: Daniel Kelm / Leitung Bühnentechnik: Robert Nicolaus, Michael Schmidt / Leitung Beleuchtung: Kirsten Heitmann / Leitung Ton: Daniel Kelm / Leitung Requisite: Alexander Baki-Jewitsch, Christian Porm / Bühne und Werkstätten: Produktionsleiterin: Eva Humburg / Tischlerei: Stefan Schaldach, Bernd Dahlmann, Kristin Loleit / Schlosserei: Michael Treichel, Ingolf Burmeister / Malsaal: Anja Miranowitsch, Fernando Casas Garcia, Sven Greiner / Dekoration: Frank Metzner / Kostüm und Werkstätten: Leiter der Kostümabteilung: Peter Plaschek / Gewandmeisterinnen: Ramona Jahl, Annegret Päßler, Carola Bartsch Modisterei: Elke Kricheldorf / Ankleiderinnen: Ute Schröder, Petra Westphal / Maske: Tali Rabea Breuer, Jill Dahm, Antje Kwiatkowski, Kateryna Maliarchuk

Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.

Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen.

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Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des ­Landes Mecklenburg-Vorpommern.



Dort, wo du nicht bist,


dort ist das Glück!


WINTERREISE

1 GUTE NACHT 2 DIE WETTERFAHNE 3 GEFRORNE TRÄNEN 4 ERSTARRUNG 5 DER LINDENBAUM 6 WASSERFLUT 7 AUF DEM FLUSSE 8 RÜCKBLICK 9 IRRLICHT 10 RAST 11 FRÜHLINGSTRAUM 12 EINSAMKEIT 13 DIE POST 14 DER GREISE KOPF 15 DIE KRÄHE 16 LETZTE HOFFNUNG 17. IM DORFE 18 DER STÜRMISCHE MORGEN 19 TÄUSCHUNG 20 DER WEGWEISER 21 DAS WIRTSHAUS 22 MUT 23 DIE NEBENSONNEN 24 DER LEIERMANN

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Zwischen Raubvögeln Jetzt – einsam mit dir, zwiesam im eignen Wissen, zwischen hundert Spiegeln vor dir selber falsch, zwischen hundert Erinnerungen ungewiß, an jeder Wunde müd, an jedem Froste kalt, in eignen Stricken erwürgt, Selbstkenner! Selbsthenker! Friedrich Nietzsche

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WILLST WOHL EINMAL HINÜBERSEH’N UND FRAGEN, WIE ES DORT MAG GEH’N 1794 wird Johann Ludwig Wilhelm Müller in Dessau geboren.

1797 Franz Peter Schubert erblickt das Licht der Welt in Himmelpfortgrund, heute ein Wiener Stadtteil.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. Friedrich Hölderlin, 1804

1804 Während für Friedrich Hölderlin – mit 34 Jahren über die „Hälfte des Lebens“ dichtend – sein persönlicher, 40 Jahre währender Winter anbricht, entwickelt sich Wilhelm Müller zu einem aufgeweckten, sprachbegabten und freiheitsliebenden Jungen.

1808 Nach erstem Musikunterricht durch den Vater wird Franz Schubert Hofsängerknabe und Schüler des Akademischen Gymnasiums in Wien. In der Folgezeit entstehen erste Kompositionen. Sein Entschluss, Musiker zu werden, steht fest.

1812 Enthusiastisch beginnt Wilhelm Müller ein Studium der Philologie an der neu gegründeten Berliner Universität.

1812 Franz Schubert kommt in den Stimmbruch. Er muss die Akademie verlassen und kehrt ins elterliche Haus zurück.

1813 Es herrscht Aufbruchstimmung in Deutschland. Viele melden sich freiwillig zum Militär, um sich gegen die Fremdherrschaft Napoleons zur Wehr zu setzen. Wilhelm Müller ist einer dieser Freiwilligen.

1813 Wegen ungenügender Leistungen in Mathematik und Latein hatte Schubert sein Schulstipendium nicht verlängern können. Jetzt wird er selbst Lehrer. Doch sein Enthusiasmus gilt der Musik; er komponiert und nimmt bei Antonio Salieri Unterricht in Kontrapunkt. Erste Lieder entstehen, darunter „Gretchen am Spinnrade“ und „Der Erlkönig“. 8


1814 Müller ist in Brüssel stationiert und steigt in der militärischen Hierarchie auf, um gleich darauf wieder abzusteigen: Eben erst zum Leutnant berufen, wird er aus dem Militär unehrenhaft entlassen. Man munkelt von einer Liebesbeziehung zu einer Wallonin und unerlaubtem Entfernen vom Heer.

1815 Retrospektiv wird dieses als Schuberts „Wunderjahr“ bezeichnet werden. Er komponiert nahezu 150 Lieder. Schubert lebt in seiner Musik, doch meidet er öffentliche Aufführungen.

Gottlob, dass alles überstanden ist! Das vergangene Jahr liegt so weit hinter mir oder vor mir, als wäre ich seitdem von einem Kinde zum Greise oder von einem Greise zum Kinde geworden. Wilhelm Müller, Tagebucheintrag vom 7. Oktober 1815

1819 Die restaurativen Tendenzen, die sich seit dem Wiener Kongress in Österreich und Deutschland gleichermaßen manifestieren, bekommen einen Namen – und eine Gesetzesgrundlage: Die „Karlsbader Beschlüsse“ institutionalisieren Zensur und Bespitzelung. Die Pressefreiheit wird ausgesetzt. Ein Polizeistaat entsteht. In dieser Zeit erhält ein 1780 veröffentlichtes Gedicht erstmals seine Melodie und wird zum Volkslied: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei: die Gedanken sind frei. 1821 Wilhelm Müller schreibt Gedichte – unverfängliche, scheinbar private. Er veröffentlicht seinen Gedichtzyklus „Die schöne Müllerin“, der im Nachgang einer unglücklichen Liebesbeziehung entstanden ist. Müller stellt dem Werk die Empfehlung „Im Winter zu lesen“ voran.

1823 Franz Schubert erkrankt schwer an Syphilis und unterzieht sich mehrfach drastischen Behandlungsversuchen – mit zweifelhaftem Erfolg. Gleichzeitig wird er auf Müllers Gedichtzyklus „Die schöne Müllerin“ aufmerksam und vertont ihn. Wilhelm Müllers Worte gehen in Franz Schuberts Musik auf. 9


Denn in der Tat führen meine Lieder nur ein halbes Leben, ein Papierleben, schwarz auf weiß, … bis die Musik ihnen den Lebensodem einhaucht, oder ihn doch, wenn er darin schlummert, herausruft und weckt. Wilhelm Müller, Tagebucheintrag vom 15. Dezember 1822

1823 Müller schreibt einen neuen Gedichtzyklus. Auch dieser trägt bereits liedhafte Züge. Müller widmet ihn Carl Maria von Weber. Aufgrund der rigiden Zensurbestimmungen können zunächst nicht alle der Gedichte veröffentlicht werden. Sie erscheinen in einem Gedichtbändchen unter dem Titel „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In zwölf Liedern“.

FEBRUAR 1827 Franz Schubert ist auf Müllers Gedichtband aufmerksam geworden, zieht sich zurück und überrascht in einer Privataufführung mit einem „Zyklus schauerlicher Lieder“, der Befremden bei seinen Freunden auslöst. Er nennt den neuen Zyklus „Winterreise“.

Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur „nun, ihr werdet es bald hören und begreifen“. Josef von Spaun, Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert, 1858

1824 In der Werkausgabe mit dem bemerkenswerten Titel „Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“ erscheint der mittlerweile auf 24 Gedichte angewachsene und in eine neue Reihenfolge gebrachte vollständige Gedichtzyklus „Winterreise“.

OKTOBER 1827 Schubert, der seinen Zyklus nach dem zwölften Lied, „Einsamkeit“ bereits als abgeschlossen betrachtet hatte, wird auf weitere zwölf Gedichte aufmerksam und komponiert einen zweiten Teil der „Winterreise“. Dabei ändert er die Reihenfolge in seinem Sinne.

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Er war lange und schwer krank gewesen, er hatte niedergeschlagene Erfahrungen gemacht, dem Leben war die Rosenfarbe angestreift; für ihn war Winter eingetreten. Die Ironie des Dichters, wurzelnd in Trostlosigkeit, hatte ihm zugesagt; er drückte sie in schneidenden Tönen aus. Johann Mayrhofer, Erinnerungen an Franz Schubert, 1829

1827 Wilhelm Müller stirbt nach einem nicht auskurierten Keuchhusten an Herzversagen.

1828 Franz Schubert stirbt an den Spätfolgen der Syphilis.

Wilhelm Müller und Franz Schubert sind sich nie begegnet. Es ist fraglich, ob Müller wusste, dass Schubert seine Gedichte vertont hatte.

Sie wandern aufeinander zu, zwei Schwierige, in sich gekehrt, viel zu früh müde, und kommen sich doch nicht vor die Augen. … Müller kam um Schuberts Antwort, hörte sie nie. Sie hätte ihm auch nicht mehr helfen, ihn aber für einen Moment glücklich stimmen können. Peter Härtling

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Vom W­andern im Winter Er bestimmt Schuberts gesamtes Œuvre, scheint omnipräsent zu sein: der Wanderer. Als ureigener Ausdruck des romantischen Selbstverständnisses zieht er durch Sinfonien, Klavierfantasien und Liederzyklen, in gleichmäßigem Schritt strebt er nur scheinbar einem Ziel entgegen, denn es ist der Weg, der zählt. Ihn beschreitet Schuberts Wanderer mal entschlossen, mal getrieben. Es ist der Lebensweg, der hier zum musikalisch-philosophischen Thema wird, die Reise eines einsamen, der Welt entfremdeten Geistes zu sich selbst. Eine Pilgerschaft im Wortsinn: „Peregrinus“, der lateinische Ausdruck, von dem sich der Begriff „Pilger“ herleitet, bedeutet nichts anderes als „Fremder“. Und es ist kein Zufall, dass dies wortwörtlich der Ausgangspunkt von Schuberts vielleicht wichtigstem Liederzyklus ist: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh' ich wieder aus.“ Als Schuberts (und Müllers) Wanderer den Entschluss fasst, seine Winterreise anzutreten, ist er längst halt- und heimatlos. Von der Geliebten zurückgewiesen und all seiner Zukunftspläne beraubt, bricht er ins Ungewisse auf. Mag sein, dass seine wenigen Habseligkeiten in einen Rucksack passen und er den Weg mit „leichtem Gepäck“ beschreitet, doch wiegen die gedanklichen Lasten schwer – und längst hat er sich nicht von allem getrennt, das er hinter sich zu lassen wünscht. Erst der vor ihm liegende Weg wird diese Lasten beleuchten, bewerten und den Wanderer im besten Fall davon befreien.

Immer wieder wendet er den sehnsüchtigen Blick zurück. Bilder des Frühlings, der Liebe, vielleicht sogar der Geborgenheit blitzen für einen Moment auf, um im nächsten als Fantasie, als Wunschdenken entlarvt zu werden. Der Wanderer muss weiter. „Die Liebe“ – und das Leben, so möchte man ergänzen – „liebt das Wandern“. Und Müllers wie Schuberts Weg führt durch eine kalte, unwirtliche Welt, die allein durchschritten werden muss. Einsamkeit und Kälte ziehen sich durch jedes einzelne der 24 Lieder und sind ein Spiegel der inneren und äußeren, der seelischen wie gesellschaftlichen Eiszeit, mit der sich der Wanderer konfrontiert sieht. So ließ das eisige Klima der Restauration, das in der Entstehungszeit des Gedichtzyklus herrschte, jegliche Visionen von Freiheit und Verwirklichung ins Leere laufen, sodass Müller sich gezwungen sah, seine Verse mit einem doppelten Boden zu versehen. Wenn es unter dem gefrorenen Flusse im 7. Lied „so reißend schwillt“, meint Müller damit nicht nur ein aufgewühltes Herz in eisigen Zeiten, sondern lässt auch den Geist der Revolte erahnen. Auch wenn Schubert die politische Dimension nicht ausklammert, gilt sein Interesse primär dem Individuum, dem an der Gesellschaft und sich selbst verzweifelnden Fremden. Mit sparsamsten Mitteln verleiht er Müllers grellen Bildern eine existenzielle Stimme: Die des Wanderers, der im Angesicht des Abgrunds doch immer weiter muss. Und obgleich er mehrfach irregeleitet wird, findet er schließlich seinen Weg – denn die Musik führt ihn, ist sein stetiger Begleiter. 12


FREMD BIN ICH EINGEZOGEN, FREMD ZIEH' ICH WIEDER AUS

Doch nicht im Sinne einer „Klavierbegleitung“. Denn der Klavierpart in Schuberts Liedern ist weit mehr als die bloße Harmonisierung der Gesangsstimme. Das Klavier zieht gleich dem „Mondenschatten“ als Gefährte mit, ist auf Augenhöhe mit dem Sänger, kommentiert, überhöht, tritt in Dialog und treibt den Wanderer weiter, wenn er verzagt. Je länger der Weg währt, desto drängender wird die Frage nach dem Ziel. Schließlich erscheint dem Wanderer ein Wegweiser, der in seiner Eindeutigkeit nicht misszuverstehen ist. Er bringt die Gewissheit einer Straße mit, „die noch keiner ging zurück“. Dies ist der Moment, wo Schubert – und vor ihm Müller – ihrer Zeit voraus sind, einen Weg verfolgen, den kein Romantiker bislang beschritt. Dort, wo der romantische Weg den zeitgenössischen Wanderer in den (Frei)tod – bei Wagner später auch in den Liebestod geführt hätte, verweigern Müller und Schubert ihrem Protagonisten diesen Ausweg. Das Wirtshaus – eine Allegorie des erlösenden Todes – bleibt dem Wanderer verschlossen. Sein Weg wird ihn noch weiter führen. Zwar steht an dessen Ende die Gewissheit des Todes, doch wann dieses Ziel erreicht wird, bleibt ungewiss. Doch der Weg muss beschritten werden. Und dabei sagt sich der Wanderer von all seinem irdischen Gepäck los. Mit den „Nebensonnen“ lässt er zuletzt seinen Glauben, seine Liebe und die Hoffnung fahren. Vor ihm liegt nun noch das letzte Stück Wegs, das er bar jeder Illusion und mit dem letzten Ziel vor Augen beschreitet. Doch wann er es erreichen wird, bleibt im Nebel verborgen. Katja Pfeifer 13


UND ER LÄSST ES GEHEN ALLES, WIE ES WILL

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Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen anseh’n und sagen: „Diesen sollt Ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir“. Franz Kafka

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ICH TRÄUME VON BUNTEN BLUMEN, SO WIE SIE WOHL BLÜHEN IM MAI Es lässt sich oft, anscheinend in der überwiegenden Mehrzahl der Träume beobachten, dass dieselben uns gerade ins gewöhnliche Leben zurückführen, statt uns davon befreien. Werner Kempner

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IHR LACHT WOHL ÜBER DEN TRÄUMER, DER BLUMEN IM WINTER SAH?

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SOLL DENN KEIN ANGEDENKEN ICH NEHMEN MIT VON HIER?

ALS WANDERGESELLE ... nach dreieinhalb Jahren Ausbildung kann man durchs Land ziehen, „auf die Walz gehen“. Gemäß den Bestimmungen der Handwerksgilde dauert die Wanderschaft drei Jahre und einen Tag. Die Wanderschaft hat eine lange Tradition. Im Mittelalter wurden junge Handwerker auf die Walz geschickt, damit sie Erfahrungen sammelten und unterschiedliche Arbeitsmethoden kennenlernten. Von der Zunft gab es eine lange Liste an Vorschriften, die während der Wanderschaft zu befolgen waren. Die Regeln stammen aus dem Mittelalter, gelten aber – angepasst – noch heute: Reisen mit dem Bus oder Zug sind nicht erlaubt, Handys sind tabu, und Wandergesellen dürfen nirgendwo länger als sechs Monate bleiben. ... MIT LEICHTEM GEPÄCK [Der 21-jährige Zimmermann breitet] seine Habseligkeiten aus: fünf Hemden, fünf Paar Socken und Unterwäsche, Säge, Vorschlaghammer, Zollstock, Winkeldreieck, ein kleines grünes Buch mit Anweisungen und Regeln sowie ein Tagebuch. … Was bringt einen jungen Mann dazu, auf die Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts zu verzichten und stattdessen einer angestaubten Tradition zu folgen? … „Es ist eine schöne Sache. Du stehst morgens auf und gehst dorthin, wo du hinwillst. Du bist frei.“ Er wirkt, als sei er in Gedanken an einem ganz anderen Ort. Dann lächelt er das zufriedene Lächeln eines Menschen, der genau das tut, was er tun will. „Du bist frei – und das ist das Wichtigste.“ Lia Grainger 18


Am Abend lege ich mich zwischen die Tannen und schaue dann hoch. Es sieht aus wie ein großes schwarzes Sieb mit unendlich winzigen Löchern, durch die Licht ferner Welten scheint. Dann wieder kommt es mir vor, als wäre mein Schädel ein Sieb, in dessen Mitte eine Kerze brennt, die Lichtpunkte über die Hemisphäre streut. Als Kind war ich einmal mit meinem Vater im Planetarium. Unendlich viele Sterne, und ich frage mich, ob es wirklich unendlich viele sind, und wenn ja, ob abzählbar viele oder überabzählbar. Abzählbar, würde ich schätzen. Das Weltall ist grenzenlos, aber endlich, folglich ist es auch die Zahl der Sterne, und während ich nachdenke und hochschaue in die unendliche Kleinheit und Enge über mir, schreie ich. Ich stehe fünf Minuten auf der Stelle und schreie, der Boden fällt auf mich und ich schreie und schreie, bis der Blick durch das Fenster zum Nachthimmel mich davon überzeugt, dass es doch überabzählbar viele sind, und zwar, weil alles andere nicht zum Aushalten wäre, und deshalb sind es überabzählbar unendlich viele Sterne über mir. Im einen Moment denkt man, man hat es. Dann denkt man wieder, man hat es nicht. Und wenn man diesen Gedanken zu Ende denken will, dreht er sich unendlich im Kreis, und wenn man aus dieser unendlichen Schleife nicht mehr rauskommt, ist man wieder verrückt. Weil man etwas verstanden hat. Ich höre den Wind in den Tannen. Ich träume von Schiffen und Zügen. Ich sehe Menschen, die Schiffe und Züge bauen und damit herumfahren, und frage mich, wozu. Sterben werden sie doch. Ich schlafe bis zum ersten Licht und erwache mit Hunger. Ich stehe auf und laufe in irgendeine Richtung weiter. Wolfgang Herrndorf

EIN LICHT TANZT FREUNDLICH VOR MIR HER, ICH FOLG IHM NACH DIE KREUZ UND QUER


EINE KRÄHE WAR MIT MIR

Wenn die Tage grau werden, rücken die schwarzen Vögel ins Blickfeld: Raben und Krähen, die von den Wissenschaftlern Corvus genannt werden und von denen es allein 42 Unterarten gibt. Nur wenige Tiere werden von den Menschen mit so vielen Mythen verbunden wie Raben. Und kaum ein Tier ist so intelligent. Am Anfang war sie ein Rabe. Lange bevor sich die griechische Göttin Athene die Eule zum Lieblingstier erkor, erschien sie den Menschen in Rabengestalt. Als „Koronis“, die Rabenkrähe, schützte sie das thessalische Krähen-Orakel und die Stadt Athen. Nicht nur die Göttin der Weisheit war gut von Rabenvögeln beraten, auch der Germanengott Wotan ließ sich von den klugen Kolkraben „Hugin“ und „Munin“ über das Treiben der Menschen berichten … Doch seine Bedeutung in den heidnischen Kulturen trug ihm das Misstrauen der Christen ein. Seit dem Mittelalter gilt der Rabe als Totenvogel. Er befreite die Stadt- und Burggräben von den Kadavern geschlachteter Tiere und machte sich über die Leichen der Gehenkten und Gefallenen her. Dieses Denken hat Spuren bis in unsere Zeit hinterlassen. Vergessen schien lange, was im Altertum bekannt war: … die Intelligenz der Rabenvögel. Von allen Vögeln haben sie das größte Gehirn im Verhältnis zu ihrer Körpergröße. Rabenvögel, zu denen außer den Kolkraben und Krähen auch Dohlen, Elstern und Häher gehören, können „lügen“ und abstrakte Zusammenhänge erfassen. Seit 1979 sind die Krähen als – wenngleich heisere – Singvögel offiziell geschützt. Claudia Schülke 20


DRÜBEN HINTERM DORFE STEHT EIN LEIERMANN, UND MIT STARREN FINGERN DREHT ER, WAS ER KANN. BARFUß AUF DEM EISE WANKT ER HIN UND HER, UND SEIN KLEINER TELLER BLEIBT IHM IMMER LEER.

Ich schwanke in mir selber hin und her, soll ich, soll ich nicht? Ich sollte besser nicht. Mein Teller ist immer voll, weil kein andrer ihn leeren mag. Der bleibt voll. Fein! Verhungern kann ich schon mal nicht. Aber keiner mag mich hören, und das wäre mir doch wichtig! Am vollen Teller könnte ich verhungern, weil ich immer noch mit meiner alten Leier kommen muss und keine Zeit zum Essen habe. Die Kunst ist mir wichtiger. Hab keine Zeit, meinen Teller zu leeren, muss meine Leier drehen, obwohl wirklich schon jeder kennt, was ich da leiere. Keinen interessierts, was ich gut verstehen kann. Ich kanns ja selber nicht mehr hören, vielen Dank. Elfriede Jelinek

BIN GEWOHNT DAS IRREGEHEN, ’S FÜHRT JA JEDER WEG ZUM ZIEL

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ES ZIEHT EIN MONDENSCHATTEN ALS MEIN GEFÄHRTE MIT Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe, und ringt die Hände, vor Schmerzensgewalt; Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe, – der Mond zeigt mir meine eig'ne Gestalt ... Heinrich Heine

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Keiner, der den Schmerz des Andern, und Keiner, der die Freude des Andern versteht. Man glaubt immer zu einander zu gehen und man geht nur neben einander. O Qual für den, der dieß erkennt! Franz Schubert

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Termine PREMIERE IN PUTBUS am 16. November 2023 WIEDERAUFNAHME IN STRALSUND am 18. November 2023 WIEDERAUFNAHME IN GREIFSWALD am 03. Dezember 2023

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Trailer

folgt in Kürze

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Außerdem im Programm

LA CAGE AUX FOLLES (Ein Käfig voller Narren)

SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS

LA CENERENTOLA – Aschenputtel

LICHT!: Das neue (interaktive) Spielzeitheft 2023/24

www.theater-vorpommern.de 25


Impressum Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2023/24 Geschäftsführung: André Kretzschmar

Redaktion: Katja Pfeifer Gestaltung: giraffentoast

Literaturnachweise: Bei den Texten auf den Seiten 8-11 sowie 12-13 handelt es sich um Originalbeiträge von Katja Pfeifer für dieses Heft. Die im Heft enthaltenen Zitate entstammen folgenden Werken: Hölderlin, Friedrich: Hälfte des Lebens, 1804; James Taft Hatfield: Wilhelm Müllers unveröffentlichtes Tagebuch und seine ungedruckten Briefe, 1902; Schubert, Franz: Briefe, Tagebuchnotizen, Gedichte. Zürich 1997; Spaun, Josef von: Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert, 1858; Mayrhofer, Johann: Erinnerungen an Franz Schubert, 1829; Härtling, Peter: Schubert. Köln 2000; Nietzsche, Friedrich: Dionysos-Dithyramben, 1889; Kafka, Franz: Zürauer Aphorismen, 1918; Kempner, Werner: Der Traum und seine Bedeutung. Hamburg 1955; Grainger, Lia: Auf der Walz. Auf: readersdigest.de/ at/wissen-tipps/familie-leben/item/auf-der-walz; Herrndorf, Wolfgang: Bilder deiner großen Liebe. Reinbek bei Hamburg 2014; Schülke, Claudia: Die weisen Totenvögel – weshalb Raben faszinieren. Auf: www.welt.de/wissenschaft/tierwelt/article5184313/Die-weisen-Totenvoegel-weshalb-Raben-faszinieren.html; Jelinek Elfride: Winterreise. Reinbek bei Hamburg 2011; Das Zitat der Seite 4/5 entstammt dem Lied „Der Wanderer“ von Franz Schubert nach dem Gedicht „Des Fremdlings Abendlied“ von Georg Philipp Schmidt von Lübeck. Die weiteren Zitate auf den Seiten 8, 13, 14, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22 entstammen der „Winterreise“. Bildnachweise: Die Fotos auf dem Umschlag und der Seite 3 stammen von Peter van Heesen und wurden bei der Hauptprobe der Winterreise am 13. Oktober 2020 aufgenommen. S. 4/5: Handschriftseite aus der „Winterreise“ von Franz Schubert. Alle weiteren Bilder entstammen der gemeinfreien Plattformen pixabay (S. 16, 19, 23) und pxhere (S. 6/7, 13, 14/15, 20).


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