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»Solange es geht, will ich arbeiten«

Ein Interview mit Katharine Sehnert

Ich heiße Katharine Sehnert, bin 1937 geboren und bin Tänzerin, Performerin und Tanzpädagogin, Choreografin und auch Kinetografin.

Was bedeutet das Thema Alter im Augenblick für dich persönlich? Also, ich tue mich etwas schwer mit dem Begriff Alter. Weil er für mich eigentlich ein Oberbegriff ist, wie das Leben, denn das Alter beginnt mit meiner Geburt. Das Alter ist für mich erst einmal nur eine Zeitangabe und sagt überhaupt nichts über die Befindlichkeit in dieser Spanne aus. Allerdings habe ich das Gefühl, dass in unserer Kultur der Begriff Alter heute negativ besetzt ist. Plötzlich wird Alter immer mit Gebrechlichkeit und Siechtum in Verbindung gebracht, mit Verfall. In anderen Kulturen ist es anders, da wird es mit Weisheit und Gelassenheit verbunden. Wenn ich heute mit 85 Jahren als hochbetagt angesprochen werde, denke ich: Ja und? (lacht) Das ist eine Zahl. Oft werde ich von Frauen Ende fünfzig oder von über Sechzigjährigen darauf angesprochen, wie ich mit meinem Alter umgehe und warum ich noch arbeite. Im Alter habe man nun mal seine Zipperlein. Ich habe keine Zipperlein! Das ist so eine Egalisierung für eine Menge von Menschen, die alle scheinbar plötzlich alle Gebrechen haben. Natürlich kann das passieren, aber es ist doch nicht das Kriterium von Alter. Ich habe kein Problem damit. Bei jedem Menschen macht sich das Alter anders bemerkbar: Als Tänzer*innen sind wir gewohnt, auf uns zu hören, auf unseren Kopf und unseren Körper, weil wir damit arbeiten. Alter wird nicht nur individuell immer anders empfunden. Ich finde, dass unsere Gesellschaft durchaus mutiger sein und älteren Menschen noch mehr zutrauen könnte. Ich fühle mich zum Glück nicht so alt, dass ich Hilfe in Anspruch nehmen muss. Ich renne noch genauso durch die Straßen, wie ich das vor zwanzig Jahren getan habe. Ich sehe aber auch, dass viele, die eigentlich noch aktiv sein möchten, dies aufgrund von Verrentung nicht mehr können und in einem bestimmten Alter aufhören müssen. Als Künstler*in muss man das nicht und könnte es auch gar nicht, weil wir in der Regel keine Rentenempfänger*innen sind. Denn wir konnten nie durchgehend in die Rentenkasse einzahlen. Daher sind wir auch gezwungen, noch für den Lebensunterhalt zu arbeiten. Auf der anderen Seite möchte ich auch immer noch meine Erfahrungen weitergeben. Solange es geht, will ich arbeiten.

Wie waren früher deine Wünsche und Hoffnungen in Bezug auf das Altwerden und wie haben sich diese Vorstellungen eingelöst? Die Altersgrenzen haben sich verschoben. In meiner Jugendzeit war ein 14-Jähriger wirklich noch sehr kindlich. Ich habe erst im Alter von 18 Jahren nach der Schule angefangen, Tanz zu studieren. Bis dreißig muss ich berühmt sein, war damals mein Ziel. Als sich dann die Dreißig näherte, hatte ich den größten Zusammenbruch meines Lebens. Ich hatte einen schweren Unfall, und es hieß, ich könne nie wieder tanzen und müsse mir überlegen, was ich jetzt mache. Dann unterrichte ich eben, habe ich gesagt, weil ich das von den klassischen alten Primadonnen mit ihren Taktstöckchen in Paris so kannte. Wenn ich nicht laufen kann – meine rechte Seite war gelähmt – dann sitze ich eben wie diese uralten Primaballerinen auf einem Stuhl. Ein Jahr lang habe ich es gemacht, und es war eine wunderbare Schulung. Weil ich nichts vormachen konnte, musste ich lernen, mich verbal ganz klar auszudrücken. Nach zehn Jahren Therapie konnte ich mich wieder ganz normal bewegen und auch wieder tanzen. Bis dahin habe ich aber immer für eine Gruppe choreografiert. Dann aber entschloss ich mich, nur noch solo zu arbeiten.

Sollte sich in Bezug auf die ältere Generation gesellschaftspolitisch etwas ändern? Tja, das ist politisch. (lacht) Ja, es braucht mehr Akzeptanz. Nicht ›das war’s‹ und die Älteren beiseitestellen, sondern sie mehr integrieren in das Alltagsleben. Und ihnen Achtung entgegenbringen, für das, was sie in ihren vielen Lebensjahren geleistet haben. Viele haben noch den Krieg erlebt, die Nachkriegszeit, ein Leben ohne Sicherheit und sicheres Auskommen.

Wie hat die durch den Alterungsprozess veränderte Körperlichkeit dein künstlerisches Schaffen beeinflusst? Und hat es auch dein Privatleben beeinflusst, sofern du darüber sprechen möchtest? Mein Älterwerden verfolge ich eigentlich gar nicht so. Solange ich mich noch so bewegen kann wie bisher. Im Jahr 2003 habe ich das Studio aufgegeben/aufgeben müssen und war damit meiner Existenzgrundlage erst einmal beraubt. Mit Mitte sechzig musste ich neu schauen, wo wohne ich und wovon lebe ich eigentlich. Das hat mich noch mal total vom Stuhl gehauen. Andererseits war das Studio eine Verpflichtung. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich mich in irgendeiner Weise noch beweisen muss. Diese Fixierung, auch darauf, was andere von mir denken, interessiert mich überhaupt nicht mehr. Ich kann

mich auch einfach nur hinstellen, und trotzdem sagt mein Körper etwas aus. Er hat so viel gespeichert in diesen sechzig Jahren auf der Bühne.

Welche Rolle spielte beim Thema Altwerden dein soziales Umfeld? Mein soziales Umfeld war immer eng verbunden mit dem Tanz. Daher wurden meine Schüler*innen zu meiner Ersatzfamilie. Und auch die weitere Verwandtschaft lichtet sich langsam. Ich vermisse nichts bzw. habe keine Defizite. Die sozialen Kontakte haben sich ziemlich reduziert, aber es reicht mir noch. Der Bäcker kennt mich, der Apotheker kennt mich, alle grüßen mich. (lacht)

Siehst du in der Kunst einen zunehmenden Generationenkonflikt? Ja, ich glaube schon. Ich weiß nicht, ob es unbedingt ein Konflikt ist, aber er hat sich ein bisschen zugespitzt in den letzten Jahren. Der Konflikt besteht für mich darin, dass die Jungen oft meinen, dass sie alles im Moment neu erfinden, was vorher noch nie da war. Sie anerkennen nicht so sehr, dass auch das, was heute neu passiert, auf einer Basis aufbaut und nicht vom Himmel gefallen ist. Ich habe an verschiedenen Hochschulen unterrichtet, besonders zur Bewegungssprache von Mary Wigman. Wenn die Studierenden den Namen Wigman hören, sofern sie ihn überhaupt kennen, dann ist es für sie etwas aus dem vorigen Jahrhundert, eine historische Bewegungssprache – warum soll man die lernen? Natürlich bildet jede Zeit ihre eigenen Bilder und Ansätze von Bewegung. Aber Wigman hat so sehr auf der organischen Bewegungskörpersprache aufgebaut, dass es auch heute durchaus noch relevant ist. Der Körper ist doch immer noch derselbe. Natürlich haben sich andere Trainingsformen gebildet. Aber die Feinheiten oder Differenzierungen in der Bewegungssprache lernen sie heute nicht mehr so sehr.

Sollten Künstler*innen irgendwann von sich aus zurücktreten, um Jüngeren Platz zu machen? Platz machen würde ich nicht sagen, weil es ja keine Hierarchie, kein festes Gefüge ist, in dem einer nicht weiterkann, weil ein anderer dort noch steht. In der Freien Szene sowieso nicht. Ich finde, jede/r Künstler*in hat eine Verantwortung sich selbst gegenüber und muss selbst zu dem Punkt kommen, jetzt reicht es. Ich habe allerdings auch schon erlebt, dass ältere Künstler*innen immer weiter versucht haben, das zu machen, was sie schon in ihrem Programm vor zwanzig Jahren gemacht haben, und das war einfach nur peinlich. Wenn man nicht

mehr zu hundert Prozent hinter dem steht, was man tut, wenn man es nur macht, weil man mal berühmt war und das den anderen zeigen will, dann ist es eigentlich vorbei.

Siehst du in der Förderstruktur einen Bedarf speziell für ältere Künstler*innen? Für mich geht es darum, was man macht – egal ob jung oder alt.

Deine Kariere erstreckt sich von der Nachkriegszeit bis heute. Wie war der Umgang der Generationen innerhalb der Künstler*innenschaft untereinander damals und heute? In den fünfziger und sechziger Jahren gab es zwei tänzerische Lager, nämlich das klassische und das moderne. Die waren sich spinnefeind, (lacht) weil jeder von dem anderen sagte, dass er eigentlich keinen Tanz macht. Da gab es keine Berührungspunkte unter den Tänzer*innen, aber es schweißte uns im Modernen Tanz natürlich sehr zusammen. Die siebziger Jahre waren für mich geprägt durch meine Tätigkeit an der Folkwang-Schule. An der Hochschule gab es viele Berührungspunkte zu den anderen Abteilungen und man hatte auch mit den anderen Sparten zu tun. In Frankfurt in den achtziger Jahren gab es eine große Tanzgemeinschaft. Wir gingen immer zu den Aufführungen der anderen, sprachen darüber und wussten Bescheid über alles, was so abging. Es hat sich erst danach auseinanderentwickelt. Das hatte vielleicht damit zu tun, dass damals ein Konkurrenzkampf um Fördermittel entstand. Der eine wurde gefördert, die andere nicht. Irgendwann hat man nicht mehr miteinander geredet, weil man nicht verraten wollte, wie man es hinbekommen hat, an Mittel zu kommen, und von wem das Geld kam.

Du bist sehr gefragt bezüglich der Arbeit von Mary Wigman, da sie auch deine Lehrerin war. Als was siehst du dich in diesem Kontext? Vertrittst du zum Teil ihr Erbe? Ja, ich will ihr Erbe lebendig halten. Meine eigene Arbeit war davon getrennt, denn ich habe ja nicht wie Wigman getanzt, sondern ihr Gedankengut oder ihren Ansatz, wie man an Bewegung herangehen kann, vermittelt. Sie hat ja nicht die Bewegung als solche vermittelt, das musste man selbst erarbeiten. Bei Wigman ist man rausgegangen und hatte erst einmal das Gefühl, man hat gar nichts gelernt. Man hatte kein Material in der Hand wie bei Martha Graham. Bei ihr hat man sein Exercise gelernt, und man konnte in einen anderen Raum gehen und dieses Exercise ging mit einem mit: Man konnte es unter-

richten. Wir haben es Wigman auch zum Vorwurf gemacht, dass sie uns nichts an die Hand gibt, mit dem wir in die Welt gehen können, um ihren Ansatz zu verbreiten. (lacht) Daher rührt ein wenig ihre Unbekanntheit. Bei mir hat es genau dreißig Jahre gedauert, bis ich erkannt habe: Das Beste in meinem Leben war, dass ich bei ihr gelernt habe. Das war wirklich so ein Knalleffekt. Und plötzlich stand diese ganze Zeit auch wieder ganz klar vor mir, und ich konnte die Unterrichtsstunden nachvollziehen. Ich habe dann versucht, so rein wie möglich eine Wigman-Stunde wiederzugeben.

Welche Rolle spielt der Begriff künstlerisches Erbe für dich ganz allgemein und im Speziellen in Bezug auf deine eigene Arbeit? Meine eigene Arbeit liegt im Archiv, und da liegt sie gut und bleibt sie. Ich habe noch nie ein Stück von mir noch einmal mit anderen einstudiert. Auch Wigman war eigentlich nicht dafür, dass ihre Tänze von anderen aufgeführt werden. Denn sie sagte sinngemäß: ›Was ich heute tanzen will, kann ich nicht mit dem Körper von gestern oder mit meiner Einstellung zu der Bewegung von vor einem Jahr tanzen. Ich habe mich verändert und habe jetzt andere Dinge im Kopf und im Körper.‹ Wigman hat über zehn Jahre nur entwickelt, bevor sie überhaupt aufgetreten ist. Und dann war das ein fertiges Paket sozusagen, das sie bis an ihr Ende beibehalten hat, wenn auch in hunderttausend Variationen und Umstellungen. Mich ärgert ziemlich, dass man sie so abschreibt. Die Expressionisten aus dieser Zeit hängen noch überall rum, und auch Thomas Mann wird noch gelesen. (lacht) Ich will sie einfach noch ein bisschen über die Zeit retten. Das ist mein Anliegen. Dass man sie nicht als Ausdruckstänzerin abstempelt, denn das war sie nicht. Sie hat es immer Freien Tanz genannt. Frei von den Fesseln, die die Gesellschaft dem Tanz aufgezwungen hatte. Sie wollte nicht nur schön sein, harmonisch, lieblich und nett. Sie wollte eben mehr stampfen und sagen: ›Ich bin nicht nett. So, aus‹, und das war dann der Ausdruck. (lacht)

Welche Bedeutung hatte und hat das Archivieren für dein Werk? Während meiner Laufbahn habe ich nicht archiviert. Da habe ich nie was aufgehoben. Mal eine Kritik, wenn ich irgendwie erwähnt wurde, aber sonst nie etwas. Erst seitdem ich in Köln arbeite, fing es irgendwann an, dass von jeder Aufführung ein Video gemacht wurde. Dass die Filme heute schon im Archiv sind, liegt einfach daran, dass ich, nachdem ich das Studio aufgeben musste, nicht wusste, wohin mit meinen ganzen Sachen. Das Deutsche Tanzarchiv Köln / SK Stiftung

Kultur hat meine Sachen als Vorlass genommen. Wenn ich Zeit habe, gehe ich dorthin und sage denen, wer da tanzt, wann und wo, denn später, wenn es mich nicht mehr gibt, weiß das kein Mensch mehr. (lacht)

Hast du eine Alterssicherung, die es dir ermöglicht, wann immer du möchtest, mit dem Arbeiten aufzuhören? Oder musst du solange arbeiten, wie es irgendwie geht, um nicht zu verarmen? Ja, Letzteres. (lacht) Für mein erstes Engagement habe ich 240 DM im Monat bekommen. Wir hatten als Tänzer*innen keine Tarifverträge. Im zweiten Jahr gab es 320, im dritten Jahr 480 DM und dabei blieb es. Ich habe ja immer in irgendwelchen Engagements gearbeitet, in freien Produktionen, die getourt sind. Aber viel konnte ich nie einzahlen. Das Geld reicht haargenau, um alle Fixkosten zu zahlen. Dann habe ich noch kein Brötchen gekauft; so was esse ich schon gar nicht mehr. Dieses Geld muss ich einfach dazuverdienen, selbst wenn es nur 400 Euro im Monat sind.

Wie stellst du dir das Ende deines künstlerischen Schaffens vor? Gibt es überhaupt ein Ende vor deinem Tod? Nein. (lacht)

Gekürzte Fassung des Interviews, geführt von Angie Hiesl + Roland Kaiser am 15. Januar 2021 in Köln im Rahmen der Recherche zum Thema Kunst und Alter.

Alter und Geschlecht

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