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»Ein Gnadenbrot fände ich bitter«

Ein Interview mit Frank Heuel

Mein Name ist Frank Heuel. Ich bin 1960 geboren. Ich bin künstlerischer Leiter des fringe ensemble. Das fringe ensemble ist ein freies Theaterensemble, das es schon seit 1999 gibt. Das Besondere bei uns ist, dass wir mit dem Theater im Ballsaal einen eigenen Theaterraum bespielen können als Produktionsort und Aufführungsraum. Ich bin gelernter Agrarwissenschaftler. Dann habe ich umgesattelt; nun bin ich gelernter Schauspieler und ungelernter Regisseur.

Was bedeutet das Thema Alter im Augenblick für dich persönlich? Ganz persönlich bedeutet es, dass ich jetzt in einer Woche sechzig Jahre alt werde und zum ersten Mal das Gefühl habe, dass diese Zahl eine Bedeutung hat. Das habe ich vorher nie so empfunden. Sechzig zu werden ist ein spezielles Ereignis für mich als Künstler. Gar nicht biologisch gesehen, ich fühle mich gesund. Aber als Künstler stelle ich mir schon Fragen, wie es jetzt weitergeht. Was möchte ich noch erzählen, wie möchte ich es erzählen? Wie arbeite ich aktuell? Wird das meiner Situation, meiner Lebenserfahrung, meiner Arbeitserfahrung gerecht?

Wie erlebst du das Älterwerden als Mann in unserer Gesellschaft? Das habe ich mich so speziell noch nicht gefragt. Ich habe drei Jungs im Alter von 21 bis 27 Jahren. Zu ihnen habe ich ein gutes Verhältnis. Gerade machen wir einen Umzug für einen der Söhne. Und ich merke, dass es sich gedreht hat. Dass er mittlerweile die schweren Sachen trägt. Das war bis vor Kurzem genau andersherum. Und da habe ich schon mal gedacht: Aha, schau an, da passiert gerade eine Ablöse oder ein Generationswechsel. Das hat schon etwas mit Mannsein zu tun. Ich bemerke, dass die Kraft ein wenig schwindet. Das merke ich auch in anderen Bereichen. Ich mache sehr gerne Sport, ich fahre sportlich Fahrrad. Und auch dabei spüre ich, dass einige Berge mir jetzt mehr abverlangen als noch vor ein, zwei Jahren. Das mag Frauen genauso gehen, aber ich beziehe das natürlich auf mich als Mann und meine Leistungsfähigkeit. Es geht auch um Attraktivität. Ich glaube nicht, dass sie unbedingt schwindet, aber sie verändert sich. Wie wirke ich als Mann auf andere? Nicht nur auf Frauen oder auf erotischer Ebene, sondern allgemein. Inzwischen sind da andere Sachen gefragt. Das registriere ich erst einmal. Gar nicht wertend, in dem Sinne, dass ich jetzt keine Chance mehr auf dem Markt habe, aber man achtet jetzt eher auf anderes.

Wie stellst du dir dein Altsein vor? Gibt es möglicherweise eine Diskrepanz zu der erwarteten Zukunfts-Realität? Für mich ist seit Längerem das Ankommen ein großes Thema. Im Beruf zeigt sich im Rückblick ein Weg, und es sind Stationen erkennbar. Es geht nicht darum, im Zielbahnhof anzukommen und dann kommt nichts mehr, sondern eher darum, dass ein Thema durch ist und du angekommen bist. Und dann tut sich das Nächste auf. Man könnte es auch Zwiebelschalen nennen, Schicht für Schicht kommt man zum Kern. Ich fände es schon schön, wenn es für die nächsten Zwiebelschalen nicht wieder zehn Jahre brauchen würde. Mein Vater ist letztes Jahr gestorben. Über zwölf Tage haben meine vier Geschwister und ich im Krankenhaus das Sterben begleitet. Und da sind mir so viele Fragen durch den Kopf gegangen. Ist er angekommen? Wo bin ich jetzt gerade? Wann hätte ich das Gefühl, ich bin angekommen? Solche Fragen drängen sich jetzt stärker ins Bewusstsein.

Sollte sich in Bezug auf die ältere Generation gesellschaftspolitisch etwas ändern? Speziell bei uns in Deutschland finde ich schon, dass sich beim Thema des Generationenkonflikts – Stichwort Rente, Generationengerechtigkeit und so weiter – etwas ändern muss … Meine Mutter ist 88 und sagt immer: »Ich bin nicht alt, ich bin älter. Ich werde jedes Jahr älter, aber alt bin ich noch nicht.« Ich finde den Begriff der älteren Gesellschaft, nicht der alten Gesellschaft eigentlich schön. Wir sollten die Forderungen oder auch die Vorwürfe der jüngeren Generation sehr ernst nehmen. Fridays for Future – wie hinterlassen wir den jüngeren Generationen diese Erde? Meiner Meinung nach trägt die ältere Generation in der Gesellschaft weiterhin Verantwortung. Wir Älteren müssen die Verantwortung annehmen, die wir für die jetzige Situation haben, und mitagieren, in welcher Form auch immer. Wir müssen vielleicht nicht mehr wie die Jungen auf die Straße, das haben wir ja alles hinter uns. Wir sollten aber solidarisch und im Sinne einer Generationengerechtigkeit aktiv handeln.

Wie beeinflusst speziell die durch den Alterungsprozess veränderte Körperlichkeit dein künstlerisches Schaffen und dein Privatleben, sofern du darüber sprechen möchtest? Wie gesagt, die Leistungskurve flacht ab. Ich habe mich sehr darüber definiert, war immer sehr, sehr sportlich. Es ist für mich ein wichtiger Aspekt von Wohlbefinden, Gesundheit. Für die sitzende Beschäftigung

als Regisseur einen Ausgleich zu finden, hat für mich eine große Bedeutung. Dann geht es mir meistens auch besser. Wenn ich jetzt den Berg nicht mehr in einer Stunde schaffe, brauche ich eben anderthalb Stunden dafür. Und der Kopf wird wahrscheinlich genauso leer sein und die Puste genauso weg. Im Beruflichen spüre ich, dass sich das, was ich gerne auf der Bühne sehe oder auch mit den Schauspieler*innen erarbeiten möchte, verändert hat. Mir geht es da um einen anderen Ausdruck. Früher war es doch sehr physisch geprägt. Und jetzt hat sich etwas verändert, weil es sich in mir auch verändert. So ein Hopsidusi oder eine reine körperliche Ekstase auf der Bühne, die mich vielleicht vorher noch fasziniert haben, finde ich jetzt nicht mehr interessant. Und das merkt man natürlich auch an den Schauspieler*innen, wenn sie das anbieten wollen. Dadurch verändert sich der Prozess der Arbeit und das Ergebnis. Wir machen Ensemblearbeit über einen langen Zeitraum. Und jetzt versuche ich auch wieder, jüngere Leute mit dazuzunehmen. Dann thematisiert sich das in den Angeboten, die sie machen. Und die Älteren sind natürlich ganz zufrieden, wenn ich nicht mehr so viel Körperliches verlange. So einen Ausgleich zu schaffen, das wird dann schon thematisiert.

Wie wirkt sich das Älterwerden mental aus? Nach über fünfzehn Jahren habe ich mal wieder gespielt, ein Solo. Ich hatte große Bedenken, ob ich mir den Text merken kann. Früher ging das unheimlich schnell. Anfangs hatte ich echte Schwierigkeiten. Ich habe gedacht, das ist unmöglich für mich. Aber nach einer Woche war ich wieder auf dem Niveau, das ich früher einmal hatte. Es war einfach ein bisschen verschüttet. In tiefe Konzentration, die ich in der Arbeit immer mal wieder brauche, komme ich etwas schwerer rein. Und wenn ich dann drin bin, brauche ich gewisse Rahmenbedingungen, um drin bleiben zu können. Früher konnte ich mich im größten Tohuwabohu voll konzentrieren und meine Ruhe haben.

Du arbeitest auch viel im Ausland – hast du dort einen anderen kulturellen Umgang mit dem Thema Alter kennengelernt? Ganz spontan fallen mir dazu meine Erfahrungen in Istanbul und auch Afrika ein. Die Menschen dort können sich nicht vorstellen, dass jemand, der so arbeitet wie ich, bald sechzig Jahre alt ist. In beiden Ländern ist man mit sechzig raus aus dem Geschäft. Vielleicht agiert man noch als Ratgeber, als weiser Mensch im Hintergrund, aber so aktiv in der Form, wie ich es tue, war es für beide Kulturen völlig überraschend. Das wurde auch thematisiert. Ich bin im Ausland immer

grundsätzlich mit deutlich jüngeren Menschen zusammen. Ich verspüre da kein Gefälle, bin voll integriert und vergesse dort auch eher mein Alter als hier. Mein Umfeld hier weist mich deutlicher auf mein Alter hin als dort.

Wenn du zum Beispiel an Afrika denkst, wie geht man dort mit Älteren und alten Menschen um? Hast du das mitkriegen oder spüren können? Schon sehr respektvoll. Wenn jemand viel für die Gemeinschaft tut, bekommt man, egal wie alt man ist, den Namen Mama oder Papa. Ich hieß dort immer Papa. Aber nicht, weil ich alt bin, sondern durch meine Funktion als Regisseur und natürlich auch als jemand, der das Drumherum mitorganisiert hat, als Co-Produktionspartner auch Geld mit eingebracht hat. Aber auch jüngere wie meine Kollegin Leila, die sich um das Soziale gekümmert hat, war mit Ende dreißig schnell Mama.

Siehst du in der Kunst einen zunehmenden Generationenkonflikt? Wir konkurrieren um die berühmten Fleischtöpfe der Förderung. Das ist klar. Es ist zwar in den letzten Jahren ein bisschen mehr Fleisch in den Topf gekommen, aber die, die davon essen wollen, sind auch deutlich mehr geworden. Deshalb gibt es zunächst einmal eine Konkurrenzsituation. Das muss ja nicht unbedingt zu einem Interessenkonflikt führen. Ich sehe aber von meiner Position aus gesehen darin schon Konfliktpotenzial, und zwar in der Hinsicht, dass gerade im Freien Theater – das ist bei einem Stadttheater anders –, in der freien Darstellenden Kunst eine Kontinuität entstanden ist. Es gibt Gründermütter und Gründerväter, die etwas aufgebaut haben. Dann kam die zweite Generation dazu, die das übernommen und weiterentwickelt hat. Und jetzt kommen die Jungen, und ihnen fehlt das Bewusstsein für diese Geschichte. Das finde ich schwierig und komme damit in Konflikt. Also ich erwarte keine Dankbarkeit, aber daraus entsteht ein gewisses Unverständnis für Formen, Inhalte, Ästhetiken. Was bedeutet der Schauspieler, die Schauspielerin eigentlich heute noch im freien Bereich, welche Funktion sehen wir? Wie sollten sie ausgebildet sein? Mit solchen Fragen stoße ich auf Ablehnung, hier fehlt die Auseinandersetzung. Das ist im Stadttheater völlig anders. Da gibt es eine lange Tradition. Das ist natürlich auch viel tradiert und vieles auch festgefahren. Aber trotzdem gibt es dort so eine innere Solidarität. Und das empfinde ich zum Großteil in der Freien Szene nicht mehr so. Das ist konfliktträchtig.

Woher, denkst du, kommt dieser Unterschied zwischen Freier Szene und Stadttheater? Das Stadttheater ist ein System, das es bei uns seit Jahrhunderten gibt, geschützt durch verschiedene Lobbyverbände. Die Form ist quasi fließend weiterentwickelt worden. Da sind keine Sprünge drin. Es bedient ein bürgerliches Kulturbedürfnis, einen Kanon. Durch die Ausbildung in Gießen, Hildesheim, Bochum gibt es inzwischen eine Oppositionshaltung gegenüber der älteren Generation von freien Theatermacher*innen, die ich nicht nachvollziehen kann. Es wäre schon vonnöten, dass man sich darüber auseinandersetzt. Mir fehlt da etwas. Zum Beispiel beim Festival des Freien Theaters in NRW, vormals Theaterzwang, jetzt Favoriten, fehlt es an so einer Thematik und der Auswahl. Es bildet nicht ab, was an freier Theaterarbeit geleistet wird. Das Spektrum ist sehr einseitig, und das ist nicht zielführend, auch nicht für die gesamte Bewegung. Natürlich gibt es da vieles, was man weiterentwickeln muss, was man hinter sich lassen muss. Aber vieles könnte man auch weitergeben und es wäre von Nutzen, wenn das Wissen, das Know-how, die Sichtweise auf Form und Inhalt eine Basis bilden würden.

Was sollte ganz konkret thematisiert werden? Ein Bewusstsein für das Freie Theater, seine Entstehungsgeschichte und die gültigen Parameter, das finde ich schon mal ganz gut gegeneinanderzustellen. Warum wähle ich diesen Inhalt und warum wähle ich dafür diese Form? Also wie stehen Ästhetik und Form, Inhalt und Ästhetik in Beziehung zueinander? Warum wird das plötzlich abgelehnt? Der Schauspieler, das Spiel auf der Bühne oder im Raum. Warum sieht man jetzt plötzlich nur noch wahnsinnig viel Laien oder Expert*innen des Alltags auf der Bühne? Und warum halten andere an Formen fest und haben diese weiterentwickelt? Ist das starr geworden oder wo stehen sie jetzt? Wo haben sie angefangen? In der Auseinandersetzung über diese Fragen käme es zu einem (Selbst)Verständnis – als Freie Szene, als eine Community, die eigentlich verwandt ist. Wir machen bei uns im Theater im Ballsaal Residenzprogramme, das Theaternetzwerk west off oder Produktionen von flausen+festival gastieren hier. Wir sind zum Teil so weit voneinander entfernt. Wenn die Gruppen hier sind, laden wir sie zu unseren Vorstellungen ein. Sie macht oft ratlos, was sie bei uns sehen. Ich bin manchmal auch ratlos, wenn ich ihre Produktionen sehe. Diese Ratlosigkeit könnte man ja, wenn man Interesse hat, auch auflösen, indem man Fragen stellt und sich zusammensetzt. Das fände ich fruchtbar.

Warum macht ihr das nicht? Wir versuchen das schon. Wir laden sie zu unseren Vorstellungen ein und versuchen, anschließend ins Gespräch zu kommen. Daran besteht aber meistens kein Interesse. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht verstehen sie gar nicht, was da gerade passiert auf der Bühne. Ein Festival wie Favoriten in NRW wäre das richtige Instrumentarium zur Erörterung solcher Fragen. Ich habe mir Abschlussarbeiten im Fach Physical Theatre an der Folkwang Hochschule angeschaut und habe eine junge Darstellerin in einer Produktion eingesetzt, um darüber in Austausch zu kommen und es miteinander auszuwerten.

Und zu was für einem Ergebnis bist du gekommen? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich auf der einen Seite diesen jungen Leuten viel mitgeben kann. Das ist mir auch bestätigt worden. Ich fand die Fragestellungen, die von der Darstellerin gekommen sind, auch sehr interessant. Zu erfahren, was sie vermisst oder bewundert hat, zum Beispiel meinen Führungsstil, wie ich Regie mache und wie das Ensemble als Gruppe im Prozess zusammenarbeitet. Das hat sie an der Schule ganz anders kennengelernt. Wenn sie in der Hochschule Projekte gemacht haben, haben sie immer sehr stark im Kollektiv gearbeitet. Und hier arbeite ich, projektabhängig, eher mit Einzelnen. Das fand sie verwunderlich, aber auch wieder interessant als Erfahrung – sich einem Regisseur anzuvertrauen. Dann aber hätte sie sich wiederum mehr Eigenverantwortung gewünscht. Das habe ich jetzt bei einem Folgeprojekt berücksichtigt, bei dem ich die schon länger zusammenarbeitenden Schauspieler*innen gebeten habe, fünf Tage allein zu arbeiten, was erst einmal zu Verwunderung geführt hat, aber dann durchaus produktiv war.

Sollten Künstler*innen irgendwann von sich aus zurücktreten, um jüngeren Platz zu machen? Welche Grundvoraussetzungen wären dafür notwendig? Ich finde, nein. Man sollte nicht von sich aus sagen, weil ich einen Platz besetze, mache ich jetzt Platz. Wenn ich nichts mehr zu sagen habe und wenn ich müde bin, dann sollte ich aufhören. Aber wenn ich noch das Gefühl habe, ich habe etwas zu sagen, dann sollte ich das auch tun. Es ist doch interessant, wenn wir als Siebzigjährige aufgrund unserer Lebens- und Arbeitserfahrung dieser Gesellschaft etwas zu sagen haben. Also diese Forderung würde ich glattweg immer ablehnen. Aus Prinzip.

Siehst du in der Kunstförderung einen Bedarf speziell für ältere Künstler*innen? Auch das sehe ich nicht. Bei Förderentscheidungen ist man in Konkurrenz mit anderen, auch mit Jüngeren. Anhand des Projekts soll entschieden werden, ob man eine Förderung bekommt. Ein Gnadenbrot fände ich bitter. Aus diesem Grund möchte ich nicht gefördert werden, sondern weil meine Arbeit spannend ist. Natürlich guckt eine Jury wahrscheinlich anders drauf, wenn sie sieht, da hat jemand vierzig Jahre Erfahrung. Wenn der eine bestimmte Fragestellung angeht, erwartet man natürlich etwas anderes, als wenn ein 25-Jähriger sich mit einem Stoff beschäftigt.

Du kannst bereits auf ein sehr umfangreiches künstlerisches Werk zurückblicken. Was bedeutet dies für dich? Gibt es spezielle Ziele, die du noch künstlerisch erreichen willst? Das bedeutet mir tatsächlich viel, darüber definiert sich natürlich ein Künstler. Für mich ist es im Moment wichtig zu verstehen, warum ich da bin, wo ich gerade stehe. Da gehört der Blick zurück natürlich dazu. Für mich hat mein Werk eine innere Logik. Auf die Zukunft bezogen habe ich den Traum, dass ich Arbeiten realisieren möchte, in denen ich mich noch einmal mit dieser einen Frage beschäftige und für mich die Bedingungen herstelle, diese Frage auch zu untersuchen. Wenn man ein Ensemble leitet, wie ich es mache, dann hat man auch viele Bedürfnisse des Ensembles zu befriedigen. Ich möchte punktuell gern Arbeit abgeben. Einer der Schauspieler macht auch gern Regie und macht eine Arbeit, über die vielleicht auch Ansprüche, Bedürfnisse, Wünsche des Ensembles mit abgedeckt werden können, sodass ich ein bisschen freier bin und mich stärker meinen eigenen Fragen zuwenden kann. Das ist schon ein Wendepunkt für mich. Ich würde gerne aus dem Bereich Ensembleleitung, Verantwortung für die Einzelnen stärker zurücktreten, vielleicht beratend tätig sein. Und dann ein, zwei Arbeiten im Jahr unter eigenen Bedingungen machen, vielleicht nur für ein Projekt mit einer jungen Schauspielerin arbeiten oder mit einem bestimmten Musiker, ohne immer das Ensemble im Blick haben zu müssen.

Kannst du uns etwas über dein Verständnis von künstlerischer Handschrift sagen? Das finde ich einen ganz wesentlichen Begriff. Es ist wirklich interessant, wenn jemand für sich einen Ausdruck gefunden hat. Das kann man ja sowohl für den einzelnen Künstler auf der Bühne, aber eben

auch für ein Ensemble oder für eine Regie, für eine künstlerische Leitung sagen. Und jemand über einen Zeitraum zu verfolgen, finde ich total spannend. Es gibt eine innere Logik für mich, warum ich jetzt da bin, wo ich bin, und warum ich das alles so gemacht habe. Letztendlich lässt sich eine Kontinuität in der Arbeit erkennen. Die Handschrift erzählt sich natürlich auch darüber, dass andere sie erkennen, dass es Weggefährt*innen gibt, dass es Leute gibt, die sich immer wieder unsere Produktionen anschauen und man darüber in Kontakt kommt. Es gibt Künstler*innen, die haben einmal etwas Erfolgreiches gefunden und bleiben dann dabei stehen; sie halten fest an ihrer Handschrift und entwickeln sie nicht weiter. Andere wagen immer wieder etwas Neues. Dann fallen sie mal auf die Schnauze, wie wir vor Kurzem. Aber das gehört eben auch dazu. Das geht aber nur, wenn die Handschrift erkennbar ist. Wenn man sich Bob Dylan anschaut, der ist sich immer treu geblieben. Trotzdem hat er immer wieder was Neues gemacht. Dass ich mir treu geblieben bin und doch immer wieder etwas Neues auf meinem Weg entdeckt habe, das finde ich gut und wichtig.

Was wird aus dem Label fringe ensemble nach deiner aktiven Zeit? Es ist schon ein Wunsch von mir, dass das fringe ensemble weiterexistieren kann. Dass es Menschen gibt, die auch in die künstlerische Verantwortung hineinkommen. Das kann im Bereich Regie, aber auch Bühne, Video oder digitale Techniken sein. Ich würde da sehr gerne Freiräume und Mittel zur Verfügung stellen, damit jemand seine eigenen Erfahrungen machen kann, auch ohne mich im Hintergrund.

Spielt der Begriff künstlerisches Erbe für dich eine Rolle? Ein Erbe kann ja auch eine Last sein. Der Begriff ist für mich eher negativ konnotiert. Schön fände ich, wenn wesentliche Dinge, die aber nichts mit meiner künstlerischen Handschrift zu tun haben, Bestand hätten – Werte wie die Loyalität untereinander, das Achten auf die Bedürfnisse der Ensemblemitglieder, das Arbeiten in Kontinuität anstelle von Projekt-Hopping in wechselnden Besetzungen. In dieser Hinsicht bin ich ein treuer Mensch. Treue im freien Bereich hat für mich einen Wert. Und wenn das als Erbe, auch wenn es kein künstlerisches Erbe ist, als Geist des Ensembles weitergetragen würde, wäre ich sehr froh darüber.

Welche Bedeutung hat das Archivieren für dein Werk? Ich habe das gemacht, aber ich bin gerade dabei, das Archiv abzusto-

ßen. Es ist so wahnsinnig viel. Ich werde es nicht wegschmeißen, aber das Zeug ist aus dem Regal raus, in beschriftete Kisten verpackt. Einige aus meinem Kernteam, die erst später dazugekommen sind, haben gar keinen Bezug dazu, das interessiert sie gar nicht. Früher habe ich gedacht, Archivieren sei wichtig. Aber es ist höchstens für Theaterwissenschaftler*innen interessant, punktuell an solche Archive dranzukommen. Doch für uns selbst ist es nicht so wichtig. Aber es könnte, wenn die Gründergeneration nicht mehr da ist und die, die es übernommen haben, nicht mehr aktiv sind, noch einmal von Interesse sein. Vielleicht stellen sich dann Fragen, die sich über so ein Archiv bearbeiten lassen. Das Archivieren im digitalen Bereich ist jetzt viel einfacher. Seitdem das möglich ist, machen wir wirklich von jeder Arbeit einen professionellen Videomitschnitt und einen professionellen Trailer.

Hast du eine Alterssicherung, die es dir ermöglicht, wann immer du möchtest, mit dem Arbeiten aufzuhören? Oder musst du so lange arbeiten, wie es irgendwie geht, um nicht zu verarmen? Wir haben eine Altersabsicherung. Wir haben irgendwann entschieden, wir kaufen ein Haus, in dem wir selbst wohnen und eine Wohnung vermieten. Manchmal war es knapp. Wir alle wissen, wie es bezüglich der Rente und KSK ausschaut. Aber ich glaube, ich kann mit 67 Jahren sagen, ich muss das jetzt nicht mehr zwingend machen, um Geld zu verdienen. Das ist natürlich ein Unterschied zu einigen anderen.

Wie stellst du dir das Ende deines künstlerischen Schaffens vor? Gibt es überhaupt ein Ende vor deinem Tod? Ich glaube, das künstlerische Schaffen wird sich verlagern. Wenn ich noch länger bzw. lange lebe und mich einem Theateralltag, wie ich ihn jetzt habe, nicht mehr aussetzen möchte oder vielleicht auch nicht mehr kann, werde ich dennoch weiterhin künstlerisch tätig sein. Dann werde ich in der Natur etwas inszenieren, vielleicht nur noch mit Gegenständen. Aber ich sehe nicht, dass ich mit siebzig aufhöre und dann nur noch reise oder ich weiß nicht was mache.

Gekürzte Fassung des Interviews geführt von Angie Hiesl + Roland Kaiser am 04. November 2020 im Rahmen der Recherche zum Thema Kunst und Alter.

Um den Alterungs prozess irgendwie

aufzuhalten, hat der Mensch die Retro spektive erfunden

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