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Neue Schönheit braucht das Land
Dorothea Marcus
Über alternde Frauen(bilder) auf und vor deutschen Bühnen
Ich bin Theaterkritikerin, 52 Jahre alt, und darf an dieser Stelle einen Text über das Altern auf der Bühne schreiben, aus der Sicht von Theaterkritikerinnen. Das Thema hat für mich zwei Aspekte: Der eine ist die Frage, was ich für Bilder älterer Frauen auf der Bühne sehe, in meinem Beruf, der mich ein- bis dreimal in der Woche ins Theater führt. Der andere Aspekt ist: Wie altern eigentlich Kritikerinnen in ihrem Beruf? Immerhin sind wir auch ein Bestandteil der Medienlandschaft, der journalistischen Öffentlichkeit. In ihrem niederschmetternden Buch Mutprobe hat die Journalistin und ehemalige tazChefredakteurin Bascha Mika im Jahr 2014 beschrieben, wie Frauen ab fünfzig in den Medien systematisch unsichtbar gemacht werden, gebeten werden, sich »jünger« zu operieren, zu gehen, gekündigt werden – oder freiwillig hinter den Kulissen verschwinden.1 Ist das acht Jahre später, in den Zeiten von stolzen über fünfzigjährigen Großmoderatorinnen wie Maybritt Illner, Sandra Maischberger, Marietta Slomka und Anne Will immer noch so? Und gilt das auch für Journalistinnen, die nicht ganz so bekannt sind? Doch zunächst zum ersten Punkt. Wenn ich auf der Bühne nämlich noch eine weitere junge Frau mit blonder Langhaarperücke, Glitzerjacke, Hot Pants und Plateaupumps sehe, das Abziehbild einer Sexarbeiterin, muss ich schreien. So zuletzt geschehen bei Großregisseur Frank Castorf, über siebzig Jahre alt, in seiner Molière-Inszenierung Anfang 2022 in Köln. Diesmal steckt die Schauspielerin Lola Klamroth im Prostituierten-Outfit; sie ist schätzungsweise um die dreißig Jahre alt. Zugegeben: Sie bekommt das total lässig hin, wirkt souverän und an keiner Stelle unterdrückt oder fremdbestimmt. Freiwillig rast sie in die Grenzüberschreitung, zu der Castorf alle Darsteller*innen zwingt. Der ganze Kölner Molière ist eine Reflexion über (männliche) Macht und Machtverschiebung, über Tod und seine Überwindung durch Kunst. Um gerecht zu sein: Die lächerlichste Figur des Abends ist der dickliche, greinende Molière selbst, gespielt von Bruno Cathomas, der diese Figur in einer Mischung aus Castorf-Porträt und barockem Karikatur-Großautoren mit kindlichem Ernst und doch ironisch distanziert unterwandert. So weit, so selbst-bespiegelnd
scharfsichtig und gewohnt grandios von Castorf inszeniert – jener prägende Regisseur, durch den ich eigentlich selbst erst zur Kritikerin wurde und meine Liebe zum Theater entdeckte. Es ist ein wie immer enervierend langer Abend voller Tiefe, Groteske und Überraschung darüber, wie sich der Machtmensch Molière gegenüber seiner eigenen Theatertruppe, aber auch gegenüber der Macht des Sonnenkönigs positionierte – und am Ende jämmerlich am Sauerstoffgerät hängt, bevor er mit 51 Jahren den Bühnentod stirbt. Keine Frage: Die Frauen, auch die älteren, sind auf dieser Bühne schöner, stärker, souveräner dargestellt als die immer etwas jämmerlich wirkenden Männer. Und dennoch ärgert mich ihre Darstellung zutiefst, und ich frage mich: Warum scheinen Frauen im Universum dieses komplex denkenden Theatermeisters nie aus sich heraus zu existieren, sondern tragen im Outfit den auf sie fallenden Männerblick mit? Werden stets vor allem als Sexobjekte »schön gemacht«? Selbst wenn Castorf mit ihnen kraftvolle Bilder erzeugt, ihnen eine Aura von Stärke und Geheimnis verleiht, ärgert mich das seit Jahren zutiefst. Mit Anfang dreißig hat es mir noch nichts ausgemacht, dass Frauen auf Castorfs Bühne nahezu ausschließlich sexualisiert werden. Es nervt mich jetzt, wo ich selbst über fünfzig Jahre alt und eine andere Frau mit anderen Prioritäten geworden bin. Ich habe Lust auf Identifikationsfiguren auf der Bühne, aber die durchtrainierte, nackte Tänzerin, die Prostituierte, die barbusige Schönheit, die vor mir masturbiert, gehören einfach nicht dazu. Frauen können auf Castorfs Bühne niemals einfach nur Menschen sein, sind stets ausschließlich auf ihr Geschlecht festgelegt, elegant oder erotisch, entsprechen Achtziger-Jahre-Klischees. Und nein, Castorf stellt damit nicht dar, dass Frauen dem männlichen Blick ausgeliefert sind – er bedient den männlichen Blick, der vermutlich zuallererst sein eigener ist. Das gilt auch, wenn er die Schauspielerin Valery Tscheplanowa in der Schlussszene des Faust (Castorfs legendärer zehnstündiger Abschiedsinszenierung an der Berliner Volksbühne) als nackten Engel ausstattet, der die tumben alten Männer Faust und Mephisto überstrahlt: überirdisch schön, mit freier Brust in Varietékostüm, in sich ruhend. Auch wenn sie die Männer in einen Sarg sperrt, sie herausfordert – bleibt sie fleischgewordene Männerfantasie. Und das passiert durchaus auch mit Frauen, die älter sind als fünfzig Jahre: So zeigt die grandiose Jeanne Balibar im Molière ihren durchtrainierten Tänzerinnenkörper in roten Dessous, durchsichtigen Brautkleidern oder auch ganz ohne Kleidung. Sie tummelt sich auf der Großbildleinwand mit vier Männern im Schaumbad, masturbiert andeutungsweise. Das ist alles stimmig, auch Molières Dramen fielen ja gern mal durch
Geschmacklosigkeiten auf. Aber warum werden Männer nicht so gezeigt? Valery Tscheplanowa hat in Interviews Castorf als Regisseur stets bejubelt. Sein Frauenbild störe sie gar nicht, im Gegenteil. Allenfalls sexistisch findet sie, wenn ihr die »Sexyness abgeschnitten« werde.2 Das Argument empfinde ich in etwa so stimmig wie eine Verona Feldbusch, die sich im öffentlichen Fernsehgespräch mit Alice Schwarzer über Feminismus den gewaltigen Ausschnitt zurechtrückt und dies feministisch findet.3 Natürlich geht es nicht darum, Frauen Kleidungsregeln vorzuschreiben. Jede kann sich so weiblich, sexy, aufreizend, provokant und leichtbekleidet in Szene setzen, wie sie will. Sie sollte nur wissen: Es geht als Frau durchaus auch darum, andere Frauenbilder in die Welt zu senden und zu setzen – die nichts mit einer Verkörperlichung ihres Daseins zu tun haben, der Tatsache, dass sie im männlichen Blick immer nur an Sexualität gekettete Körper sind. Und ja, dies hat nicht nur mit Feminismus, sondern auch mit »Ageism«, also: Altersdiskriminierung zu tun. Denn sobald die ständige Verwertung, Fetischisierung und Sexualisierung von Frauenkörpern aufgrund von körperlichen Alterserscheinungen nicht mehr so reibungslos funktioniert, treten Frauen eben oft gar nicht mehr auf, werden unsichtbar, bleiben ungehört, werden allenfalls als Hexen, Monster, missgünstige Alte diffamiert – während alte Männer häufig als gütig, weise, würdevoll, in voller Kraft und Verantwortung dargestellt werden. So ähnlich hat es Susan Sontag auch schon in ihrem bedeutenden Essay »The double standard of aging« von 1972 ausgeführt.4 Sontag nennt die soziale Konvention der Dämonisierung und Abwertung alternder Frauen ein »Instrument der Unterdrückung«, gegen das sich Frauen auflehnen müssen. Wir müssen neue Frauenbilder kreieren: uns als autonome Subjekte sehen, die handeln, verändern, gestalten. Die klug, glücklich, souverän sind – und nicht, wie z. B. im Stück Linda von Penelope Skinner am Schauspielhaus Düsseldorf (2019) – letztlich doch als unempathisches Opfer des Alterns erscheinen. Im Idealfall sind sie noch dazu ganz normal – also nicht sexuell markiert – gekleidet. Dass weibliche Altersdiskriminierung darüber hinaus auch noch ein Werkzeug des Kapitalismus ist, hat die Feministin Laurie Penny in ihrem Buch Fleischmarkt beschrieben.5 Eine ihrer wichtigsten Schlüsse: Erst wenn wir Frauen ein Bewusstsein für die eigene Unterdrückung (in Bilderwelten) schaffen, können wir den Ausbruch daraus organisieren. Und diese Bilderwelten finden nun einmal auch im Theater statt – bzw. könnten auch im Theater verändert werden. Dazu noch ein schönes Zitat aus Bascha Mikas Buch Mutprobe: »Die
männliche Welt hat es stets als ihr gutes Recht betrachtet, dem weiblichen Körper einen Wert zuzumessen und ihn danach zu beurteilen. Dieser Wert hing immer vom Alter ab. Die Muster, die über Jahrtausende dabei angewandt wurden und die Stereotype, die sich daraus formten, sind fest in unserem kollektiven Gedächtnis verankert.«6 Wie ein Ausbruch daraus auf der Bühne funktionieren kann, hat mir ein Abend von She She Pop gezeigt, der nichts weniger als die Umwertung jener althergebrachten Körperbilder versucht: Hexploitation (2021). Die Performerinnen thematisieren, wie das Altern der Frau schon immer als Krankheit galt, ihr menopausaler Körper als irgendwie ekelhaft. »Wenn ich mir meinen Arbeitsplatz nicht selbst geschaffen hätte, wär’ ich längst nicht mehr hier«, sagt Berit Stumpf auf der Bühne und bringt auf den Punkt, dass es auf (Stadttheater)Bühnen kaum Rollen für ältere Frauen gibt. Eine nach der anderen zieht sich komplett aus. Gnadenlos kritisieren sie gegenseitig ihre Speckröllchen, Falten und Altersflecken: Auch Frauen reduzieren einander gern auf Körperbilder. Dann inszenieren sie sich auf Videoleinwänden als Hollywood-Diven mit riesigen Vulven und erzählen, dass es in der Kinoindustrie unter dem Begriff »Hagsploitation« doch noch eine Verwertungsidee für ehemals glamouröse alte Schauspielerinnen gab: als besonders monströse Hexen. Schon im Jahr 2014 formuliert Bascha Mika: »Schauen wir uns […] die künstlerischen Darstellungen älterer Frauen über die Zeitläufte hinweg an, so ist dieses Bild häufig geprägt von Abscheu, kreativer Bösartigkeit und atemberaubender Niedertracht.«7 Passend dazu brauen She She Pop in einer Hexenküche Menstruationsblut zusammen, beschwören mit Flötentönen ihre Schamlippen, um das Blut wieder fließen zu lassen, unterfüttern den Vorgang immer wieder mit Diskurs und Anekdoten, um zu zeigen, wie systematisch die Diskriminierung der alternden Frau auch historisch war. In großartigen Kunst-Bildern mit dreigeteilten Screens setzen sie dann gefilmte Körperteile verfremdet zusammen, verwandeln sich genau in solche »Hexen« oder groteske »Monster«: Schamlippen werden zu Flügeln, Vaginen zu Bäuchen, faltige Stirnen zu Ballkleidern – zum Schluss fliegen die Wesen durch eine Art Zauberwald und die vier Performerinnen stehen stark und still zu Lana del Reys »Will you still love me when I am no longer young?« Eine politische und dringend nötige Agenda liegt dem grandiosen Abend zugrunde: She She Pop ziehen in Hexploitation gesellschaftliche Schreckensbilder des Alterns heran, um ihnen den Schrecken zu nehmen. Es ist ein Theaterabend, nach dem ich mich tatsächlich glücklich, stark und angstfrei fühlte.
Doch nun zum zweiten Aspekt, der letztlich eng mit Ersterem zusammenhängt: dem Verschwinden von alternden Frauen aus dem öffentlichen Raum. Ich werde mich im Folgenden auf Medienschaffende beziehen – zu denen ich als Theaterkritikerin und Kulturjournalistin ja selbst gehöre. Bascha Mika schreibt in Mutprobe: »Ab einem bestimmten Alter werden Frauen im öffentlichen Raum kaum mehr wahrgenommen. Sie sind verschwunden, unsichtbar, weg, wie verdeckt von einem blinden Fleck.«8 Dies sei eine »soziale Übereinkunft«: »Die Bewertung und Deutung der älter werdenden Frau findet im gesellschaftlichen Kontext statt. […] Der klammheimliche Konsens muss gebrochen werden, der Frauen ab einem bestimmten Alter so geringschätzt, dass sie sich quasi in Luft auflösen.«9 Aber ist es tatsächlich so, dass Frauen aus den Medien verschwinden? Ich selbst muss in meinem Berufsfeld feststellen: nicht unbedingt. Ich bin seit einem Vierteljahrhundert freiberufliche Theaterkritikerin, und für mich stimmt die Annahme, Frauen würden ab einem bestimmten Alter keine Rolle mehr in den Medien spielen, keinesfalls. Die Anfragen an mich, die über das reine Schreiben oder Radiobeiträge machen hinausgehen, häufen sich. Ich moderiere Podiumsdiskussionen, habe diverse Lehraufträge an Universitäten inne, ko-leite zurzeit das kollektive Projekt kritik-gestalten,10 werde in Jurys eingeladen. In die Jury des Berliner Theatertreffens wurde ich von 2016 bis 2019 übrigens auch deshalb berufen, weil in der Vorgänger-Jury keine einzige Frau vertreten war. Zuweilen erscheint es mir, als sei ich mit wachsender Erfahrung und Routine als Theaterkritikerin gefragter als früher – dies mag u. a. auch daran liegen, dass Feuilletons insgesamt aussterben und es daher auch immer weniger Nachwuchs gibt. Auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sind jene Moderatorinnen, deren Karriere-Ende Bascha Mika noch 2014 aus Altersgründen für nicht ganz unwahrscheinlich hält, im Jahr 2022 jenseits der Fünfzig noch gut im Geschäft.11 Wenn man sich in die etwas weniger berühmten Ebenen begibt, sieht die Sache deutlich anders aus. Konkretes Zahlenmaterial dazu gibt es allerdings nicht; der Deutsche Journalistenverband DJV etwa erhebt keine Statistik dazu. Interessant sind dagegen die Zahlen der Künstlersozialkasse (KSK): In der Kategorie »Wort« ist die Anzahl der bei der KSK versicherten Frauen zwischen fünfzig und sechzig Jahren in den Jahren 2019 bis 2021 noch durchweg deutlich höher als die der Männer (zwischen 1300 und 1500 Personen mehr). Dass ihr Einkommen dramatisch unter dem der Männer liegt, ist erschreckend, muss jedoch an anderer Stelle besprochen werden. Ab sechzig Jahren ändert
sich das Bild schlagartig: Auf einmal sind viel mehr Männer versichert, sprich stehen noch im aktiven journalistischen Berufsleben (rund 1000 mehr). Haben die Frauen ab sechzig alle ausgesorgt? Ist ihnen der Journalismus zu anstrengend geworden? Kann man damit Altersdiskriminierung weiblicher Journalistinnen beweisen? Wohl eher nicht. Die Zahl ist dennoch auffällig: Frauen ab einem bestimmten Alter treten nicht mehr so häufig offen auf. Die Vorstellung, eine Siebzigjährige würde noch eine Konzernzentrale leiten, erscheint fremd – bei Männern aber wie eine Selbstverständlichkeit. Generell ist das Thema in Deutschland diffus und empirisch kaum nachweisbar. Es bleibt bei einer Aneinanderreihung von Einzelfällen, hier mit Bezug auf den Hauptsender meines Wohnorts: Im Jahr 2012 sorgte die Entlassung der WDR-Moderatorin Claudia Ludwig, damals 51, für Empörung – ausgetauscht gegen eine 13 Jahre jüngere Kollegin. Christine Westermann, Jahrgang 1948, Moderatorin von Zimmer frei und Buchkolumnistin bei Frau TV, wurde 2016 gekündigt. Im Juni 2021 musste Simone Standl, Lokalzeit-Moderatorin, geboren 1962, gehen, die daraufhin öffentlich protestierte und vor Gericht ging. Ein juristischer Nachweis von Altersdiskriminierung gelang ihr allerdings nicht. »Konzeptionelle Gründe« sind das Allzweckargument bei Entlassung freier Mitarbeiterinnen. ›Ageism‹, so das im angelsächsischen Raum geprägte Wort dafür, fällt nicht so leicht auf. Auch ich kann nicht konkret davon berichten, genauso wenig wie von mir befragte Theaterkritik-Kolleginnen über fünfzig. Keine von ihnen gibt zu, altersdiskriminiert zu sein. Oder trifft es uns als Kulturjournalistinnen einfach nicht so sehr, da wir eher selten vor Kameras auftreten? Oder nehmen wir es selbst nicht wahr? Meine Kollegin Esther Slevogt schreibt mir, als Mitgründerin des Selbstermächtigungsportals nachtkritik.de dieser Frage nie begegnet zu sein. Meine Kollegin, die Tanzkritikerin Melanie Suchy, könnte sich zwar vorstellen, dass zwei Bewerbungen vor Jahren aus Altersgründen nicht klappten, sondern bewusst an jüngere, weniger erfahrene Kolleginnen gingen. Aber sie sagt auch, sie altersdiskriminiere sich vielleicht sogar selbst, wenn sie sich weigere, auf Social Media zu gehen. Und auch wenn die Dramaturgin und ehemalige freie WDR-Lektorin Hedda Kage, Jahrgang 1941, zugibt, dass sie sich viele Jahre lang nicht in ihrer Redaktion sehen ließ, damit niemand ihr wahres Alter erfahre, habe sie sich nie altersdiskriminiert gefühlt, sondern konnte in einem erfüllten, weitgereisten Berufsleben machen, was sie wollte. International ist ›ageism‹ dagegen durchaus ein größeres Thema: Dort scheint die Vernetzung von Frauen, die sich gegen ihre Margina-
lisierung auflehnen, weiter fortgeschritten zu sein. 2019 klagten fünf Moderatorinnen des New Yorker Kabelsenders NY1 gegen ihren Arbeitgeber, angeführt von der vielfach ausgezeichneten Roma Torre (Jahrgang 1958): Sie warfen ihrem Sender vor, sie nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihres Alters zu diskriminieren, indem man ihnen weniger Präsenz auf dem Bildschirm und weniger Gehalt zugestehe.12 »Im Fernsehen«, sagte Torre im Interview, »altern Männer mit einer gewissen Würde, während für Frauen irgendwann das Haltbarkeitsdatum überschritten ist.« Nach eineinhalb Jahren endete das Verfahren mit einem Vergleich – zurück auf den Bildschirm kehrten die Frauen dennoch nicht. Immerhin – sie hatten sich gemeinschaftlich zu einer gewaltigen Stimme erhoben. Bereits im Jahr 2009 räumte der damalige BBC-Chef Mark Thompson ein, dass bei der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt nicht genügend ältere Frauen zu sehen seien – und er das ändern wolle.13 Um den Zustand zu ändern, stellte er vier Frauen über fünfzig ein. Eine von ihnen, Carole Walker, bezeichnete Thompsons Initiative indes als »reines PR-Manöver«.14 Immerhin: Während Thompson im Jahr 2012 gehen musste, schwingt die 77-jährige Moderatorin Angela Rippon in der BBC immer noch ihr Bein – und moderiert an prominenter Stelle. Hierzulande eher unbekannt ist die Schriftstellerin Ashton Applewhite15 aus New York, die zu einer weithin beachteten VollzeitAktivistin, Expertin, Bloggerin und Influencerin in Sachen Altersdiskriminierung geworden ist – 2015 war sie sogar auf der Liste der »Hundert inspirierendsten Frauen für sozialen Wandel«. Eine ähnliche Öffentlichkeit für das Thema ist in Deutschland momentan leider noch schwer vorstellbar. In Bascha Mikas Buch Mutprobe, das im Übrigen kaum noch rezipiert wird, werden die härtesten Aussagen anonym ausgesprochen: Da erzählt eine Moderatorin, wie sie den Druck, der aufgrund ihres Alters auf sie ausgeübt wurde – das Getuschel, die Bemerkungen aus der Maske –, nicht mehr ertragen konnte.16 Bisher wird so etwas in Deutschland kaum öffentlich gesagt. Es sind hier auch kaum Frauen aus den Medien vor Gericht gezogen, Simone Standl ist ein mutiges Einzelbeispiel. Das passt zu den wenig subtilen Mobbing-Signalen, denen Frauen in der Medienbranche ausgesetzt sind, wie Luzia Braun in Mutprobe beschreibt: »Es braucht keine expliziten Ansagen. Die Frauen verinnerlichen den Druck von alleine und es reichen Andeutungen, damit sie die Konsequenzen ziehen.«17 In Deutschland ist das Thema immer noch ein Tabu. Allenfalls sehr prominente Frauen wie Sylvie Meis oder Ulla Kock am Brink äußern sich zuweilen öffentlich. Die
eine wurde bei der RTL-Show Let’s Dance durch eine 16 Jahre jüngere Kollegin ersetzt und sprach in der YouTube-Show Lasst uns reden, Mädels! darüber, die andere verschwand vor einigen Jahren schlagartig ganz vom Bildschirm. »Alles ist auf jung und gleichförmig ausgelegt«, so Ulla Kock am Brink, im Ausland sei das anders: »In ganz Europa sehe ich Frauen weit über fünfzig, die wie selbstverständlich Quizformate und Unterhaltungsshows moderieren. Nur bei uns nicht.« Als ältere Moderatorin in Deutschland, so Kock am Brink, habe man keinerlei Chance.18 Wie dem auch immer sei: Wir brauchen neue Frauenbilder, neue Sehgewohnheiten, neue Vorstellungen von Schönheit, neue Glaubenssätze. Wenn wir sie in Deutschland nicht finden, lassen wir uns eben international inspirieren. Und weil die grandiose Susan Sontag nicht mehr zur Verfügung steht, halten wir uns eben an Asthon Applewhite. Sie sagt, dass wir die Bilder, denen wir vermeintlich unterworfen sind, letztlich als Gesellschaft selbst kreiert haben: Dass Altern bedeute, an Wert zu verlieren, müsse kulturell umgedeutet werden.19 Folgen wir ihrem Beispiel, vernetzen wir uns mit Frauen, feiern wir She She Pop, fliegen wir mit unseren Falten durch den Zauberwald über alle Stereotype hinweg, bringen wir andere Frauenbilder in die Medien, auf die Bühnen, in die Filme: kluge, clevere, selbstbestimmte, fröhliche, starke role models, frei von Scham und Druck. Und hier ist der Punkt, an dem die Kunst, besonders das Theater, ansetzen kann. Fangen wir endlich an.
1 Mika, Bascha: Mutprobe: Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden, München 2015. 2 Tscheplanowa, Valery: »Ich begebe mich gern in Gefahr«. Gespräch mit Christine Wahl, in: Der Tagesspiegel, 4. Mai 2018. https://www.tagesspiegel.de/kultur/ theatertreffen-gespraech-mit-valery-tscheplanowa-ich-begebe-mich-gern-ingefahr/21241446.html Zugegriffen: 4. Februar 2022. 3 So geschehen im Juni 2001 in einer Talkshow von Johannes B. Kerner: https:// www.spiegel.de/panorama/brain-trifft-body-alice-schwarzer-versus-verona-feldbusch-a-142318.html. Zugegriffen: 4. Februar 2022. 4 Sontag, Susan: »The double standard of aging«, in: The Saturday Review, 23. September 1972, S. 29 – 38. 5 Penny, Laurie: Fleischmarkt – Weibliche Körper im Kapitalismus, Hamburg 2012. 6 Mika: Mutprobe, S. 30. 7 Ebenda. 8 Ebenda, S. 86. 9 Ebenda, S. 92. 10 Siehe www.kritik-gestalten.de. 11 Mika: Mutprobe, S. 106. 12 Grynbaum, Michael M.: »Five NY1 Anchorwomen Sue Cable Channel for Age and Gender Discrimination«, in: The New York Times, 19. Juni 2019: https://www. nytimes.com/2019/06/19/business/media/ny1-women-anchors-lawsuit.html. Zugegriffen: 4. Februar 2022. 13 »Director general tells BBC bosses to put more older women on screen«, in: The Guardian, 24.09.2009, https://www.theguardian.com/media/2009/sep/24/ bbc-ageism-mark-thompson 14 The Telegraph, 5. April 2011. 15 Siehe beispielsweise This Chair Rocks: A Manifesto Against Ageism. New York 2019. 16 Mika: Mutprobe, S. 100. 17 Ebenda, S. 110. 18 In: Bild am Sonntag, 4. Juli 2021. 19 Vgl. Ashton Appelton: »Let’s end ageism« , https://www.ted.com/talks/ashton_ applewhite_let_s_end_ageism?language=de. Zugegriffen 31. März 2022.