Um der Safety willen
Einblick in die Arbeit des Flugverkehrleiters. Seite 12
Manila im Fokus
Leben und Überleben in menschenunwürdigen Verhältnissen. Seite 14
Überwachte Schweiz?
Auf der Suche nach Transparenz im Schweizer Daten-Wirrwarr stösst Tink.ch auf verschlossene Türen. Seite 6
Ausgabe Nr. 13 | 4 / 2013 | CHF 6.00 (Schweiz) | CHF 9.00 (Ausland)
Wo Journalismus beginnt
«Unsere Schülerinnen und Schüler gestalten die Zukunft»
Lehrerin und Lehrer werden – Pädagogische Hochschule FHNW 2 www.fhnw.ch/ph
Editorial Herzlich willkommen an Bord! In wenigen Augenblicken heben wir ab, um uns auf einen langen Flug zu begeben. Zahlreiche Reporterinnen und Reporter haben eine spannende Reise durch die halbe Welt für euch vorbereitet. Bitte festhalten: Als erstes besuchen wir den Mann, der einst seine Reise nur knapp überlebt hat. Christoph Schmid ist aus einem fahrenden Zug gefallen und niemand weiss wieso – am allerwenigsten er selbst. Im Anschluss an sein Portrait nehmen wir Kurs auf Genf. Hier erklärt uns Sander Hüssy im Tower, wie es möglich ist, bis zu 25 Flugzeuge gleichzeitig durch die Lüfte zu dirigieren. Sobald überqueren wir aber die Schweizer Grenzen und machen in Manila keinen Halt vor den unangenehmen Realitäten dieser Welt. Wir zeigen in eindrücklichen Bildern unvorstellbare Lebenssituationen. 4'000 Kilometer nordwestwärts werden wir die Abhängigkeiten Nepals von ausländischen Entwicklungshilfen kritisch beleuchten, bevor wir nach Bundesbern zurückkehren. Hier folgen wir den Spuren einer undurchsichtigen Daten-Schweiz. Wir befragen Experten und Verantwortliche, wie es um den Datenschutz in der Schweiz steht. In der Pfarrei Allschwil erhalten wir schliesslich Einblick in einen Sprachkurs der besonderen Art. Ich wünsche euch allen einen angenehmen Flug. Michael Scheurer Chefredaktor
Valiant engagiert sich. Auch für das Jugendmagazin Tink.ch www.v4students.ch
3
Inhalt
4
2013
24 12 Das grosse Schweigen 6
Die Reichweite des Datenskandals rund um die Enthüllungen von Edward Snowden ist unklar. Auch in der Schweiz.
Was tun? 9
Datenschutzexperte David Zollinger erklärt, was alles von Geheimdiensten mitgelesen werden kann und wie man sich davor schützt.
10
Datenschutz ist (un)wichtig
Zwei Autorinnen diskutieren über Sinn und Unsinn, Verantwortung und Ehrlichkeit, wenn es um den Schutz der eigenen Daten geht.
12 Challenge am Lotsenpult
Sander Hüssy lotst bis zu 25 Flugzeuge gleichzeitig durch den Schweizer Luftraum. Fehler darf er keine machen.
4
18 14 6
21
14 Leben in Manila
15 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner leben in der Metropolitanregion Manila - ein Drittel davon in Slums. Ein Augenschein vor Ort.
18 Teufelskreis der Hilfsprojekte
Viele Entwicklungshelfende stehen in Nepal im Einsatz. Über die Schattenseiten der guten Absichten.
21 Dem Tod entkommen
Christoph Schmid erzählt seine ungewöhnliche Geschichte und wie er heute mit den Folgen zurecht kommt.
24 Deutschkurs mal anders
Pünktlich zu Semesterbeginn starten die kostenlosen Deutschkurse der Allschwiler Pfarrei für Migrantinnen und Migranten.
Titelbild: Katharina Good Bilder S. 3-5: Oliver Hochstrasser, Daniel Barnbeck, Helen Dahdal, Fabienne Felder, Matthias Käser
5
01000101000101001011101010 Undurchsichtige 0101110101001010010010111110110 Daten-Schweiz 10100011101000140111010111010 101010100001110100010100010 00101000010001111010100010 0011010101001010001010101110 0101010000100101010101010111 1010001010100000101111101010 1111011010011010101101100111100 11010111010111101011111010101010 0100010111010001011101101001 Spätestens seit der NSA-Affäre ist die Thematik Datenschutz wieder hoch im Kurs.
Ein Skandal jagt den anderen und niemand scheint mehr den Überblick zu halten.
Tink.ch macht sich auf Spurensuche im verworrenen Daten-Dschungel und stellt nicht zuletzt die Frage, inwieweit die Schweiz in die Affären involviert ist.
Text: Michel Arduin / Bildmontage: Matthias Käser
Als Edward Snowden im Juni beschloss, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, deckte er eine globale Überwachungs- und Spionageaffäre auf. Die von ihm veröffentlichten Informationen zeichneten ein düsteres Bild eines allgegenwärtigen Überwachungsapparats, der Bestandteil der wichtigsten Kommunikationsstrukturen geworden war und danach strebte, sämtliche Kommunikationskanäle weltweit zu kontrollieren. Obwohl wöchentlich neue Enthüllungen die weltumspannende Zusammenarbeit der Geheimdienste aufzeigen, gibt es in der Schweiz bis heute offenbar keinen offiziellen Auftrag, den Grad der Überwachung der schweizerischen Bevölkerung durch ausländische Geheimdienste restlos aufzuklären. Vielmehr scheint sich ein Mantel der stillschweigenden Duldung über die Schweiz gelegt zu haben. Wer nach Erklärungen für die Lethargie sucht, landet in einem Dschungel von Geheimdienstkooperationen, Staatstrojanern, Wirtschaftsspionage und widersprüchlichen Stellungnahmen. Wenige haben den Überblick. Und jene, die ihn haben, sind äusserst zurückhaltend.
Die offizielle Schweiz informiert nicht Bis heute gab es im Parlament nur wenige Interpellationen, in denen der Bundesrat angefragt wurde, wie es um die Überwachung in der Schweiz steht. Die Antworten fielen spärlich aus. Entweder verwies man auf die Geheimhaltung, oder redete sich damit heraus, dass noch nicht ausreichend Informationen bereitstehen würden, um die Öffentlichkeit zu informieren. Auf dieselbe Anfrage von Tink. ch antwortete der Nachrichtendienst des Bundes
6
(NDB) lapidar, dass auf operationelle Fragen keinerlei Auskünfte an die Öffentlichkeit gegeben würden. Weiter informierte der NDB, dass er mit über einhundert Partnern im In- und Ausland zusammenarbeite, verweist aber im selben Atemzug darauf, dass diese Liste geheim sei. Auch Anfragen an den eidgenössischen Datenschützer, Hanspeter Thür, helfen in dieser Frage nicht weiter. «Es dürfte unmöglich sein, sich von aussen einen Überblick zu verschaffen», lässt sich Thür auf Anfrage von Tink. ch zitieren. Allerdings hat Balthasar Glättli (Grüne) im September 2013 eine Motion eingereicht, die den NDB verpf lichten würde, jährlich eine Liste der Zusammenarbeiten mit ausländischen Nachrichtendiensten und der Anzahl Operationen zu veröffentlichen. Keine echte Kontrolle In der Schweiz sind Datensammlungen der Behörden gesetzlich geregelt und müssen angemeldet werden. Diese sind öffentlich zugänglich. In zwei Bundesgesetzen sind die Kompetenzen des NDBs geregelt. Gemäss diesen gesetzlichen Grundlagen dürfen Daten erst gesammelt und ausgewertet werden, wenn ein Verdachtsmoment gegen eine Gruppierung oder Einzelperson besteht. Im Gegensatz zur NSA, die auf Vorrat Daten sammelt und diese erst im Verdachtsfall auswertet. Eine solche Überwachung setzt alle Bürger eines Landes unter Generalverdacht, womit ein Grundsatz der Demokratie ausgehebelt wird, nämlich die Unschuldsvermutung. Insofern liegt das Problem hierzulande nur darin, dass es bis heute unklar ist, wie sehr die
00101010010100010100010100 00110000011101001011110101110 0101111111010100001011101011101 010011110101111101011110000010 0101110101001010110101001010 010111011010010100010111101010 11110010001010110101011101010 0101010101011110010101010100 00111000001101011101001011010 0111101101011000010100100001 10101000101011101011111010001 7
01000101000101001011101010 0101110101001010010010111110110 10100011101000140111010111010 101010100001110100010100010 00101000010001111010100010 0011010101001010001010101110 0101010000100101010101010111 1010001010100000101111101010 1111011010011010101101100111100 11010111010111101011111010101010 0100010111010001011101101001 schweizerische Bevölkerung von ausländischen Geheimdiensten überwacht wird. Angenommen, ausländische Nachrichtendienste teilten ihre Daten mit Schweizer Behörden, so könnten diese in den Besitz von Daten gelangen, die nach Schweizer Gesetz unrechtmässig sind. Zurzeit scheint allen Verantwortlichen Selbstkontrolle zu genügen. «Der NDB wendet seine Befugnisse gemäss geltenden Gesetzesgrundlagen an.» Selbst der eidgenössische Datenschützer meint: «Wir arbeiten bei der Gesetzgebung mit. Die Datenbearbeiter (NDB) sind dafür verantwortlich, die Gesetze einzuhalten.»
Infrastruktur besteht Dass für eine umfassende Überwachung die erforderlich Infrastruktur bereits vorhanden ist, ist kein Geheimnis. Die parlamentarische Anfrage von Bernhard Hess (SD) zum Verkauf der bundeseigenen Satellitenanlage an die NSA-nahe amerikanische Firma Verestar im Jahr 2000 zeigt dies auf. In der Schweiz sind die Telecom-Provider dazu verpf lichtet, Nutzerdaten für sechs Monate aufzubewahren. Ausserdem wird mit grosser Wahrscheinlichkeit in kurzer Zeit das revidierte Gesetz zur nachrichtendienstlichen Überwachung in der Legislative verabschiedet. Dieses würde dem NDB das Recht geben, alle inländischen Kommunikationskanäle anzuzapfen. Beispielsweise darf der inländische Postversand bis heute nicht eingesehen werden. Das würde sich im neuen Gesetz ändern.
schlüsseln. Auch Computerlaien ist es mit wenigen Klicks möglich, ihre Daten gegen Dritte zu sichern. Es stimmt zwar, dass gewisse Zertifikate geknackt werden können, aber die allermeisten Verschlüsselungsprogramme sind dezentral organisiert und können dank ausgeklügelter mathematischer Funktionen nur mit massiver Zeitverzögerung und einem immensen Rechenaufwand entschlüsselt werden. Weiter gibt es zum Beispiel in Deutschland Vorstösse, nur landesinterne Netzwerke zu verwenden. Landesinterne Kommunikation könnte demnach nicht mehr über Satellitenkanäle abgegriffen werden. Auch Darknets – Netzwerke, die über eigene, private Infrastrukturen betrieben werden – sind nicht erst seit den jüngsten Enthüllungen am Entstehen. Ausserdem stellen einige Anbieter kostenlose Proxy-Dienste zur Verfügung, die das Surfverhalten nicht mehr nachvollziehbar machen. Eines der bekanntesten Projekte ist etwa «Tor». Mit einigem Aufwand können auch das Handy verschlüsselt oder SMS über speziell gesicherte Kanäle übermittelt werden.
Öffentliche Diskussion Schliesslich haben die Enthüllungen rund um die Spionageaffären der NSA positive Auswirkungen. Die Öffentlichkeit setzt sich stärker mit dem Thema auseinander, Überwachung und Verschlüsselung ist ins allgemeine Interesse gerückt. Viele Schweizer Firmen distanzieren sich mittlerweile von DatenMisstrauen der Bevölkerung anbietern aus Übersee. Die Fichenaffäre und weiteViele Beispiele zeigen das Misstrauen der Bevöl- re Datensammlungsskandale in der Schweiz zeigen, kerung gegenüber staatlichen Überwachungsorga- dass auch hier eine strikte Überwachung durch die nen. Das Schlagwort ist «Verschlüsselung». Nicht Kontrollorgane und letztlich durch das Volk selbst nur Computerexperten wissen ihre Emails zu ver- unerlässlich ist.
8
00101010010100010100010100 00110000011101001011110101110 0101111111010100001011101011101 010011110101111101011110000010 0101110101001010110101001010 010111011010010100010111101010 11110010001010110101011101010 0101010101011110010101010100 00111000001101011101001011010 0111101101011000010100100001 10101000101011101011111010001 «Wenn du etwas verbergen willst, schreib es nicht auf!»
David Zollinger, ehemaliger Staatsanwalt und Privatbankier, hat im Verlauf seiner
Karriere ein beträchtliches Hintergrundwissen über nachrichtendienstliche Aufklärung,
Umgang mit sensitiven Daten und Rechtsstaatlichkeiten angesammelt. Heute ist
er als Geschäftsführer einer Beratungsfirma tätig und informiert im Auftrag seiner
Kunden über die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und wie die eigenen Daten
zu schützen sind.
Interview: Michel Arduin, Stefan Mettler und Michael von Dach
Herr Zollinger, wie schützen Sie im Zeitalter internationaler Aufklärungen Ihre sensitiven Unternehmensdaten?
Der ehemalige CIA-Direktor William Casey hat einmal gesagt: «If you want to keep something a secret, don’t write it down.» Das war aber vor dem Internet-Zeitalter. Heute sind tatsächlich viele Formen der elektronischen Aufzeichnungen «transparent». Sie können mit entsprechendem Aufwand von aussen eingesehen werden. In unserem Unternehmen benutzen wir zwar Formen der Cloud-Speicherung, aber die Dokumente werden vorgängig mit einer Open-Source-Software und einem sehr langen Schlüssel verschlüsselt. Die sind aber leicht zu knacken?
Entgegen der vorherrschenden Meinung sind Verschlüsselungsverfahren immer noch äusserst sicher, weil sie den Entschlüsselungsaufwand fast unendlich verlängern können. Dasselbe gilt für die Verschlüsselung von Mail-Verkehr, auch dort sind Open-Source-Hilfsmittel sehr praktisch. Grundsätzlich gilt aber: Es gibt keine 100-Prozent-Sicherheit.
Die National Security Agency (NSA) kann überall mithören. Selbst verschlüsselte Kommunikationskanäle sind vor Abhörungen nicht sicher, wie von Edward Snowden aufgedeckt wurde. Wie beurteilen Sie die Wahrscheinlichkeit, abgehört zu werden?
Man darf wohl mit dem Hintergrundwissen der veröffentlichten Informationen annehmen, dass in Westeuropa – und damit auch in der Schweiz – verschiedene Staaten Aufklärung betreiben. Primär tun sie das in Bezug auf die Bekämpfung extremistischen Terrors. Aber die Trennlinie ist vor allem im präventiven Bereich nicht immer einfach
Bild: zvg
Die beiden IT-Sicherheitsexperten Stefan Mettler und Michael von Dach arbeiten täglich mit sensitiven und heiklen Daten. Sie sind derzeit bei der ISPIN AG, einem führenden Anbieter von Daten- und Informationssicherheit angestellt. Dieses Interview kam dank einer Branchenübergreifenden Zusammenarbeit mit David Zollinger zustande, ehemaliger Staatsanwalt und Privatbankier, heute als Geschäftsführer einer Beratungsfirma tätig. Redaktionelle Auf bereitung Michel Arduin.
9
01000101000101001011101010 0101110101001010010010111110110 10100011101000140111010111010 101010100001110100010100010 00101000010001111010100010 0011010101001010001010101110 0101010000100101010101010111 1010001010100000101111101010 1111011010011010101101100111100 11010111010111101011111010101010 0100010111010001011101101001 Im Internet unsichtbar werden – wen kümmert’s? Kommentar: Anita Béguelin
Plötzlich reden alle über Datenschutz, Datendiebstahl, Datensicherheit, plötzlich kann ich im «Blick am Abend» Anleitungen lesen, wie sich Mails verschlüsseln lassen und wie man im Internet unsichtbar wird. Plötzlich scheint es alle zu kümmern, was mit seinen Daten passiert. Wahrscheinlich ohne wirklich zu wissen, was «seine Daten» denn eigentlich sind. Ich jedenfalls weiss es nicht und sehe auch nicht, wie diese gegen mich verwendet werden könnten. Ich habe keine Leichen im Keller, und dabei bleibt es. Von mir aus sollen doch alle wissen, wie oft am Tag ich welche Webseite besuche, von mir aus kann auch jeder wissen, dass ich Blaukraut zu Mittag esse und ich gerade «Die Wilden Hühner» heruntergeladen habe. Wen kümmert’s? Klar wünsche ich mir nicht, dass die Mail-Korrespondenz mit meiner besten Freundin öffentlich publiziert wird. Aber ich bin ziemlich sicher, dass es dazu nie kommen wird. Bestimmt gibt es interessantere «sensible Daten» (was auch immer das sein mag) als die meinen. Ich gebe zu: Mich zu diesem Thema zu äussern, ist ein etwas schwieriges Unterfangen. Ich schere mich so wenig um Datenschutz, -diebstahl und -sicherheit, dass ich nicht einmal wirklich weiss, wovon ich hier schreibe. Denn obwohl ich grundsätzlich ein neugieriger Mensch bin, interessiert mich diese Angelegenheit in keiner Weise. Dieses Thema wird an uns vorbeiziehen wie viele zuvor auch schon. Mir geht es mit meinem Unwissen und meiner Unbesorgtheit gut dabei, und mit diesen 244 Worten habe ich mich aus meiner Sicht ausreichend mit dem Zustand meiner Daten beschäftigt.
10
zu ziehen. Vielfach ergibt sich erst aus der Analyse der erhaltenen Informationen, ob eine überwachte Person Teil einer Zielgruppe ist oder harmlose Aktivitäten betreibt.
Wie sieht die Situation in der Schweiz aus?
Interessant ist, dass im Rahmen der heutigen Rechtslage ausgerechnet der Schweizer Nachrichtendienst keine Kompetenz zur elektronischen Aufklärung im Inland hat, was in Westeuropa ziemlich einzigartig ist. Im Rahmen des neu zu schaffenden Nachrichtendienstgesetzes soll dies aber geändert werden, und das scheint mir sinnvoll zu sein. Immerhin ist dort auch ein mehrstufiger Genehmigungsprozess vorgesehen, sodass also auch die Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt.
In der Schweiz besteht also keine Gefahr, abgehört zu werden?
Nein. Man sollte nicht vergessen, dass es auch zahlreiche private Unternehmen gibt, die im Auftrag ihrer Klienten Aufklärung betreiben. Die dazu notwendigen Geräte sind heute auf dem Markt für relativ wenig Geld erhältlich. Diese Bedrohung wird meines Erachtens gerade im Industriebereich noch deutlich unterschätzt.
Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass in der Schweiz Wirtschaftsspionage durch die NSA vorgekommen sein könnte?
Man weiss von anderen Ländern in Europa, dass sie die heimische Industrie nachrichtendienstlich unterstützen und beispielsweise ausländische Geschäftsleute auf ihrem Territorium überwachen und verdeckt aufklären. Für die Schweizer Industrie sähe ich das als eine bedeutendere Bedrohung als die NSA, deren Auftrag, soweit bekannt, in erster Linie präventiver Natur ist.
In der Schweiz gibt es in den Medien zurzeit kaum einen Dialog über die NSA-Affäre und die daraus resultierenden Auswirkungen. Es scheint in der Schweiz keinen zwingenden Auftrag zu geben, die heutige Situation
00101010010100010100010100 00110000011101001011110101110 0101111111010100001011101011101 010011110101111101011110000010 0101110101001010110101001010 010111011010010100010111101010 11110010001010110101011101010 0101010101011110010101010100 00111000001101011101001011010 0111101101011000010100100001 10101000101011101011111010001 aufzuklären, weder von den Medien, noch von offizieller Stelle. Wagen Sie einen Erklärungsversuch?
Es gibt hier einen juristischen und einen politischen Aspekt. Juristisch betrachtet gibt es möglicherweise Tatbestände, die durch solche «angeblichen Zugriffe» erfüllt sein können. Aber in einem Rechtsstaat braucht es zur Eröffnung einer Strafuntersuchung einen dringenden Anfangsverdacht. Und der ist nicht immer ohne Weiteres vorhanden, jedenfalls nicht einfach aufgrund von schwer überprüfbaren Medienmeldungen.
Und politisch?
Politisch ist die Sache etwas komplexer: Die Länder, welche mit den «Five Eyes» – Kanada, USA, Grossbritannien, Australien und Neuseeland – zusammenarbeiten, verfolgen grundsätzlich dieselben Interessen wie diese, nämlich den Schutz der freiheitlichen, westlichen Gesellschaftsordnung. Welche Massnahmen hierfür geeignet und zweckmässig sind, muss im Einzelfall entschieden werden, wobei sich immer technische, politische und juristische Fragen stellen. Tatsache ist aber auch, dass Zusammenarbeit bedeutet, dass Informationen ausgetauscht werden beziehungsweise dass Zugriff auf Informationen gewährt wird – sonst wäre es keine Zusammenarbeit.
In der Schweizer Medienlandschaft ist kaum Empörung über die Abhör-Skandale auszumachen. Weshalb?
Dass die Öffentlichkeit und die Medien in der Schweiz weniger empört reagieren als beispielsweise in Deutschland, liegt einerseits daran, dass die NSA dort offenbar stärker präsent ist. Anderseits scheint in der Bevölkerung die Vorstellung stark zu sein, das Thema beträfe nur «die Anderen» und selbst sei man davon nicht betroffen. Wie es beispielsweise bei der Diskussion rund um das Bankgeheimnis der Fall war.
Also alles nur Angstmacherei?
Ich kann es nur nochmals erwähnen: Das Problem ist nicht in erster Linie, dass Länder untereinander Informationen austauschen oder dass sie sich gegenseitig Zugriff gewähren, sondern dass die Bevölkerung davon keine Kenntnis hat und damit auch nicht zustimmen kann. Wer in einer verantwortlichen Position beim Staat solche Entscheide trifft, muss damit rechnen, dass es ihn seinen Kopf kosten kann, wenn solche Dinge an die Öffentlichkeit gelangen.
Wer seine Daten nicht schützt, handelt egoistisch Kommentar: Vivienne Kuster
Da läuft etwas schrecklich schief. Der NSA-Skandal hat viele Menschen dazu gebracht, empört zu sein. Zu Recht. Aber haben diese Menschen verstanden, worum es wirklich geht, und sich auch ausserhalb von NSA und Facebook mit Datenschutz befasst? Zwei Dinge möchte ich ansprechen. Erstens: Der Einfluss meiner Daten auf andere ist enorm. Sie sagen nicht nur etwas über mich, sondern auch über mein ganzes Umfeld aus. Wer also behauptet, seine Daten nicht schützen zu müssen, weil er nichts zu verbergen hat, handelt egoistisch und kurzsichtig. Der sorglose Umgang mit Daten einzelner tangiert eine ganze Masse. Ein Beispiel: Autoversicherungen locken mit günstigeren Prämien, wenn sich der Fahrer oder die Fahrerin im Gegenzug einer Dauerüberwachung in Form einer Blackbox unterziehen lässt. Diese im Auto eingebaute und mit GPS verbundene Blackbox zeichnet den Fahrverlauf, das Tempo und Weiteres auf. Lassen sich nun viele Menschen auf dieses verlockende Angebot ein, wird die Überwachung Standard. Damit werden alle, die keine Überwachung möchten, höhere Prämien berappen müssen. Zweitens: Ein individuelles Internet macht sich breit. Unsere ganze Aktivität im Netz wird selbstverständlich dokumentiert. So schaltet mir Facebook Zalandowerbung eines Produkts auf, den ich angeschaut habe. Unternehmen nutzen unsere Daten, um Geld zu verdienen. Auch wenn wir Daten nicht sehen, riechen oder in der Hand halten können, beeinflussen sie uns, und der fahrlässige Umgang damit kann zur Gefahr werden. Meine Hoffnung ist, dass sich eine Datenethik entwickelt. Menschen sollen sich dafür einsetzen, sie sollen über Datenschutz aufklären und bereit sein, Geld zu investieren. Eigentlich wie bei Umwelt- oder Tierschutz, nur dass es bei der Datenethik nicht um Tiere oder Umwelt sondern um Macht, unsere Individualität, Freiheit und Selbstbestimmung geht.
11
Sander Hüssys Artbeitsort: Keine Fenster, keine Ablenkung.
Flugzeuge bremsen nicht Sander Hüssy suchte die Herausforderung und fand sie – in einem fensterlosen Bau am Rand des Genfer Flughafens. Bis zu 25 Flugzeuge lotst er gleichzeitig durch den Schweizer Luftraum. Text: Matthias Strasser / Bilder: Matthias Käser
Wenn Sander Hüssy zur Arbeit fährt, erkennt er schon am Wetter, ob er viel zu tun haben wird. Türmen sich über den Alpen die Gewitterwolken, bedeutet das Mehraufwand. Der 27-Jährige arbeitet bei Skyguide als Flugverkehrsleiter. Er dirigiert Flugzeuge durch die Schweizer Lüfte. Und wenn Sander Hüssy am Arbeitsplatz ist, steht er immer mit einem Bein im Job, auch wenn er gerade Pause macht. Telefonisch ist er dauernd erreichbar. «Auf Stand-by», um der «Safety» willen. Flugsprache ist Englisch. Hüssy wägt kurz ab, was er sagen könnte. Dann sprudelt die Information aus ihm heraus. Er spricht schnell, abgehackt beinahe, aber immer bestimmt und verständlich. So muss es für die Piloten klingen, wenn Sander Hüssy seine Anweisungen gibt. Aus einer Palette von Möglichkeiten wählt Hüssy immer die bestmögliche Option. Alles andere hätte fatale Folgen. Im Job zumindest. Im Gespräch kann das irritieren. Aber Hüssy will immer überzeugen, nichts Falsches sagen, niemanden enttäuschen.
re Sprache, andere Kultur, grössere Herausforderung. Hüssy wollte etwas Neues sehen, «die Challenge suchen». Da ist es wieder. Das Englisch. Es wirkt nicht aufgesetzt. Es ist eingewoben ins Züri-Dütsch. Sander Hüssy hat nach seinem Sekundar-Abschluss eine Lehre gemacht. Chemielaborant mit Berufsmatura war er am Ende. Aber die Challenge war nicht gross genug. Hüssy wollte mehr, er wollte hoch hinaus. Während seiner Dienstzeit zog es ihn in die Lüfte. Einen Jet hätte er gerne gesteuert, für die Armee. Aber das hat nicht geklappt. Also hat er sich anderswo umgeschaut. Verkehrspilot war kein Thema. «Ich will irgendwann eine Familie.» Da kam Skyguide genau richtig: Höchste Präzision, viel Verantwortung und immer ein sanfter Druck, verbunden mit der hoffnungsvollen Erwartung, dass Hüssy keinen Fehler macht. Eine grosse Challenge. Für das Fliegen vom Boden aus musste er ein aufwändiges Aufnahmeverfahren durchlaufen. Körperlich fit müsse man sein und äusserst belastbar, wenn man Fluglotse werden möchte. Nach der Zulassung Die Suche nach der Challenge folgte eine lange Ausbildung. Nie«Weg von zu Hause» habe er ge- mand wird bei Skyguide einfach wollt, weg aus Zürich. Deshalb so auf den Luftverkehr losgelassen. ist er nach Genf gegangen. Ande- Flugverkehrsleiter ist nicht Ver-
12
Die Arbeit als Flugverkehrsleiter bot Hüssy genau das Richtige: Präzision, Verantwortung und die Möglichkeit, eine Familie zu haben.
kehrsleiter. Wenn der Sicherheitsmann in der Mitte der Kreuzung mit dem Verkehrsfluss nicht zurechtkommt, dann bremsen die Autos. Flugzeuge können das nicht. Was das bedeutet, wurde 2002 deutlich. Über dem deutschen Überlingen stiessen zwei Flugzeuge in gut 10'000 Metern Höhe zusammen. Es gab keine Überlebenden. Sander Hüssy ist sich seiner Verantwortung bewusst. Aber er weiss auch, dass so ein Ereignis extrem selten ist. Und er weiss, dass er Teil eines Systems mit vielen Sicherheitsnetzen ist. Sander Hüssy ist einer unter vielen. Ein Zahnrad. Ein kleines Rädchen in einem grossen System, ein ersetzbares Rädchen. Und dennoch leistet er unersetzbare Arbeit. Den Überblick behalten Wenn er irgendwann zurück nach Zürich möchte, vielleicht in ein paar Jahren, dann kann er sich umschulen lassen. Aber sogar das
wird Monate dauern, der Sicherheit wegen. Simulationen, das Kennenlernen der ihm nicht vertrauten geografischen Verhältnisse. Immer begleitet, gecoacht, wie das bei Skyguide heisst. Diese sei ein flexibler Arbeitgeber, sagt Hüssy. Er schaut unsicher zum Mediensprecher, der neben ihm sitzt. Wieder will er nichts falsch machen. Aber der Mediensprecher hat nichts zu bemängeln, nicht einmal zu ergänzen. Challenge bestanden. Der Fluglotse ergänzt: «Am Ende muss man den Live Traffic im Daily Buisness erlernen.» Manchmal fehlen Sander Hüssy die deutschen Wörter für Begriffe aus der Fliegerei. Er spricht sogar das Wort «Wind» mit englischem Akzent aus. Aber wenn er das tut, ist er in seinem Element. Die Windstärke sei die einzige Zahl, welche der Pilot nicht Ziffer für Ziffer wiederholen müsse, wenn Hüssy sie über Funk durchgibt. Der Flugverkehrsleiter, der
gleich neben dem Genfer Flughafen arbeitet, hat Weisungsbefugnis über die Piloten in der Luft. «Die müssen sich an das halten, was wir ihnen sagen.» Hüssy sagt das nicht arrogant. Aber einer müsse ja den Überblick behalten über den ganzen «Traffic». Bei bis zu 25 Flugzeugen über Genf, die Hüssy gleichzeitig betreut, muss er vorausdenken. Bis auf 300 Meter in der Höhe und neun Kilometer in der Breite darf Hüssy die Flugzeuge aneinander vorbeifliegen lassen. Kommen sich zwei Flugzeuge zu nahe, wird ein Alarm ausgelöst. Damit dies nicht passiert, ist der Arbeitsplatz von Sander Hüssy nach aussen abgeschirmt. Sonnenlicht dringt nicht herein, um irritierende Spiegelungen auf den Computerbildschirmen zu vermeiden. Aber zu so einem Alarm ist es bei Sander Hüssy bisher nie gekommen. Bis heute hat er am Lotsenpult jede Challenge bestanden.
13
Leben und Ăœberleben auf engstem Raum Bilder und Text: Oliver Hochstrasser
Die Hauptstrasse als Spielplatz. Ein Grossteil des Lebens in Manila spielt sich auf den Strassen ab.
14
Arbeit unter Gefährdung der Gesundheit. Direkt neben bewohnten Hütten findet die Produktion von Holzkohle statt. Diese bringt einigen Menschen einen Teil ihres Lebensunterhaltes ein.
In der Metropolitanregion Manila (Philippinen) leben auf einer Fläche von 640 Quadratkilometer etwa fünfzehn Millionen Menschen, schät zungsweise ein Drittel davon in Slums. Es sind Hütten mit Wänden aus Holz und Dächern aus Wellblech, eng ineinander gebaut. Die Armut in Manila ist riesig und die Ungleichheiten übermächtig. Die 40 reichsten Familien gelangen jährlich in den Besitz von 75 Prozent des Bruttosozialprodukts, wie philippinische Medien berichten. Das Stadtgebiet Tondo gilt als eines der ärmsten. Die Menschen, welche in den spärlichen Behausungen leben, kommen nur schwer über die Runden. Einige verdienen ihr Geld mit dem Weiterverkauf von Gegenständen, die sie im Müll finden, andere mit der Herstellung von Holzkohle. Am Ende bleibt dennoch fast nichts übrig, denn das wenige Geld wird für Essen ausgegeben. Auch für die Kinder und Jugendlichen ist die Arbeit im Kampf um Nahrung eine tägliche Herausforderung geworden. Bildung rückt in dieser Situation in weite Ferne.
Aus Holzresten, Plastikblachen, alten Werbeplakaten oder Wellblech werden die Hütten in Reih und Glied aneinander gebaut. 40 Prozent der durchschnittlich fünfköpfigen Familien besitzen lediglich einen Wohnraum.
15
Schon früh sind die Kinder damit konfrontiert, den für sie wertvollen Abfall zu sortieren. Gemeinsames Sammeln und gegenseitiges Tauschen gehören dazu.
Die Menschen in den Slums von Manila wissen, wie Platz ausgenutzt werden muss. Die moderne Technik ist in den Slums allgegenwärtig, viele besitzen trotz Armut einen Fernseher.
16
2700 Tonnen Abfall werden in Manila täglich produziert. Aus ihm schöpfen viele Menschen Dinge, die sie weiterverkaufen können. Für ein Kilo Plastikmüll erhält man beispielsweise drei Peso, was fünf Rappen entspricht.
Der Fotograf Oliver Hochstrasser reiste im März 2013 für das schweizerische Hilfsprojekt Onesimo nach Manila. Die Jugendarbeit Onesimo ist im Jahr 1996 gegründet worden und bietet Jugendlichen aus Manilas Armenvierteln verschiedene Ausbildungskurse und Freizeitaktivitäten an. Strassenkinder finden in der Rehabilitation einen Weg aus Drogenkonsum und destruktivem Verhalten. Die therapeutischen Gemeinschaften sind für viele der gestrandeten Teenager aus dem Slum zur entscheidenden Lebenshilfe geworden.
Wenn es gut läuft, verdienen die Arbeiter 3000 Peso im Monat, umgerechnet etwa 65 Schweizer Franken.
17
Ein Labyrinth aus unzähligen Gassen und unbekannten, verkommenen Orten.
Das Mekka der Entwicklungshilfen Trekking, Abenteuer, Berge - Nepal gilt als das Land des Himalayas. Oft wird dabei vergessen, dass es ein Entwicklungsland ist, zu dem Hilfe aus der ganzen Welt heranreist. Doch profitieren die Einheimischen von diesen Projekten wirklich? Text und Bilder: Helen Dahdal
von eng gewundenen und erdigen Gässchen. Auf den Strassen folgt jeder seinen eigenen Verkehrregeln. Der Lärmpegel ist gewöhnungsbedürftig. Doch bald blende ich das Hupkonzert aus. Schwieriger ist das mit der Luftverschmutzung. Sie ist hoch, viele Nepalesen tragen einen Mundschutz aus Stoff. Ob ich mir auch so einen besorgen soll, frage ich mich, als mich eine Rauchwolke aus dem Auspuff eines vorbeifahrenden Autos in Schwarz umhüllt. In all dem Lärm tollen Affen, Hühner und wilde Hunde herum. Überall in Nepal finden sich kleine Müllberge zwischen den Häusern und auf den Strassen. Eine Kuh nimmt ein Nickerchen inmitten der Strasse und alle machen einen Bogen um sie. Als Europäerin wundere ich mich, aber Kühe gelten als heiDürftige Infrastruktur lig und müssen in Ruhe gelassen werden. All dieses Am nächsten Morgen mache ich mich in der Früh auf Chaos erinnert mich wieder an die Informationen des den Weg ins Hauptquartier des Freiwilligen-Projekts. Reiseführers: Die Verkehrsinfrastruktur des Landes Der Weg führt durch Wohnquartiere, alle geprägt sei besonders, hiess es. Meine erste Reise in ein Entwicklungsland. Wie sollte ich es mir vorstellen? Natürlich, ich hatte mich vorbereitet: Die Informationsblätter zu der Freiwilligenarbeit und etliche Reiseführer wurden sorgfältig durchgelesen. Doch nichts hätte mich auf das vorbereiten können, was mich in Kathmandu erwartete. Vor dem Flughafen werde ich vom lächelnden Raz empfangen. Er leitet die Hilfsorganisation, bei der ich in den nächsten Wochen freiwilligen Dienst leisten werde. Die erste Taxifahrt zu meiner Gastfamilie schüttelt mich kräftig durch. Schnell erkenne ich, dass die Strassen nur auf kleinen Strecken asphaltiert sind.
18
Den Sonnenaufgängen über dem Himalaya wohnen jeden Morgen tausende Touristen bei.
In Nepal gibt es eine einzige Hauptstrasse, die sich durch das ganze Land zieht und zu den anderen Städten des Landes führt. Da Kathmandu die einzige Stadt mit einem internationalen Flughafen ist, erreiche ich die anderen Städte also am besten mit dem Bus. So wie die Strassen fehlen, fehlt es offenbar auch an guten öffentlichen Institutionen. Die Problematik der Hilfsprojekte Nach einigen Orientierungsschwierigkeiten im schier unendlichen Gässchen-Irrgarten erreiche ich das Freiwilligen-Haus. Hier werden mir und ein paar anderen Helfenden die verschiedenen Projekte vorgestellt. Ich werde als Englisch-Lehrerin bestimmt und unterrichte fortan an einer öffentlichen Schule. Eine weitere holprige Taxifahrt später stehe ich vor besagtem Schulhaus. Wie der Reiseführer es mir offenbart hat: Die Schule ist alles andere als in einem guten Zustand. Sie wird vor allem von Kindern aus finanziell schwachen Millieus besucht. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf eine Privatschule. Ich trete in das Klassenzimmer meiner Schülerinnen und Schüler ein. Die holzigen Bankreihen sind alt, die Wände sind aus Stein, vollkommen grau und kalt. Etwas ist aber besonders augenfällig: Die Englischbücher sind mit grammatikalischen Fehlern behaftet, welche von den Lehrerpersonen an die Schüler weitergetragen werden. An dieser Stelle docken die Entwicklungshilfen an und Freiwillige, wie ich, sollen Abhilfe schaffen.
Ein Entwicklungsland mit solchen Lücken im öffentlichen System nimmt Hilfe von Aussenstehenden dankbar an. Grundsätzlich sind die Hilfsprojekte aber umstritten: Das Land wird abhängig von solchen Projekten und kann sich nicht selber aus den denkwürdigen Verhältnissen heraushelfen. Trotzdem scheinen viele Menschen helfen zu wollen, der Trend hält an. Die zahlreichen anderen Freiwilligen, die mit mir in das Projekt starten, sind Beweis genug. Trekking und Tourismus: Der falsche Fokus? Zwischen den Projektstunden bleibt genug Zeit, um Kathmandu kennenzulernen. Durch die Strassen schlendernd lässt sich die für mich ungewohnte Szenerie beobachten. Hinduistische Frauen mit ihrem Alltagsgewand «Sari» kreuzen buddhistische Mönche mit ihren losen Gewändern, den Chubas. Ich entdecke hinduistische Tempel nur ein paar Häuser weiter von buddhistischen Tempeln, Stupas genannt. Sie sind über ganz Kathmandu verteilt. Kathmandu, die Stadt der Tempel und Götter. Etwas weiter, im Einkaufsviertel für Touristen, dem «Thamel» stehen an allen Ecken Trekking-Geschäfte oder Büros für Erlebnisreisen. Die Einheimischen haben sich dem Tourismus angepasst. Es gibt unzählige private Busreise-Unternehmen, die Touristen in die andere Städte des Landes bringen. Ich entscheide mich weitere Teile Nepals zu bereisen: Die Stadt Pokhara und den ChitwanNationalpark. Die Fahrt mit dem Bus dauert von Ka-
19
zu zweit eine Klasse und unterstützen abwechselnd die Kinder beim Lösen der Aufgaben. So verhält es sich auch bei mir. Langsam erschliesse ich die Dynamik der Klasse. Nabim schnattert laut auf Nepali mit Bisan. Ganz anders ist dabei Laxmi. Sie sitzt still auf ihrem Platz und löst ihre Aufgaben. Sie übersetzt sogar von Englisch auf Nepali für die anderen Schülerinnen und Schüler, wenn diese mich nicht verstehen. Nicht nur in öffentlichen Schulen kommen Freiwillige zum Einsatz. Auch die Bildung von Frauen steht im Fokus vieler Entwicklungszusammenarbeiten. Lily Flower ist ein Projekt, bei dem mittellose Frauen Englisch-Kenntnisse erlernen können. Es ist eine Tatsache, dass Frauen in Nepal weniger Achtung in der Gesellschaft finden als Männer. Mit Lily Flower erhalten die Frauen die Möglichkeit, sich ein wenig zu emanzipieren. Ich bemerke schnell, dass die Teilnehmerinnen etwas lernen wollen. In ihren Saris sitzen sie auf den drei Holzbankreihen im kleiDer Westen auf Mission nen Unterrichtszimmer. Ich male eine Pfanne auf die Zurück in Kathmandu konzentriere ich mich wie- Wandtafel und schreibe unter der Zeichnung «pan» der auf meine Arbeit. Ständig kommen weitere Frei- hin. Eifrig machen die Frauen es nach. Die Hilfsprojekte haben einen negativen Einfluss willige aus anderen Ländern an. Die Nachfrage nach Hilfsprojekten in Nepal ist ungebrochen. Es gibt auf die Eigeninitiative in der Bevölkerung. Trotzzahlreiche Organisationen, die Entwicklungsprojek- dem brachten Freiwillige neue Unterrichtsmethote in verschiedenen Bereichen anbieten. Eine beliebte den ein, die lokale Lehrpersonen weiterführen. Nach Arbeit bei den Freiwilligen ist das Unterrichten an der und nach entdecken viele Frauen die Notwendigkeit öffentlichen Schule. Freiwillige übernehmen oftmals der Eigeninitiative. thmandu aus sieben Stunden. Pokhara, in der Mitte von Nepal gelegen, ist die Touristenstadt schlechthin: An jeder Ecke steht ein Hotel oder Restaurant. Souvenir- und Trekkingshops konkurrieren um die Wette und die Sehenswürdigkeiten sind bestens besucht. Die mächtigen Sieben- und Achttausender sind für die Touristenscharen verantwortlich. Eine Stunde Busfahrt weiter liegt der Chitwan-Nationalpark. Auch wir suchen das Abenteuer und unternehmen eine kleine Safari: Auf dem Rücken eines Elefanten durch den Dschungel. Im Chitwan-Nationalpark zeigen sich negative Seiten des Tourismus. Die für die Touristensafaris bereitstehenden Elefanten leben in Gefangenschaft. Die Elefanten sind für das Geschäft unabdingbar. Mit einer metallischen Fussfessel können sie sich nur ein paar Meter frei bewegen: Tourismus auf Kosten der Tiere.
Nepal ist reich an kulturellen Vermächtnissen. Hinduistische Tempel stehen in Kathmandu neben buddhistischen.
20
Fällt ein Mann aus einem Zug, denkt mancher an Suizid. Schmid weiss aber, dass er sich nicht das Leben nehmen wollte.
«Es war noch nicht Zeit, mein irdisches Leben zu verlassen» Christoph Schmid erlitt einen Unfall, den man keineswegs als gewöhnlich bezeichnen kann. Mitte Februar 2008 fiel der damals 43-Jährige aus einem fahrenden Zug. Was genau geschah, weiss niemand, am allerwenigsten er selbst. Text: Svenja Fellmann / Bilder: Fabienne Felder
Christoph Schmid arbeitet im Teilpensum im technischen Dienst einer Privatklinik. Er lebt in Adligenswil nahe Luzern und ist Vater von zwei Kindern. Das klingt nach einem ruhigen Leben. Doch hinter diesem Mann steckt eine beinahe unglaubliche Geschichte. Angefangen hatte alles im Oktober 2007, als er von einem Tag auf den anderen nicht mehr arbeiten gehen konnte. «Meine Burnout-Erkrankung hat meine Familie stark geprägt und auch belastet», meint er kopfschüttelnd. Es kam vor, dass er vor sieben Paar Schuhen stand und sich nicht entscheiden konn-
te, welche er anziehen wollte. «Ich würde mich schon als Perfektionist bezeichnen, als einen, der alles so gut wie möglich machen und es immer allen Recht machen will.» Er ist überzeugt, dass diese Eigenschaft an der damaligen Situation mitbeteiligt war.
Verhältnis zueinander und telefonieren auch mal», erklärt Schmid. Zum Zeitpunkt ihrer Trennung war der ältere, damals 16-jährige Sohne gerade im Ausland, weshalb es ihnen nicht möglich war, ihm die Nachricht persönlich mitzuteilen. Während Schmid darüber spricht, wie sein Sohn die Psychischer Zusammenbruch Nachricht erhalten und wie er sie Von seiner Frau habe er während aufgenommen hatte, stehen ihm seiner Krankheit und nach seinem Tränen in den Augen. Traurig Unfall immer eine grosse Unter- macht ihn vor allem die Tatsache, stützung erhalten. Seit zwei Jah- dass er im Moment kaum Konren leben sie jedoch getrennt und takt zu seinen Kindern hat. Seine sind seit einigen Monaten geschie- Familie sei auseinandergebroden. «Heute haben wir ein gutes chen, so Schmid.
21
Nach einigen Wochen zu Hause befand sich Schmid drei Monate in einer psychiatrischen Klinik, um seine Burnout-Erkrankung zu behandeln. Anschliessend, immer noch arbeitsunfähig, schien ihm der Schritt nach Hause zu gehen zu gross und er entschloss sich zu einem vierwöchigen Aufenthalt im Delta-Huus in Büron (LU), einer Institution für begleitetes Wohnen. Am Montagmorgen in der vierten und letzten Woche seines Aufenthaltes im Delta-Huus entschied sich Christoph Schmid, ins Tessin zu fahren. Nachdem er mit den anderen Bewohnerinnen und Be-
«Vielleicht ist es besser, wenn ich nicht weiss, was passiert ist.»
Das Leben ist voller unerwarteter Wendungen. Dies gilt besonders für das Leben von Christoph Schmid.
wohner gefrühstückt hatte, stieg er, ohne dies jemandem mitgeteilt zu haben und ohne ein bestimmtes Ziel, in sein Auto. «Ich hatte Schuldgefühle und das Leben kotzte mich an. In meiner Vorstellung malte ich mir aus, die Versicherung käme zu mir und würde sagen, ich bekäme kein Geld mehr, ich solle gefälligst arbeiten. Ich hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, weil ich nicht arbeitete.» Glück und Bewahrung Warum er genau ins Tessin fuhr, weiss er selbst nicht. Achselzuckend meint er, für die Schweizer sei das Tessin vielleicht ein Synonym für Ferien. Er habe sich jedenfalls sofort besser gefühlt und aufatmen können. Als dann schliesslich in Bellinzona der Tank leer war, entschied er sich, mit dem Zug weiterzureisen. In diesem Zug war es noch möglich, die Fenster bis zur Hälfte zu öffnen. «Dass ich in genau diesen Zug gestiegen bin, war reiner Zufall. Mein Tank hätte auch früher oder später leer sein können», erzählt Schmid. Daran, dass er diesen Zug nicht mehr zu Fuss verlassen würde, hatte Schmid nicht im Traum gedacht. Und erst recht nicht, dass er wenige Zeit später bewusstlos neben den Geleisen irgendwo
22
zwischen Bellinzona und Locarno liegen würde. Drei Meter neben einem Strommasten, 15 Meter entfernt von einem tiefen Bachbett. Trotz seiner zahlreichen lebensgefährlichen Verletzungen hatte er Glück. Wäre er nur den Bruchteil einer Sekunde früher aus dem Zug gefallen, wäre er vermutlich tot gewesen. «Ich möchte nicht von Glück sprechen. Es ist Bewahrung – die Zeit, mein irdisches Leben zu verlassen, war noch nicht gekommen.» Gedächtnisverlust Ab dem Moment, in dem er in den Zug gestiegen sei, habe er keine Erinnerungen mehr. In der Medizin wird dieses Weggetreten-Sein, das Schmid zusammen mit Schuldgefühlen erlebte und das dazu führte, dass er ziellos Richtung Tessin fuhr, als ein dissoziativer Zustand beschrieben. «Die Ärzte meinten, wenn meine Erinnerungen nach drei Monaten nicht zurückkgekehrt seien, werden sie nie wieder kommen.» Und sie behielten Recht: Bis heute, fünfeinhalb Jahre später, kann er sich nicht an den Unfallhergang erinnern. Er kann sich an eine kurze Szene im Spital in Lugano erinnern, wo er mit der Rega hingeflogen wurde. Seine Frau und sein Bruder standen bei ihm am Spitalbett. Sein normaler Erinnerungsvermögen kehrte aber erst einige
«Dass ich in genau diesen Zug gestiegen bin, war reiner Zufall.» Tage später im Luzerner Kantonsspital zurück. «Das Blackout ist ein natürlicher Schutzmechanismus des Gehirns bei einem Schädelhirntrauma mit einer Hirnblutung. Vielleicht ist es besser, wenn ich gar nicht weiss, was passiert ist.» Denn würde er sich erinnern, könnte er von Albträumen verfolgt werden. Allerdings meine er sich zu erinnern, eine Person im Wagen gesehen zu haben. Entdeckt wurde er vom Lokführer des nachfolgenden Zuges
eine gute halbe Stunde nach dem Geschehnis. Dieser bot daraufhin die Bahnpolizei auf. Schmid hatte schwere Rücken- und Hirnverletzungen, einen Becken- und Schulterblattbruch und eine schwere Hand- und Fussverletzung erlitten. Nachdem er einige Tage im Spital von Lugano notverarztet worden war, flog man ihn mit der Rega ins Luzerner Kantonsspital. Dort wurde er rund zehnmal operiert und musste fast siebzehn Wochen auf der Station der Chirurgie und der Rehabilitation bleiben. Umdenken und Neugestaltung Als er schliesslich wieder entlassen wurde, standen Physiotherapie, Neuropsychologie, Neurologie und andere Arzttermine auf seinem Tagesplan. Da er noch nicht arbeiten konnte und dadurch viel Zeit hatte, war es wichtig, diese gut zu nutzen. «Ich machte mir selber eine Tagesstruktur. Jeden Morgen stand ich früh auf, um mit meiner Familie zu frühstücken.» Gewisse Dinge nehme er heute bewusster wahr als früher, und in einigen Bereichen habe er an Lebensqualität gewonnen. Er wird aber nie wieder in der Lage sein, uneingeschränkt zu arbeiten. Seine beiden Kinder, die mittlerweile 14- und 18-jährig sind, sieht er selten oder gar nicht mehr. Er lebt nun allein. «Man sagt so einfach: ‹Das Leben geht weiter› und ‹die Zeit heilt alle Wunden›. Aber für die Betroffenen ist es schwierig, den Umgang mit der neuen Situation zu lernen.» Schmid war früher ein begeisterter Sportler. Er hat viele Jahre Handball gespielt und in seiner Freizeit mit Freunden Triathlone gemeistert. «Wenn ich spät dran bin, kann ich jetzt nicht mehr einfach schnell zur Bushaltestelle laufen.» Aber er hat gelernt, sich nicht darauf zu konzentrieren, was er nicht mehr kann, sondern auf das, was er noch kann. Schwimmen zum Beispiel. Oder im Fitnessstudio trainieren. Seine Hirnverletzung hat Auswirkungen auf seine Konzentra-
tionsfähigkeit und auf die kognitiven Fähigkeiten. «Ich ermüde viel schneller als vor dem Unfall.» Dies hat grosse Auswirkungen auf seine beruf liche Tätigkeit. Es brauchte viel Zeit und Geduld, im Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen und sein Arbeitspensum auszutarieren. Dabei wurde er vom Zentrum für beruf liche Abklärung begleitet und unterstützt. Frage der Unfallursache Auf die Frage, ob es ein Suizidversuch gewesen sein könnte, antwortet Schmid mit ruhiger Stimme: «Diese Frage habe ich mir tatsächlich oft gestellt. Und ich glaube, dass viele Leute an Suizid denken, wenn sie hören, einer sei aus dem Zug gefallen. Ein Suizidversuch ist wahrscheinlich die naheliegendste Erklärung, wenn man von meiner Geschichte hört.» Er selbst aber weiss, dass er sich nicht das Leben nehmen wollte. Trotzdem konnten ihn die Ärzte, wie er selber sagt, etwas beruhigen, als sie ihm mitteilten, dass ein Suizidversuch aufgrund des
Christoph Schmid weiss nicht, was passiert ist. Auch die Ärzte können über seinen Fall nur spekulieren.
Er hat gelernt, sich auf das zu konzentrieren, was er noch kann. Unfallhergangs auszuschliessen sei. So konnte er sich selbst und all den Zweifelnden in seinem Umfeld eine Erklärung geben, die zwar längst nicht erklärt, was wirklich passiert ist, aber zumindest einen Suizidversuch ausschliesst. Den Humor nicht verloren Was damals wirklich geschehen ist, wird er wohl nie erfahren. «Ich habe aufgehört, mir Gedanken darüber zu machen, wenn man wahrscheinlich sowieso nie eine Erklärung finden wird.» Seinen Humor scheint Schmid trotz allem nicht verloren zu haben. Während des Gesprächs fiel ab und an ein lustiger Spruch. Und ob er jemals Angst hatte, wieder Zug zu fahren? «Nein, das war nie ein Problem. Ich fahre heute regelmässig Zug und das macht mir nichts aus.»
23
Stolz ohne Vorurteil Vor fünf Jahren begann das Projekt in der Pfarrei Allschwil: Kostenlose Deutschkurse für diejenigen, die ohne Deutschkenntnisse in die Schweiz gekommen sind. Wie die vietnamesische Studentin Phuoc das Erbe eines deutschen Jesuiten mit am Leben hält und Improvisation das Überleben des Projektes sichert. Text: Anna Riva / Bilder: Katharina Good
Die biblische Legende vom Turm zu Babel erzählt von einem goldenen Zeitalter, in dem alle Menschen die gleiche Sprache redeten. Wer die Allschwiler Pfarrei St. Peter und Paul betritt, taucht in jene mythische Vergangenheit ein. In der Kirche stehen lauter Menschen mit den disparatesten Aussehen; mandelförmige Augen und Ebenholzhaut ringen um die Vorrangstellung der Exotik. Und doch ist die Sprache, in der die Unterhaltung stattfindet Deutsch. Denn mit dem Anfang des Universitätssemesters hat der kostenlose Deutschkurs für Migrantinnen und Migranten wieder angefangen. Die zwei lächelnden Jungen Mohammed und Hossein, beide 19-jährig, kommen aus Afghanistan und lernen seit zwei Jahren Deutsch. Sie sind 2011 mit Flüchtlingsstatus in die Schweiz gekommen und haben sich erst auf helvetischem Boden kennengelernt. Wie die anderen 50 Schülerinnen und Schüler hier sind sie auf dem mühsamen Weg der Integrati-
on. Ein Weg, der mit der Sprache beginnt. Dass ihr gutes Deutsch Frucht harter Arbeit ist, wird durch ihre Erzählungen klar. Auf den Kurs sind die zwei jungen Männer von einem Leiter in der Asylunterkunft von Allschwil (BL) aufmerksam gemacht worden. Das Angebot soll eine gute, intensive Sprachübung neben dem regelmässigen Besuch der Basler Schule «Brückenangebote» sein. «In diesem Kurs können wir viel
Afghanistan noch die Schule besucht. Hossein war sogar Analphabet, als er in die Schweiz gekommen ist», erzählt Mohammed. Hossein hat erst das Alphabet und die lateinische Schrift in einem entsprechenden Kurs lernen müssen, bevor er sich mit Deklinationen und Konjugationen befasste. Auf die Frage, was er am Kurs ändern würde, antwortet Hossein: «Ich würde gerne mehr Platz haben. Hier ist es manchmal schwierig zu lernen.» Hossein hat Recht. Der kleine Raum ist zu eng für die «Wir alle lernen zahlreichen Lernwilligen. Doch er, Mohammed und all die andern in etwas von Migrantinnen der Pfarrei, Schülerinnen, Lehrerund Migranten.» personen und Verantwortliche, beweisen mit ihrer blossen Anwesensprechen», sagt Mohammed be- heit einmal mehr: Wo ein Wille ist, geistert, «daher ist es ein guter ist auch ein Weg. Dieser Erkenntnis stimmt auch Kurs. Die Schülerinnen, Schüler und Lehrpersonen sind nett und Christoph Albrecht, jesuitischer Pfarrer und Leiter des Kurses, zu. interessieren sich für uns.» Ihre guten Deutschkenntnis- Die Infrastruktur lasse zu wünse sind umso bewundernswerter, schen übrig. «Aber der improviwenn man um ihren damaligen sierte Charakter hat auch seinen Bildungsstand weiss. «Ich habe in Charme. Was wir machen, tun
Manche kennen zu Beginn nur eine Handvoll deutscher Wörter. Andere nicht einmal das Alphabet.
24
Ein Teil der Unterrichtsplanung geht von den Teilnehmenden aus. Sie bestimmen bei der Themenwahl mit, das zahlt sich unmittelbar mit mehr Lernfreude aus.
lig und müssen für jede Sitzung viel vorbereiten», so Albrecht. Die Einstufung der Schülerinnen und Schüler läuft wie folgt ab: Anfangs werden die Teilnehmenden in drei Gruppen unterteilt: Fortgeschrittene, Anfänger Eine Impfung gegen Xenophobie und diejenigen, die das Alphabet Der Kurs scheint trotzdem viel Er- noch nicht kennen. An den späfolg zu haben: Einst die Idee ei- teren Abenden werden dann die nes deutschen Jesuiten, rühmt sich Gruppen nach Bedarf noch weidas nun fünfjährige Projekt in die- ter unterteilt, bis sich einigermassem Semester mit 50 Schülerinnen und Schüler aus aller Welt, «Der improvisierte zehn Lehrpersonen und zwei passionierten Leitern. Werbung wird Charakter hat auch über Facebook, Plakate, Flyer und seinen Charme.» Mund-zu-Mund-Propaganda gemacht. Die Kurszeiten folgen dem Uni-Semesterplan, was nach Alb- sen homogene Klassen gebildet recht einerseits wegen der langen haben. Für jede Klasse sind zwei Pause schade ist, andererseits aber Lehrpersonen verantwortlich. Auf zur Motivation beiträgt. Der Kurs die Frage, wieso sich nur Frauen wird einmal pro Woche während als Lehrpersonen melden, antworzwei Stunden angeboten. «Mehr- tet Albrecht mit Hypothesen und mals wöchentlich wäre zu viel. Die Beobachtungen: «Allgemein arLehrpersonen – ausschliesslich Stu- beiten im Asylbereich mehr Fraudierende – engagieren sich freiwil- en als Männer. Und beim freiwilliwir aus Überzeugung und umserem Glauben. Und das kommt in solchen räumlichen Verhältnissen deutlicher hervor, als wenn wir finanzielle Unterstützung vom Staat hätten.»
gen Engagement beschäftigen sich Männer mehr mit Technik als mit Menschen, im Gegensatz zu Frauen. Ausserdem wirkt vielleicht die Tatsache, dass die meisten Schüler hier Männer sind, faszinierend auf das weibliche Geschlecht.» Und wieso sind die Kursteilnehmenden vorwiegend Männer? «Es migrieren insgesamt mehr Männer als Frauen.» Der Kurs hat ein Männer-Frauen-Verhältnis von 60 zu 40. Die meisten Frauen würden sich nicht trauen, zu kommen, sie seien weniger mobil und müssten sich um ihre Kinder kümmern, sagt Albrecht. «Doch seitdem wir die Kinderkrippe gegründet haben, besuchen glücklicherweise immer mehr Frauen den Kurs. Und Frauen ziehen Frauen nach.» Nach den Gründen befragt, warum er sich für ein solches Projekt einsetze, sagt Albrecht: «Ich möchte einen Beitrag zur Integration leisten. Die staatliche Sparpolitik funktioniert leider so, dass Flüchtlinge am stärksten betrof-
25
fen sind.» Es sei wichtig, dass die Schweizerinnen und Schweizer sensibilisiert werden: «Wir alle lernen etwas von Migrantinnen und Migranten. Es ist eine wichtige Erfahrung für alle und gleichzeitig eine Impfung gegen Xenophobie.»
Phuoc stammt aus Vietnam. «Einige Flüchtlinge haben viel durchgemacht. Dadurch merke ich, wie viel Glück ich in meinem Leben habe.»
Das Glück, freiwillig zu geben Der Kurs zieht Ausländerinnen und Ausländer nicht nur als Schülerinnen und Schüler, sondern auch als Lehrpersonen an. Zum Beispiel Phuoc, eine vietnamesischer Studentin, die sich für das Projekt mit Leidenschaft und Enthusiasmus einsetzt. «Ich liebe es, mich freiwillig zu engagieren. Es macht mich stolz und glücklich. Und als ausländische Studentin brauche ich menschliche Kontakte ausserhalb der Uni.» Die meisten Schülerinnen und Schüler sind offen und erzählen manchmal ihre Geschichten. Das sei interessant, könne aber auch traurig werden. «Einige haben wirklich viel durchgemacht, haben am Anfang ihres
Aufenthaltes in der Schweiz auf der Strasse geschlafen. Dadurch merke ich, wie viel Glück ich in meinem Leben habe. Ihre positive Einstellung hilft mir oft durch den Alltag». Phuoc teilt sich eine zwölfköpfige Anfängerklasse mit einer anderen Lehrerin. Den Unterrichtsinhalt können sie selber bestimmen. Trotz dem Spass und der Lernlust der Schülerinnen und Schüler ist die Arbeit anstrengend. Phuoc bereitet sich während einer bis zwei Stunden auf die Sitzung vor. Das sei nicht unbedingt viel, aber mehrmals pro Woche würde sie es nicht schaffen». Ob sie manchmal von der vielen Arbeit müde sei und überlege, damit aufzuhören? «Ja, ab und zu überlege ich es mir schon. Aber wenn die Leute nach dem Unterricht zu mir kommen und mir auf Deutsch sagen: ‹Danke, bis nächste Woche›, dann ist es für mich sehr schön. Und ich sage auch: ‹Danke, bis nächste Woche›.»
Seit es eine interne Kinderkrippe gibt, besuchen immer mehr Frauen den Deutschunterricht.
26
Impressum Herausgeber
Tink.ch Sandstrasse 5 CH-3302 Moosseedorf Tel +41 31 850 10 91 Fax +41 31 850 10 21 info@tink.ch www.tink.ch Chefredaktion
Michael Scheurer, Kaspar Rechsteiner Texte
Bilder
Daniel Barnbeck, Fabienne Felder, Matthias Käser, Katharina Good, Helen Dahdal, Oliver Hochstrasser Korrektorat
Melanie Bösiger, David Naef Layout
Daniel Barnbeck, Katharina Good
Anita Béguelin, Anna Riva, Matthias Strasser, Michel Arduin, Helen Dahdal, Verlagsleitung Oliver Hochstrasser, David Naef, Svenja Fellmann, Stefan Mettler, Daniel Barnbeck Michael von Dach, Vivienne Kuster
Druck
Typoart AG Bollstrasse 61 CH-3076 Worb Ausgabe
Nr. 13 / November 2013
Auflage
2000 Exemplare
Abo und Inserate
Tink.ch Printabo Sandstrasse 5 CH-3302 Moosseedorf magazin@tink.ch www.tink.ch/print
Machen Sie sich das schönste Geschenk: Schneespass in Davos Klosters. Für jede Übernachtung in einem Partnerhotel oder in einer Ferienwohnungsagentur in Davos oder Klosters erhalten Sie den Skipass für die Skigebiete Jakobshorn/Parsenn bis zum 22. Dezember 2013 geschenkt.
FÜR JEDE ÜBERNACHTUNG
Jetzt Superangebote checken: www.davos.ch/ski www.klosters.ch/ski
27
Bild: Matthias Käser
Video von Elina Grünert, Oliver Hochstrasser, Sina Kloter, Adam Keel, Vivienne Kuster
Bundespräsident Ueli Maurer glaubt nicht daran, dass junge Menschen anders politisieren als ältere. Tink.ch sprach mit ihm über die Bedeutung der Jugend in der Politik und gab einige Tipps für Nachwuchspolitikerinnen und Nachwuchspolitiker. Podcast: Michelle Stirnimann, Matthias Strasser, Emma Kohler Im Online-Magazin:
Eidgenössische Jugendsession in Bern
Die Jugendlichen sind gezwungen, aufeinander zuzugehen. Sonst gehen ihre Petitionen bachab.
200 Jugendliche aus der ganzen Schweiz trafen sich vom 14. bis 17. November in Bern, um gemeinsam Lösungen für aktuelle politische Themen zu erarbeiten. Tink.ch berichtete live mit einer viersprachigen und multimedialen Eventreportage. www.tink.ch/juse2013
Podcast: Sina Kloter, Matthias Strasser, David Naef
Tink.ch Magazin bestellen
Strasse, Nr. PLZ, Ort Telefon / E-Mail Lieferadresse Rechnung per E-Mail Rechnung per Post
Senden an: Tink.ch Printabo, Sandstrasse 5, CH-3302 Moosseedorf
28
Hast du den anderen auch etwas zu erzählen?
Und bist du zwischen 16 und 30 Jahre alt? Dann wartet Tink.ch auf deine Geschichte. Für unser Magazin, egal ob Print oder Online, suchen wir neugierige junge Leute mit Schreibtalent oder einem guten Auge für Fotografie und Grafik. Werde auch du Teil des grössten Jugendmagazins der Schweiz unter www.tink.ch
Vorname, Name
Jahresabo für 20.00 CHF (4 Ausgaben) Einzelabo für 6.00 CHF (1 Ausgabe)
«Dini Muetter», «Bullshit» und «Hä?» Mit diesen Ausdrücken wollen die Organisatoren der Jugendsession auch ältere Generationen erreichen.
Wo Journalismus beginnt