Raubkunst in Bern
Wie Entartete Kunst aus Deutschland in die ganze Welt wanderte. Seite 20
Laulu- ja Tantsupidu
Patriotismus verbindet sich in Estland mit Singen und Tanzen.
Seite 10
Schweizer Roma 100 000 Roma leben in der Schweiz. Auf der Strasse erkennt man sie nicht. Seite 6
Ausgabe Nr. 16 | 3 / 2014 | CHF 6.00 (Schweiz) | CHF 9.00 (Ausland)
Wo Journalismus beginnt
Impressum Redaktion
Michael Scheurer (Chefredaktor) Kaspar Rechsteiner (Stv. Chefredaktor) Sina Kloter (Stv. Chefredaktorin) Manuela Paganini (Leitung Layout und Bild) Text
Sandro Bucher Rade Jevdenić Kaspar Rechsteiner Mathias Plüss (Gast) Peer Gahmert (Gast) Philipp Feldhusen (Gast) Céline Graf Sina Kloter Yara Gut Daniel Barnbeck Bild
Olivier Christe Kaspar Rechsteiner Yves Haltner Saverio Stolfa Katharina Good Daniel Barnbeck
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Layout
Manuela Paganini Anina Guntli Daniel Barnbeck Yves Haltner Oliver Hochstrasser Katharina Good Korrektorat
André Müller Titelbild
Daniel Barnbeck Editorialbild
Gian-Luca Frei
Verlagsleitung
Daniel Barnbeck
Ausgabe
Nr. 16 / September 2014
Auflage
1000 Exemplare
Editorial Liebe Leserinnen und Leser Was macht eigentlich die Identität eines Volkes aus? Wir Schweizer können uns auf Berge und Tradition, Neutralität und mehr berufen. Bei den in der Schweiz lebenden Roma ist die Frage schon schwieriger. Und wie definieren sich Estinnen und Esten, die erst seit 23 Jahren wieder ein souveränen Staat führen? Wir geben Einblick in zwei Völker: Die durch negative Meldungen aus den Medien bekannten Roma und die eher unbekannten Estinnen und Esten. Wir stellen auch andere wichtige Fragen. Wem gehört die Raubkunst aus der NS-Zeit? Wie wird man als Hosenträgerverkäufer zur Legende? Und wie war das mit der Wurst und den zwei Enden? Ab dem Herbst gibt es in der Redaktion des Printmagazins einige Veränderungen. Chefredaktor Michael Scheurer nimmt sich eine Auszeit für ein Praktikum beim «Bund». Für ihn übernimmt Sina Kloter, bisher stellvertretende Chefredaktorin. Kaspar Rechsteiner übernimmt neu die Gesamtleitung des Printmagazins. Aber nicht nur personell stehen Veränderungen an. Vor einem Jahr verliehen wir dem Printmagazin ein neues Design. Inzwischen studieren wir bereits am nächsten grossen Coup. Im Dezember-Magazin rücken wir dann auch mit der Sprache raus. Bis dann – Viel Vergnügen! Manuela Paganini und Kaspar Rechsteiner Leitung Layout und Leitung Print
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Inhalt
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2014
16 Roma in der Schweiz 6
Fahrende gehören zu der ärmsten Schicht: Intoleranz und Verachtung bestimmen ihren Alltag.
Ist Patriotismus rechts? 8
Heimat besteht nicht nur aus unseren Erinnerungen, sondern unserer Innovation und Interaktion.
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30 000 Sänger
Alle fünf Jahre kommen über 10 Prozent aller Estinnen und Esten zu einem riesigen Volksfest zusammen, das sich mit keinem in der Schweiz vergleichen lässt.
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100 Jahre Neugier
Journalist Mathias Plüss über seine ältesten Interviewpartner und was er von ihnen abgeschaut hat.
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20 6
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26 17 Kurztipps
Vom Wahnsinnsfilm bis zum schwedischen Architekten: Goldfinger sind einfach genial.
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Geofiction
Eine Gruppe baut im Internet an einem neuen Planeten. Mit Fantasy hat das nichts zu tun.
«Verwertbarer» Rest 20
Wie Hitlers Ideologie zahlreiche Kunstwerke aus deutschen Museen in die ganze Welt verbannte.
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Beim Feierabendbier
Das Sterben der Flohmärkte und Bienenvölker: Beim Bier ist klar, wie alles zusammenhängt.
Legende aus dem Bündnerland
Vom Kantonsrat bis zum Mechaniker kennt jeder den alten Hitsch. Er verkauft Socken, Hosenträger und erzählt.
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«Es reicht schon Jugo zu sein»
Mit mehr als zehn Millionen Menschen bilden Roma die grösste transnationale Minderheit. Obwohl die Völker seit 1200 Jahren mitten unter uns leben, gelten sie bei vielen Europäern als ehrlose Diebe und Verbrecher, die in unsere Zivilisation eindringen. Im Gespräch mit Tink.ch erklärt Stéphane Laederich, Direktor der Rroma Foundation Schweiz, wie es tatsächlich um die Roma in der Schweiz steht. Sandro Bucher
Ob durch die Besetzung der kleinen Allmend in Bern Ende April oder durch mediale Hexenjagden rechtspopulistischer Schweizer Medien: Die Roma sind zurück im Bewusstsein der Schweizer. Die Bevölkerungsgruppen, die ihre Wurzeln im Nordwesten Indiens haben, sind seit dem fünften Jahrhundert ohne Land. Von barbarischen Königen unterdrückt und von Kriegen vertrieben sind die Roma heute eine transnationale Minderheit abseits von nationalistischen Bewegungen.
Doch ob Ost-, Mittel- oder Westeuropa, ob Rom, Sinti oder Jenische: Die Völker gehören zu den ärmsten Schichten der Gesellschaft. In der Schweiz nicht im wirtschaftlichen, jedoch im gesellschaftlichen Sinne: Intoleranz, Verachtung und Hass bestimmen ihren Alltag.
Salonfähige Missachtung Der 53-jährige Stéphane Laederich ist Banker, Mathematikprofessor und Rom. Der Direktor der Rroma Foundation Schweiz kennt die Vorurteile und DisEin Volk auf dem Prüfstand kriminierung gegenüber seinem Volk: «Es ist in der Aktuell leben Roma auf allen Kontinenten. Auch Schweiz und in weiten Teilen Europas absolut salon1500 Jahre nach dem Beginn ihrer Geschichte gelten fähig, sich despektierlich über die Roma zu äussern. sie bei vielen Menschen als fahrendes Volk ohne Va- Ich wurde mehrmals gefragt, ob ich lesen und schreiterland. Die Population der Roma in ihrer Ursprungs- ben kann.» Nach Schätzungen der Rroma Foundation leben form ist besonders in Osteuropa und im Balkan stark ausgeprägt, während sich die «Zigeuner» in Mitteleu- heute 80 000 bis 100 000 Roma in der Schweiz. Seit ropa den sprachlichen und kulturellen Normen ihrer den 60er-Jahren kam ein Grossteil der Roma aus Juneuen Heimat angepasst haben und sich Sinti nennen. goslawien als Gastarbeiter in das Land. Während den
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Das Wohnimmer einer Roma-Familie. Mindestens 80 000 der in der Schweiz lebenden Roma sind sesshaft.
Jugoslawienkriegen in den 90er-Jahren stieg die Zahl der Flüchtlinge nochmals erheblich. Jedes Jahr mehr Hass Das öffentliche Bild der Roma habe sich in den letzten zwanzig Jahren verschlechtert, erklärt Stéphane Laederich. Dieser Trend werde vor allem durch die denunzierenden Darstellungen in den Medien getragen: «Es gibt heute sehr viel mehr Rechtsextremismus und Rassismus in Europa. Wie die Roma in der Presse dargestellt werden, ist durchaus gefährlich.» Die Rroma Foundation leistet zwar aktiv Aufklärungsarbeit, doch sie scheint unerheblich und leer im Vergleich zur medialen Phalanx, die ein Grundgefühl der Geringschätzigkeit in der Bevölkerung herauf beschwört: «Einige Medien vermitteln, dass die Roma ein zu lösendes Problem darstellen. Als man dieses Sündenbockdenken zuletzt im Zweiten Weltkrieg angewendet hat, hat das mit den Juden nicht gut geendet.» «Gegen Roma darf man Dinge schreiben, die man sonst nicht schreiben darf» Bereits mehrmals klagte die Rroma Foundation gegen die verächtliche Berichterstattung gegenüber den Roma, und erhalten dabei auch oft Unterstützung aus der Bevölkerung. Die kontroversen Titelbilder der «Weltwoche» sorgten abermals für Empörung und sind schweizweit in den Medien diskutiert worden. Am 5. April 2012
veröffentlichte das Schweizer Wochenmagazin das Bild eines Kindes, das mit einer Pistole direkt auf den Betrachter zielt. Darunter titelte der stellvertretende Weltwoche-Chefredaktor Philipp Gut «Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz». Der Gang vor den Presserat bescherte der Rroma Foundation aber nur dünn gesäten Erfolg: «Die meisten Klagen werden wieder abgewiesen, so auch die Beanstandung gegen das Kind mit der Handfeuerwaffe. Der Presserat kam zum Urteil, dass solche implizite Darstellungen weder relevant noch rassistisch seien. In Deutschland würden die Autoren der Artikel rechtlich als Rassisten gelten. Aber in der Schweiz darf man Dinge schreiben, die man gegen andere Minderheiten nicht schreiben darf. Allgemein sind in der Schweiz viele Dinge noch absolut akzeptabel, die in Deutschland längst unter Strafe stehen.» Das Problem seien allerdings nicht nur Zeitungen, die offen politisch Stellung beziehen: «Alle Zeitungen sind ähnlich. Dieselben Argumente wie in der Weltwoche findet man auch in den gängigsten Tageszeitungen. Gewisse machen es gezielt, um zum Beispiel gegen das Freizügigkeitsabkommen zu kämpfen, aber bei den meisten ist es eigentlich nur unüberlegt.» Rote Köpfe in der Romandie Besonders in der welschen Schweiz kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen ansässigen Schweizern und Roma. Eine besonders konfliktreiche Zeit war der Sommer vor zwei Jahren. 2012 schlugen die
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Roma in den Medien über mehrere Monate hohe ren sie nie ein Teil solidarischen Regierung. Die ReWellen, als sie in Allaman VD eine ganze Wiese be- pression und Freiheitsberaubung widerspiegelt sich setzten. Die empörten Anwohner riefen die Polizei, bis heute in ihren Ansichten, und resultierte in der Indie den Grundbesitzer stoppen musste, da dieser Jau- standhaltung einer Roma-internen «Sippen-Politik»: che auf die 40 Wohnwagen spritzen wollte. «Je älter man ist, desto respektierter wird man in der Wenige Wochen später kam es im Walliser Col- Roma-Gesellschaft. Wenn man Familien- oder Gelombey-Muraz zu einem aufsehenerregenden Zwi- schäftsprobleme mit anderen Roma hat, dann regelt schenfall, als eine Roma-Hochzeitsgesellschaft wäh- man das mit einer internen Schlichtung mit älteren rend den Feiern ein Feld verwüstete. Zusätzlich Roma, die als Friedensrichter fungieren. klagten viele Anwohner über eine Zunahme der Kriminalität während den Festivitäten. In der Folge er- Rein und unrein mächtigte die waadtländische Sicherheitsdirektorin Ein wichtiger Brauch der Roma-Gesellschaft umJacqueline de Quattro zum ersten Mal in der Schweiz, spielt die Begriffe «rein» und «unrein». Damit ist aber ein Roma-Zeltlager wenn nötig mit Gewalt zu räu- nicht die äusserliche Sauberkeit der Roma gemeint. men. Viel eher geht es dabei um die Definition von «unrei«In der Westschweiz wird mehr über das The- nen» Gegenständen, Handlungen und Gedanken, die ma Minderheiten gesprodie Seele eines Rom beflechen, doch die Roma-Procken können. Eine unreine «Niemand hat gemerkt, dass in der blematik ist genauso wenig Person kann, je nach HärSchweiz 80 000 bis 100 000 Roma beständig wie in der restlite des Vergehens, auf Dauchen Schweiz.» Laederich er von der Gesellschaft ausleben, denn die haben es nie in die verweist dabei auf die letztgeschlossen werden und bis Presse geschafft.» jährige Studie vom Lausanauf weiteres nicht mehr an ner Professor für Soziologie, ihrem Leben und ihren ZeJean-Pierre Tabin, der ein Jahr lang alle Bettler der remonien teilnehmen. Auch lebenslanger Ausschluss Stadt Lausanne begleitet hat. «In der 125 000-Ein- kann bei besonders schlimmen Vergehen ausgesprowohner-Stadt Lausanne gab es nie mehr als 60 Bett- chen werden. ler, und davon sind nicht alle Roma. Die Problematik ist also praktisch inexistent, und wird lediglich von «Es reicht schon, Jugo zu sein» der Presse und gewissen rechtspopulistischen Partei- Stéphane Laederich fühlt als Direktor der Rroma en hochgeschraubt.» Foundation den Puls Schweizer Roma so gut wie kein anderer. «Roma integrieren sich eigentlich immer, «Man macht alles für seine Familie» doch dazu müssen sie die Möglichkeit bekommen. Das Stigma der Herkunft hat für die Roma lange Tra- Nur in vielen Ländern gibt man ihnen die Möglichdition. «Die alten Stereotypen werden einfach raus- keit nicht.» gespuckt, ohne nachzudenken. 600 Jahre Geschichte Seit Jahren widmet sich die Rroma Foundation gekann man leider nicht in ein paar Jahren wieder um- nau dieser Aufgabe. Aber auch als Aussenstehender biegen.» kann man viel zur Akzeptanz des Volkes beitragen: Die öffentliche Ausgrenzung schweisst zusammen, «Niemand hat gemerkt, dass in der Schweiz 80 000 die Ablehnung wird umfunktioniert zum zentralen bis 100 000 Roma leben, denn die haben es nie in die Band, das die Roma zusammenhält. «Die Familie ist Presse geschafft. Täglich begegnen Schweizern Rom, für die Roma sehr wichtig. Man macht alles für sei- aber sie merken es nicht.» Roma unterscheiden sich nicht von anderen Bevölne Familie.» Der Gemeinsinn und die Verbundenheit werden dabei zusammengehalten mit dem Erhalt kerungsgruppen, so, dass sie im Alltag einen Mantel von Bräuchen und Traditionen. «Die Sprache ist ein der Anonymität über ihre Ethnie werfen können und Grossteil davon. Unsere Kultur ist weder national ge- teilweise auch müssen. Doch auch privat entscheiprägt noch basiert sie auf einer gemeinsamen Religion, den sich viele Roma gegen den offenen Dialog über aber sie ist trotzdem stark vorhanden und in unserer ihre Herkunft. «Roma verheimlichen ihre Ursprünge aus Angst, ihre Arbeit und ihre Freunde zu verlieIdentität verankert.» Die Geschichte hat gezeigt, dass auch andere Staa- ren. Viele meiner Freunde sehen ihre Roma-Identität ten den starken Zusammenhalt der Roma innerhalb deshalb nur noch als ein sekundäres Gesicht. Ein guihres Landes als furchtsam beäugten und gefährlich ter Freund von mir ist Banker und sagt er sei Pakistabetrachteten. Die Folge davon waren Zwangsassimi- ni. Ein weiterer ist Architekt und sagt er ist Armelierungen in mehreren Ländern. «Besonders schlimm nier. Ein anderer ist Arzt und sieht sich als Jugoslawe. war das in Ungarn, als die Sprache und die Tradition Letzterer hat mir einmal sehr passend gesagt: «In der Schweiz reicht es bereits, Jugo zu sein. Da muss man zwei Jahrhunderte lang bewusst verboten wurden.» sich nicht auch noch als Roma zu erkennen geben.» Herrschaft des Ältestenrats Darum ist die Akzeptanz und das Nachdenken über Seit eh und je werden Roma in Westeuropa unter- die Roma das Allerwichtigste für eine erfolgreiche drückt. Auf ihrem steinigen Weg durch die Welt wa- Integration.
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Heimat besteht in Erinnerungen und Traditionen. Aber auch im Ausblick auf die Zukunft.Illustration: Katharina Good
Punkt CH Patriotismus scheint seit jeher mit nationalkonservativen Parteien eng verbunden zu sein. Auch in Internet-Communities, etwa auf Facebook, werden patriotische Ideale mit rechtspopulistischen Ideen verbunden. Es gibt aber auch einen anderen Patriotismus. Kommentar von Rade Jevdenic
Ist Patriotismus rechts? Vielen Patrioten wird ein konser- hat sich denn auch vor allem das Schüren von Angst vativer und zuweilen auch rassistischen Ruf nachgesagt. und Distanz gegenüber anderen Ethnien etabliert. Wenn etwa Minarette auf Plakaten die schweizeriVielleicht weil sie Patriotismus falsch verstehen. sche Fahne durchbohren. Man bekommt den EinAntirassismus auf Abwegen druck, für viele Patrioten sei Heimat ein Platz für ein Mit rund 14 000 Usern auf Facebook ist Patriot.ch die paar Wenige, Gleichdenkende. mitgliederstärkste Online-Community für Patrioten in der Schweiz. Die Seite sieht sich selbst trotz rechts- Patriotismus richtig machen populistischem und nationalkonservativem Inhalt als Ein moderner und konstruktiver Patriotismus will antirassistisch. Die permanente Betonung der antiras- prioritär die Heimat weiterentwickeln und befürworsistischen Grundidee und die Selbstabgrenzung von tet das friedliche Zusammenleben der verschiedeNeonazis und Faschisten wird aber von Schnupfsprü- nen Kulturen in der Schweiz. Denn Heimat besteht chen wie «Allah ist mächtig, Allah ist gross, doch in nicht nur in unseren Erinnerungen, sondern auch im der Schweiz ist er arbeitslos» begleitet. Die Doppel- Morgen. Heimat ist formbar und ruft nach Innovatimoral der vermeintlich antirassistischen Seite erreicht on und Interaktion zwischen allen Bevölkerungsgrupihren Höhepunkt in Slogans für die Aufhebung des pen, unabhängig von kulturellem Umfeld oder religiAntirassismusgesetzes. Wie glaubwürdig ist ein Patri- öser Zugehörigkeit. Und so verpassen es Nationalisten immer wieder, otismus, der andere Kulturen nicht respektiert? Besonders problematisch ist, dass viele öffentlich be- zu akzeptieren, dass ihre wirkliche Heimat nicht ihrer kennende Patrioten immer wieder für Schlagzeilen sor- zwanghaft verfolgten Wunschvorstellung eines abgegen, weil sie Beziehungen zu Gruppierungen und Perso- kapselten Landes ohne jeden Bezug nach Aussen entnen von rechts aussen unterhalten. Auch auf Patriot.ch spricht. Zu wenig stehen sie für eine Heimat der Zufinden sich Link-Verweise auf umstrittene Online-Por- kunft ein, zu sehr trauern sie der Heimat von gestern tale wie Politicallyincorrect.com und Keineheimat.ch. nach. Im Kern ist deshalb Rechts-Patriotismus, wie Patriot.ch steht für eine Heimat, die in ihren Facetten am Beispiel Patriot.ch aufgezeigt, völlig unpatriotisch eingeschränkt ist und nur wenig Raum für verschiede- und ethnozentrisch. Ein Patriot ist hingegen, wer aus ne Definitionen nationaler Identität zulässt. Zuneigung zur Heimatregion aktiv versucht, die eiEs geht vielen Patrioten darum, die «ethno-kultu- gene Nation gesellschaftlich, politisch, kulturell und rellen Werte» der Schweiz zu wahren. In der Politik wirtschaftlich weiterzuentwickeln.
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Singend und Tanzend Anfang Juli pilgerten 140 000 Sänger, Tänzer und Zuschauer nach Tallinn, Estland. Alle fünf Jahre feiern die Estinnen un dEsten das «Laulu- ja Tantsupidu», ihr Sänger- und Tänzerfest. Was 1869 mit gut 800 Sängern als Bewegung für nationale Identität begann, ist heute ein Volksfest, wie es in der Schweiz keines gibt. Text und Bilder: Kaspar Rechsteiner
Nach langer Fremdherrschaft ist Estland seit 1991 wieder ein unabhängiger Staat – erst seit 23 Jahren. Verschiedene Staaten herrschten in den vergangenen 500 Jahren über die Estinnen und Esten, zuletzt die Sowjetunion. Nun orientiert sich das Land am Wes-
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ten und trat 2004 der EU bei. Das Land ist nicht reich, doch die Wirtschaft wächst stark und die Internet- und Mobiltelefonbranche ist weit entwickelt: Skype kommt aus Estland, und die Esten können per Internet oder SMS ihr Parlament wählen.
Etwa 1,3 Millionen Menschen leben in Estland. Mehr als zehn Prozent von ihnen (!) strömen alle fünf Jahre nach Tallinn zum Lauluväljak (Sängergrund), davon knapp 40 000 als Tänzer und Sängerinnen. 2014 zum 26. Mal – gerne kämen noch mehr. Doch etliche Chöre und Tanzgruppen überstehen die Bewerbung jeweils nicht. Das Laulu- ja Tantsupidu wirkt auf den ersten Blick stark patriotisch. Hier wird zwar Estland und seine Freiheit zelebriert, es geht aber vor allem ums musikalische Zusammensein. In einem Chor entsteht
mit der Zeit ein besonderes Verständnis füreinander. In Estland singt in jedem 100-Seelen-Dorf mindestens ein Chor. Chorsingen ist Hobby Nummer eins. Und so stimmen die Estinnen und Esten am Laulupidu einfach gerne miteinander Lieder an. Es entsteht dieses besondere Gefühl der Verbundenheit, wenn eine Welle zwischen Chor und Publikum hin- und herwogt, bis der nächste Dirigent oder die nächste Dirigentin das nächste Lied anstimmt. Während drei Tagen Singen und Tanzen entsteht eine Energie – und viel Gänsehaut.
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Hirvo Surva ist ein Star in Estland. Als künstlerischer Leiter des Laulupidu war er dieses Jahr nicht nur für die Auswahl der Chöre mit zuständig, sondern dirigierte auch einige Lieder. Das Singen in der Gruppe ist nicht einfach. Weil sich der Chor
Während in der Schweiz Volksmusik unter Jugendlichen oft verpönt ist, kann davon in Estland nicht die Rede sein. Das Durchschnittsalter der Performer liegt bei 26 Jahren, die jüngsten sind gerade mal sechs-
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jährig, der älteste 97 Jahre alt. Frauen dominieren deutlich. Die Bevölkerungsdichte in Estland liegt bei 30 Menschen pro Quadratkilometer. Während des Festes steigt sie auf dem Lauluväljak auf 52 000.
über hundert Metern in die Breite zieht , entstehen Zeitverzögerungen zwischen den verschiedenen Stimmen. Deshalb muss präzise nach dem Dirigenten gesungen werden. Dieser muss den schwerfälligen Chor mit doppeltem Effort lenken.
Gustav Ernesaks ist eine der Vaterfiguren des Laulupidu. Am Ende jedes Sängerfestes wird sein «Mu isamaa on minu arm» gesungen. «Mein Vaterland ist meine Liebe» ist die inoffizielle Nationalhymne von Estland. Ernesaks hat sie im Zweiten Weltkrieg während seiner Deportation nach Russland komponiert. Heute wacht seine Statue über den Lauluväljak, und dient nicht selten als Sitzgelegenheit.
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Früher machten sich die Performer meist mit regionalen Trachten schön. Heute kleiden sich die Chöre individuell – keine zwei sind gleich. Typisch für fast alle traditionellen Gewänder von Männern wie Frauen sind spezielle, handgewobene Bänder. Sie dienen als Gurte, Stirn- und Schuhbänder oder einfach als Saum.
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Das Tantsupidu (Tänzerfest) ist nicht so gross wie das Laulupidu (Sängerfest). Knapp 10 000 Tänzer proben die Massentänze zu Hause in Gruppen. Erst einige Tage vor
dem Fest finden die ersten gemeinsamen Proben am Aufführungsort statt. Trotzdem fällt dem Zuschauer kaum ein falscher Schritt ins Auge.
Die 140 000 Performer und Zuschauer verlassen nach den letzten Klängen den Lauluväjak schnell. Trotz emotionalem Finale ist das Gelände nach zwanzig Minuten weitgehend leer. Die letzten etwa hundert Sängerinnen und Sänger bleiben auf den Stufen der Bühne sitzen, nehmen sich in den Arm und summen noch eine letzte Melodie. Nach dem grossen Fest bleibt bei manchen eine gewisse Leere zurück.
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Meine beiden Hundertjährigen Es gehört zu den Privilegien des Journalismus, dass man in diesem Beruf immer wieder Leute kennenlernt, denen man sonst nie begegnen würde. Gastbeitrag: Mathias Plüss, Bild: Saverio Stolfa
Ich mag Interviews, und ich mag alte Leute. Nicht «ältere Menschen», nicht «Senioren». Sondern richtig alte. Die etwas erlebt haben. Und etwas erzählen können. Von den vielen Alten, die ich interviewt habe, waren die Interessantesten vielleicht wirklich die allerältesten: Meine beiden Hundertjährigen. Den Evolutionsbiologen Ernst Mayr traf ich kurz vor seinem hundertsten Geburtstag in der Nähe von Boston. Er begrüsste mich schon lachend in der Türe und blieb das ganze Gespräch hindurch witzig, aber auch wach und tiefsinnig. Der russische Baron
Eduard von Falz-Fein war sogar schon 101 Jahre alt, als ich ihn in seiner Villa in Vaduz aufsuchte. Er kann zwar nicht mehr gehen, dafür flirtete er mit der Fotografin, von seinem Liegesofa aus. Und er ist ein blendender Erzähler. Wieso sind die Gehirne der beiden Herren so frisch geblieben? Es gibt eine Gemeinsamkeit: Beide sind bis ins hohe Alter ungemein neugierig geblieben. Ernst Mayr begann, nachdem das Interview vorbei war, mich auszufragen. Und Baron Falz-Fein liess sich, während wir sprachen, gerade ein Internetkabel zu seinem Sofa legen.
Mathias Plüss ist freier Journalist mit Schwerpunkt Naturwissenschaften. Er schreibt hauptsächlich für «Das Magazin» – derzeit eine Gesprächsserie unter dem Titel «Alte Meister». In der «Annabelle» betreibt er eine Kolumne mit unnützem Wissen.
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Ehrliche Tipps Buch Goldfinger (1959) Ein unglaublich spannendes Buch von «James Bond»-Erfinder Ian Fleming, zu dem es auch einen guten Film gibt, der fünf Jahre später mit Sean Connery in der Hauptrolle herauskam. Wahre Kenner wissen aber genau: Das Buch schlägt den Film um Längen.
und lässt sich bis zu achtmal an operieren, wahlweise auch als Golddaumen – dann jedoch bloß bis zu zweimal, sonst sieht es leicht missraten aus. Mit diesem Ersatzkörperteil ist man der Star auf jeder Party!
Band Goldfinger (Punkband) Eine großartige Punkband, verFilm mutlich benannt nach dem gleichGoldfinger (UK, 1964) namigen Buch, dem Film, dem Ein absolutes Meisterwerk! Hier Lied oder Fingerprothese «Goldhat sich der Regisseur zum Glück finger», das weiß keiner so genur lose an die Vorlage von Ian Fle- nau. Vor allem das dritte Alming gehalten. «Goldfinger» sollte bum «Stomping Ground» besticht nun wirklich jeder gesehen haben, durch einen einzigartigen Sound. um mitreden zu können! Zurecht Die Band hat unseres Wissens oscarprämiert; damals bedeutete niemals auch nur einen Preis bedas noch was. Es gibt einfach kei- kommen – schade! Das muss sich nen besseren Agententhriller! ändern, denn ohne diese Gruppe wäre Punk einfach nur laute Lied Musik. Goldfinger (Shirley Bassey, 1964) Ein zeitloser Klassiker, dieser Architekt Song. Ohne ihn wäre der Film Ernö Goldfinger (1902-1987) «Goldfinger» nur der müde Ver- Vollkommen zu Unrecht mit Preisuch eines bedeutenden Actions- sen überhäuft wurde dagegen der treifens. Der Regisseur des Werkes englisch-ungarische Architekt Ernö tat gut daran, das Lied zu verwen- Goldfinger. Kaum jemand hat die den und damit gekonnt von seinen moderne britische Architektur so filmischen Unzulänglichkeiten ab- sehr geprägt wie er (leider). Die zulenken. Die Stimme von Shirley berühmtesten seiner «Werke» steBassey ist Gänsehaut-Garant! hen zum Glück nicht mehr, haben aber eine Zeit lang ein paar Körperteil Straßen in London verunziert. Goldfinger (äußerst selten) Seine Werke sind eine absoluWer noch ein Accessoire sucht, te Beleidigung jeden Auges und seinen Reichtum zur Schau zu jeden Geschmacks – zudem bestellen, dem bietet die Prothese schmutzt sein Name den strahlen«Goldfinger» eine prächtige Mög- den Glanz des Wortes Goldfinger! lichkeit! Sie ist aus massivem Gold Pfui!
Philipp Feldhusen (21) und Peer Gahmert (20) sind in Deutschland viel bekannter als in der Schweiz. Als schöne Männer mit bestem Kleidungsstil sind sie noch kinderlos und freuen sich über Post mit Änderungsangeboten. Sie sind Herausgeber des Satiremagazins «Eine Zeitung» (eine-zeitung. net). Sie warnen den Lektor eindrücklich, die «ß» nicht zu entfernen. Danke. Illustration: Yves Haltner
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Wo der Traum vom Tram wahr wird Auf www.opengeofiction.net bauen Kartographiefans an einem neuen, erdähnlichen Planeten. Ein Hobby für weltfremde «Herr der Ringe»-Fans, die Mittelerde nachbauen, oder? Tink.ch sprach mit den Erfindern - einem Softwareentwickler und einem Stadtplaner. Text: Céline Graf
Anmelden, zwei Wochen warten, dann ist man stolzer Besitzer eines Territoriums auf dem fiktiven Planeten von Opengeofiction. Noch gibt es weisse Flecken auf den Kontinenten Uletha, Tarephia, Antarephia und Archanta, welche den Planeten bilden. Seit gut einem Jahr existiert das Kartographieprojekt im Netz. Dessen Erfinder, der Softwareentwickler Thilo Stapff (46) und der Stadtplaner Johannes Bouchain (33) leben in Deutschland und lieben beide das «Mappen», wie sie das Kartographieren im Netz nennen. Die Idee, eine Karte zum Mitmachen für alle ins Netz zu stellen, fanden sie beim Projekt Openstreetmap, bei dem Leute aus aller Welt online gemeinsam an einer Weltkarte basteln. Langsam füllt sich der Opengeofiction-Planet mit Ländern und Inseln, Strassen und Eisenbahnlinien, Flüssen und Landschaften. Der Editor stammt von Openstreetmap. «Die Idee ist, dass unter realen Bedingungen kartographiert wird», erklärt Johannes im Interview via Skype. Es herrschten die gleichen klimatischen und physikalischen Bedingungen wie auf der Erde. Wer sich also auf seinem Territorium bereits Zauberschlösser, Unterwasserwelten und Weltraummetropolen mit fliegenden Autos vorstellte, wird enttäuscht.
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Keine «Herr der Ringe»-Welt Fantasy-Welten wie Tolkiens Mittelerde aus «Herr der Ringe» faszinierten die beiden Tüftler nie so stark wie die Karten der realen Welt. Thilo erzählt, wie sie als Jungen in ihrer Freizeit stundenlang Karten studierten und zeichneten. Ihm taten es besonders die topographischen Karten der deutschen Landesvermessungsämter an, Johannes zeichnete schon damals gerne Stadtpläne. Die Faszination fürs Kartenzeichnen ist den Usern von Opengeofiction gemein, wie Tink.ch im internen Forum erfährt. Easky30 schreibt: «Schon als Kind zeichnete ich Karten von fiktiven Städten. Ich war positiv überrascht, als ich andere Leute mit demselben Hobby fand.» Rund 800 registrierte User waren es im vergangenen Juli, Tendenz steigend. Aktiv ist allerdings nur ein Bruchteil (circa 70 User). Das techniklastige Hobby scheint zudem vor allem Männer anzuziehen, weibliche User sind den Administratoren nicht bekannt. «Irgendwie bekannt» Das Land von Easky30 heisst Orinoco. Mit seinen Bundesstaaten erinnert es an Nordamerika. «Oft inspirieren reale Orte die fiktiven», sagt Thilo. Über-
Kartographie: Woher - wohin Als Captain James Cook 1769 Neuseeland umrundete, wunderte er sich. Er hatte keinen Kontinent vor sich, sondern eine Insel. Diese Entdeckung veränderte das bis dahin anerkannte kartographische Bild Neuseelands. Moderne Satellitentechnik gab es noch nicht. Die revolutionären Messinstrumente in der Ära der grossen Seefahrer hiessen Sextant und Kompass. Die Kartographie selbst ist noch viel älter: In der Türkei kam an einem Felsen eine Stadtkarte aus der Zeit um 6200 v. Chr. zum Vorschein. Karten hatten oft eine religiöse Bedeutung, so zeigt eine ägyptische Papyrus-Karte, die Toten ins Grab
gelegt wurde, zwei Wege in die Unterwelt auf. Rationaler gingen die griechischen Philosophen vor, welche die technisch-mathematischen Grundlagen fürs Kartographieren lieferten. Die römischen und chinesischen Kaiser waren wiederum pragmatisch – und nutzten Karten, um ihre Weltreiche zu verwalten und auszudehnen. Ein Kuriosum sind die «mappae mundi» des Mittelalters: Ein Kreis als Symbol für den Ozean schliesst ein T ein, dessen drei Felder Afrika, Asien und Europa darstellen (Amerika wurde ja erst 1492 entdeckt). So stellten sich die Leute die Welt vor, Län-
dergrenzen tauchten auf Karten des 15. Jahrhunderts kaum auf. Das änderte sich spätestens im kolonialen Zeitalter, als die Kolonialmächte auf Karten kurzerhand Ländergrenzen von eroberten Gebieten neu zogen. Technisch verbesserte sich die Kartographie enorm in den Weltkriegen, als die ersten Erdaufnahmen aus der Luft und dem All über die Bildschirme flimmerten. Quelle: Jeremy Harwood: Hundert Karten, die die Welt veränderten. National Geographic, Hamburg 2007. Bilder: zVg
lege-Stadt, die die Administratoren zeichneten, als Autoren einer Zombie-Geschichte sie darum baten. Für seine eigenen Länder stellt sich Thilo derweil vor, dass deren Bewohner Fantasiesprachen sprechen. In Johannes‘ Userprofil erfährt man, dass sein Alter Ego bei Openfiction in der Kleinstadt Rahmsberg lebt und «fiktionale Kartographie» unterrichtet. «Jeder hat wohl eine Geschichte zu seinem Ort», sagt Thilo. Platz zum Erzählen solle bald ein Wiki bieten. Gut möglich, dass dort der eine oder andere gezeichnete Ort in eine Mikronation verwandelt wird. Das sind fiktive Staaten, die ein Idealist gegründet hat, und in denen man «Mitbürger» werden kann, meist übers Internet. Die Kultur- und Sozialanthropologin Irina Ulrike Andel aus Wien hat ihre Diplomarbeit über Mikronationen geschrieben. «Hinter der Ausrufung eines Mikrostaates steht zumeist eine Ablehnung von gängigen gesellschaftlichen Strukturen», sagt sie. Eine Mikronation biete die Chance, im Kleinen zu experimentieren und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Organisation auszuloten. Thilo und Johannes wagen Experiment im Kleinen diesbezüglich keine Prognose. Zwar sieht der Planet der Erde ähnlich, nichtsdesto- Eins sei aber klar: «Das Kartotrotz fühlt man sich wie in einem Fantasy-Compu- graphieren soll im Vordergrund terspiel. Da ist zum Beispiel eine amerikanische Col- bleiben.»
haupt sind die Grenzen zwischen Fiktion und Realität fliessend. Thilo entwirft Orte, die er gerne als Tourist besuchen würde. Johannes erzählt die Anekdote, wie seine Frau in der Wohnung eine Karte von einer fiktiven Stadt aufgehängt habe und die Gäste fragte, welche es sei. Die Stadt sei allen «irgendwie bekannt vorgekommen», man habe wild geraten. «Die Auflösung sorgte für Staunen und Fragen über mein Hobby», sagt Johannes. Er hat sein Land Kalm in Kantone nach Schweizer Vorbild gegliedert. Mit seinen Küsten und dem Zentralmassiv könnte Kalm aber auch Frankreich sein. In seinen Städten bringt Johannes gerne Trams unter. «In meiner Heimatstadt Hamburg gibt es dieses tolle Fahrzeug leider nicht.»
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Matisse und Kokoschka für ein Gewehr Für 20 Rappen verkauften die Nationalsozialisten Kunstwerke, die heute zu sechsstelligen Beträgen gehandelt werden. Als «entartet» bezeichneten sie diese Kunst, entfernten sie aus ihren Museen und verscherbelten sie ins Ausland – auch in die Schweiz. Text: Sina Kloter
Eine Kunstwebsite geht wegen Überlastung kurzzeitig offline. Ein Museum wird mit Interviewanfragen überhäuft und ein Kunstsammler erlangt internationale Bekanntheit. Ein Ereignis mit Seltenheitswert in der Kunstszene. In der breiten Öffentlichkeit kennt man selbst zu Höchstpreisen gehandelte Gegenwartskünstler wie Damien Hirst oder Ólafur Elíasson nicht besser als den Lokalpolitiker aus dem Nachbardorf. Doch auch Lokalpolitiker können ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten – der Sammler Cornelius Gurlitt, das Kunstmuseum Bern und die Website «Lost Art» zierten allerdings nicht wegen unsittlichem Verhalten oder Ähnlichem die Titelblätter in der internationalen Medienlandschaft. Sie alle verdankten die Aufmerksamkeit dem sogenannten «Schwabinger Kunstfund» – eine wiederentdeckte Sammlung Moderner Kunst, darunter ein bislang unbekanntes Werk von Marc Chagall. Der Schatzmeister Der Cerberus dieser Sammlung, Cornelius Gurlitt, bewahrte die Werke in seiner Wohnung in Schwabingen auf, geschützt vor der Aussenwelt. Übernommen hat er diese Aufgabe von seinem Vater, Hildebrand Gurlitt, einem der vier wichtigsten Kunsthändler unter Hitler. Hildebrand vererbte seinem Sohn rund 1 500 Kunstwerke, die er während des Nationalsozialismus – einige sagen gerettet, andere gestohlen – hat. Cornelius hütete das Vermächtnis seines Vaters bis 2012, als die Staatsanwaltschaft Augsburg wegen Steuerermittlungen und des Verdachts auf Unterschlagung alle Werke beschlagnahmte. Erst eineinhalb Jahre später sollte die breite Öffentlichkeit von dieser Aktion erfahren. Gurlitt starb im Mai 2014, rund ein halbes Jahr nach der ersten Meldung zum «Schwabinger Kunstfund». Er setzte das Kunstmuseum Bern als Alleinerbe ein.
Universität Berlin, erläutert, dass die Nazis den Begriff für sogenannte «jüdisch-bolschewistische Kunst» verwendeten, die – wie sie sagten – «aus einer Verschwörung entstand und die deutsche Kultur zerstören wollte.» Die «Bedrohung der deutschen Kunst» sollte vernichtet werden, deshalb liess Hitler besagte Kunst sowohl aus deutschen Museen, als auch Haushalten entfernen. Betroffen waren Strömungen wie der Expressionismus, Surrealismus oder Kubismus, allesamt abstrakte Stilrichtungen der Malerei. «Gepfefferte Leichenrede» Die Folgen waren eine wahre Beschlagnahmungswelle unzähliger moderner Werke sowie die Entlassung der Museumsdirektoren, welche diese sammelten. Zudem wurde eine Ausstellung mit dem Titel «Entartete Kunst» organisiert, welche die «abartige» Kunst zeigen sollte. Sie besiegelte die Diffamierung der modernen, abstrakten Kunst und ihrer Schöpfer – unter ihnen Künstler wie Paul Klee, Max Beckmann oder Wassily Kandinsky. 1939 kam es zur Verbrennung eines «unverwertbarer Rests» von beinahe 4 000 Kunstwerken. Der Vorschlag dazu stammte von Franz Hofmann, dem Geschäftsführer der NS-Verwertungskommission. Er schrieb 1938 an Propagandaminister Goebbels: «Ich schlage deshalb vor, diesen Rest in einer symbolischen propagandistischen Handlung auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen und erbiete mich, eine entsprechend gepfefferte Leichenrede dazu zu halten.»
Kunst für den Krieg Der «verwertbare» Teil sollte durch Kunsthändler gegen Devisen ins Ausland verkauft werden. Die vier Haupthändler, die Verträge mit dem NS-Regime abschlossen, waren Bernhard Boehmer, Ferdinand Möller, Karl Buchholz und eben Hildebrand Gurlitt. Die Rolle der vier «Verwertungshändler» war von BeKunst als Opfer von Propaganda ginn an zwiespältig. Einerseits grosse Liebhaber der Das Interesse nach der Bekanntmachung war immens. modernen Kunst – und an ihrem sicheren FortbeNicht nur aufgrund der wiederentdeckten Kunst, auch stehen interessiert – andererseits Kollaborateure des weil die Sammlung NS-Raubkunst enthält. Der Be- Dritten Reichs, die Kunst zur finanziellen Unterstütgriff bezeichnet geraubte Kunst, unter anderem durch zung von Hitlers Krieg veräusserten. den deutschen Staat, während der Diktatur Hitlers. Meist gehörten diese Werke jüdischen Privatpersonen. 20 Rappen das Stück Oft ist NS-Raubkunst auch sogenannt «Entarte- Die Beschlagnahme traf die deutschen Museen stark, te Kunst», ein Propagandabegriff der Nationalsozi- vor allem solche, die ihre Ausstellungspolitik auf Moalisten. Dr. Andreas Hüneke, Kunsthistoriker der derne Kunst ausgerichtet hatten. So zum Beispiel das Forschungsstelle «Entartete Kunst» an der Freien Museum Folkwang in Essen, das gemäss der Inven-
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«Das Nizza in Frankfurt am Main» von Max Beckmann kam 1939 mit Hilfe eines Sonderkredits der Stadt Basel ins Kunstmuseum Basel, wo es noch heute ausgestellt wird. Bild: zVg, Kunstmuseum Basel, M. Bühler
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Der österreichische Maler Oskar Kokoschka galt als Hiltlers «Kunstfeind Nr. 1». Sein Werk «Die Windbraut» fand ebenfalls 1939 den Weg nach Basel. Bild: zVg, Kunstmuseum Basel, M. Bühler
tarliste für «Entartete Kunst», die das Londoner Victoria and Albert Museum online zugänglich macht, 1›273 Werke durch die Aktion verlor. Damit wurden Löcher in Bestände geschlagen, die bis heute nicht gefüllt werden konnten. Die Dezimierung eröffnete ausländischen Museen indes unerwartete Möglichkeiten. Insbesondere amerikanische Museen und Galerien erkannten die Chance und erwarben die diffamierte Kunst zu Spottpreisen. Emil Noldes Bilder wurde für 20 Rappen das Stück verkauft. Zum Vergleich: Heute zahlen Sammler für ein Werk Noldes meist sechsstel-
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lige Beträge. Diese Entwicklung führte zu einer Verlagerung des Kunstmarkts nach Amerika und Museen wie das Museum of Modern Art (MoMA) schufen sich während des Zweiten Weltkrieges die Grundlage für ihre heutige zentrale Stellung in der Szene. Das Museum besitzt eine der einflussreichsten Sammlungen moderner und zeitgenössischer Kunst überhaupt. «Aufsehen erregende Aktion» Auch Schweizer Museen und Galerien profitierten von den Beschlagnahmungen und Verwertungsaktionen. In einem vom Bundesamt für Kultur in Auftrag
gegebenen Bericht von 1998 stellte Thomas Buomberger fest, dass die Schweiz im Vergleich zu anderen neutralen Ländern am meisten gestohlene, illegal erworbene Kunst kaufte. Allen voran nutzte die Galerie Fischer aus Luzern die Lage: Durch die Auktion «Moderne Gemälde aus Deutschen Museen» im Jahre 1939 erlangte sie international einen Namen in der Kunstszene. Die höchst umstrittene Auktion umfasste 125 Werke «Entarteter Kunst», von denen 85 in alle Welt verkauft wurden. Die Galerie bezeichnet auf ihrer Website die Versteigerung bis heute als «Aufsehen erregende Auktion», jedoch verdeutlicht das Verhalten der Kunstakteure die tatsächliche Brisanz der Auktion: Amerikanische Museen blieben der Auktion kategorisch fern, da bekannt war, dass die Werke halfen, Hitlers Krieg mitzufinanzieren. Allerdings gab es bedeutende, priva-
«Die Rechtsgrundlage – ein Wort, das einem hier in der Kehle stecken bleibt» te Sammler, die der Verlockung der Spottpreise und dem kunsthistorischen Wert der Bilder nicht widerstehen konnten. Sinnbildliches Beispiel für die zweischneidige Situation ist Joseph Pulitzer jr., der zwar im Grand Hotel National in Luzern Platz nahm, jedoch den neben ihm sitzenden Kunsthändler Pierre Matisse für sich bieten liess. Die Grenze zwischen Retter und Kollaborateur war fliessend. Moderne in Basel Demselben Konflikt musste sich auch das Kunstmuseum Basel stellen: Es erwarb unter dem damaligen Direktor Georg Schmidt mit einem Sonderkredit der Basler Regierung zahlreiche Werke, die aus der Beschlagnahme «Entartete Kunst» stammten. So gelangte zum Beispiel «Die Windbraut» von Oskar Kokoschka oder Max Beckmanns «Das Nizza in Frankfurt am Main» sowie zahlreiche andere Werke im Jahr 1939 über Verwertungshändler von Deutschland nach Basel. Dr. Nina Zimmer, Vizedirektorin und Leiterin der Abteilung 19. Jhd. und Klassische Moderne des Kunstmuseums Basel, betont in diesem Zusammenhang: «Georg Schmidts Tätigkeit zu dieser Zeit war visionär, er kaufte nur Werke aus staatlichem Besitz an, Raubkunst begutachtete er gar nicht erst.» Auch heute noch stehe Provenienzforschung, die Erforschung der Herkunft eines Kunstwerks, im Zentrum eines möglichen Kaufs, erklärt die Vizedirektorin: «Die Provenienz eines jeden Werkes wird vor dem Kauf oder der Schenkung überprüft, dies kann mehrere Monate dauern. Erst wenn sich die Proveni-
enz als unbedenklich erweist, nehmen wir ein Werk in die Sammlung auf.» Auf die Frage, weshalb diese Informationen über Ankäufe im Zusammenhang mit «Entarteter Kunst» zum Beispiel auf der Website des Museums nicht einsehbar sind, antwortet Dr. Zimmer: «Wir sind laufend daran, die Lücken in den Provenienzinformationen zu erforschen, mittelfristig möchten wir diese Informationen gerne öffentlich zugänglich machen. Wir gewähren jedoch allen Forscherinnen und Forschern mit ausgewiesenem Interesse Einsicht in unseren Wissensstand.» Die sogenannte «Rechtsgrundlage» Dass Werke wie «Die Windbraut» nie von deutschen Museen zurückgefordert wurden, liegt an dem «Entziehungsgesetz» aus dem Jahre 1937, das – man höre und staune – bis heute rechtsgültig ist. Der Rechtsanwalt Prof. Dr. Peter Raue, unter anderem Honorarprofessor für Urheberrecht an der Freien Universität Berlin und Experte auf dem Gebiet des Kunstrechts, meint dazu: «Die Rechtsgrundlage – ein Wort, das einem bei diesem Sachverhalt in der Kehle stecken bleibt – ist das Gesetz über die Beschlagnahme sogenannt entarteter Kunst, das von den Allierten nie aufgehoben wurde.» Prof Dr. Raue betont, dass dies ein bewusster Akt gewesen sei und erläutert: «Weil der Staat sich gleichsam selbst enteignet hat, sollten die Rechtsgeschäfte mit diesen Kunstwerken unangetastet bleiben.» Dies sei auch der Grund, weshalb die Werke später von Deutschland nicht zurückverlangt werden konnten. Alte Fragen Der Fall Gurlitt zwingt den Kunstmarkt und die Politik sich mit alten Fragen zu beschäftigen. Fragen, die im Bereich der NS-Raubkunst heutzutage zu Recht ernster genommen, dringlicher behandelt werden, als noch vor zwanzig Jahren. So schuf zum Beispiel das Bundesamt für Kultur im Jahr 1999 die Anlaufstelle Raubkunst, die explizit mit Schweizer Museen und Galerien den Dialog zu diesem Thema sucht und den Stellenwert der Provenienzforschung betont. Auch international setze man sich unter anderem mit den Washingtoner Richtlinien von 1998 für die Aufarbeitung der NS-Raubkunstproblematik und faire Lösungen ein. Nur Museen scheinen eine Ausnahme zu bilden. Dank des Falls Gurlitt werden einzelne Stimmen laut, welche die Rückgabe von Werken aus dem «Schwabinger Kunstfund» auch an deutsche Museen fordern. Doch solange ein Gesetz, das zur Zeit der grössten Kriegsverbrechen der bisherigen Geschichtsschreibung erlassen wurde, als rechtmässig erachtet wird, kann sich daran auch nichts ändern.
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Beim Feierabendbier
«Stellt euch vor: Eine Welt ohne Cervelat und ohne Bienen. Wir würden das Feuer nur noch brauchen, um uns warm zu halten. Und neue Geschichten erfinden müssen, um unseren Kindern das mit dem Sex zu erklären.»
«Aber wenn schon Honig, dann bitte aus der Region. Sonst finde ich das ethisch nicht mehr vertretbar, ganz ehrlich. Wenn die Bienen sterben, dann sind wir dran. In China müssen Menschen die Blüten bestäuben. Von Hand.»
«Ist doch egal. Ich finde, Würste sind eh völlig überbewertet. Wenn schon Fleisch, dann richtiges. So dass man auch weiss, was man gerade isst. Etwa Spare Ribs mit Honigmarinade.»
«Nein, irgendwas war doch. Engpass bei den Därmen.»
«Entschuldigung, aber ich würde doch gerne noch wissen, was mit dem Cervelat war. Ging es ihm schlecht? Wegen den Veganern?»
«Genau, Swissness und so.»
«Das heisst «der» Cervelat. Wir sind hier immer noch in der Schweiz, weisst du. Unser Schwyzerdütsch und der Cervelat, die sind Kultur.»
«Hat die Cervelat eigentlich ihre Krise überwunden?»
«Also, wann gehen wir das nächste Mal grillieren?»
«Von wegen. Die einzige ultimative Wahrheit ist die mit der Wurst und den zwei Enden.»
«... und letztlich ist es doch einfach so: Männer sind kräftiger als Frauen. Das ist die Wahrheit.»
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Text: Yara Gut Illustration: Yves Haltner
«Nein, die hat zwei.»
«Wie die Wurst.»
«Hier geht es um eine andere Kraft, eine virtuelle. Weisst du, wie dein Geld bei der Bank. Aber lass uns nicht wieder mit dem Thema anfangen. Irgendwann steht doch der Sexismus sowieso vor dem Aus und mit ihm dann aber auch der Feminismus. Hat beides ein Ende.»
«So? Und von der haben die Männer also auch mehr als die Frauen?»
«Es ist doch ein gutes Zeichen für die Wirtschaft, wenn die Menschen bereit sind, sogar für gebrauchten Schrott viel Geld auszugeben. Kaufkraft, meine Herren.»
«Die alten Zeiten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Vor allem sind sie nicht mehr alt. Viel eher «retro» oder «vintage». Unsere Flohmärkte sind ruiniert!»
«Ich würde es positiv sehen: Das ist eigentlich einfach eine Chance, sich auf die guten alten Zeiten zurückzubesinnen. Bücher lesen, kochen und im Ungewissen bleiben, ob es diesen Sommer Cervelat gibt oder nicht. Es würde uns allen gut tun, nicht immer alles wissen zu können. Oder zu müssen. Wie früher.»
«Genau! Man fühlt sich total beobachtet, so wie in der Truman Show. Wahrscheinlich habe ich irgendwo Fans. Ziemlich sicher gibt es T-Shirts und Tassen, die mit meinem Gesicht bedruckt sind.»
«Ich glaube nicht, dass Pornographie aufklärt. Die rammeln da ja nur für das Bild, nicht fürs Gefühl. Und dem Internet würde ich sowieso nicht mehr trauen. Das ist doch nur noch ein Instrument der Regierungen, um Daten zu sammeln.»
«Wegen dem Sex würde ich mir keine Sorgen machen. Aufklärung findet heute doch eh im Internet statt. Aber das mit dem Feuer wäre schade.»
«Er isch dr Socka-Hitsch» Weitum bekannt und dennoch fremd ist das Bündner Original mit ausgewiesener Socken- und Hosenträgerexpertise. Ein genauerer Blick auf den Mann hinter den Verkaufstischen an der Autobahnausfahrt Landquart lohnt sich jedoch ungemein. Text/Bilder: Daniel Barnbeck
Er ist etwas vom Ersten, was die Bündner und Bündnerinnen erkennen lässt, dass sie wieder zu Hause sind. Sommer wie Winter sitzt er an der Landquarter Autobahnausfahrt und wartet auf Kundschaft. Autofahrer winken ihm zu, Kraftfahrer lassen die Hörner ihrer mächtigen Fahrzeuge röhren und sogar die Lokomotivführer der Rhätischen Bahn grüssen ihn aus ihren Führerhäusern heraus, wenn sie an ihm vorbei rattern.
trägern unter freiem Himmel erkannte Hitsch, dass dies sein «Job des Lebens» war. Wenn gerade keine Märkte stattfinden, verfügen die meisten Marktfahrer über einen festen Stellplatz, an dem sie ihre Ware feilbieten. So auch Hitsch, der den Stellplatz an der Lanquarter Autobahnausfahrt ergattern konnte. Dank dessen Nähe zu seinem Zuhause war es Hitsch jederzeit möglich, sich um seine Frau zu kümmern. Bald jedoch benötigte seine Frau mehr Pflege. Ein angemessenes Heim war zu teuer, Der erste Blick um es nur vom Ersparten zu bezahlen, und so behielt Wer anhält, findet sich in einem riesigen Sortiment an er auch aufs Alter hin seinen Marktstand. Socken und Hosenträgern wieder und kommt ganz Heute ist dieser aber weitaus mehr als blosse Einnebenbei in den Genuss eines Bündner Originals, wie nahmequelle. Selbst bei Regen und Schnee sitzt es echter und unverfälschter nicht sein könnte. Als Hitsch lieber inmitten seiner Hosenträger, als alleine «Socka-Hitsch» kennt man ihn vom St. Galler Rhein- zu Hause an der Wärme. Die Begegnung sei es, die tal bis ins Engadin hinauf. Allerorts bekannt aus den für ihn zähle, sagt er. Tagen, als er noch als Marktfahrer an jedem Dorfmarkt anzutreffen war. Heute lässt er es freilich etwas Jedem Problem seine Lösung ruhiger angehen, das Alter macht sich bemerkbar. Das Leben als Marktfahrer war nie leicht, erinnert sich. Zur Zeit, als er zum «Hosenträger-Business» Eine ungewöhnliche Entscheidung fand, «war das aber noch ein ganz anderes Geschäft!», Doch Hitsch war nicht von jeher Marktfahrer. Bis betont er. Ende Fünfzig arbeitete Christian Zwicky, wie er mit Heute spürt auch Hitsch den wachsenden Druck. bürgerlichen Namen heisst, als Verkäufer im Waren- Mittlerweile tritt er nicht nur gegen konkurrierenhaus. Zu seinen Hosenträgern verhalfen ihm wohl de Standbesitzer, sondern auch gegen grosse Supergleichermassen Schicksal wie auch Zufall. marktketten an. Doch beeindrucken lässt sich Hitsch Um seine früh an Alzheimer erkrankte Frau zu be- von diesen grossen Spielern nicht. Sein Mittel heisst schäftigen, eröffnete er einen kleinen Laden in der Originalität, denn so einzigartig wie er selbst, sind Churer Altstadt. Als sie diesen wegen der fortschrei- auch seiner Hosenträger. So finden sich zum Beitenden Krankheit nicht mehr führen konnte, be- spiel Hosenträger, die speziell für «Chüngalizüchschloss Hitsch seine feste Anstellung aufzugeben und ter» gestaltet wurden. Über dreissig solcher Serien hat ihr im Laden zu helfen. er mittlerweile im Angebot und jedes Jahr kommen neue dazu. «Job des Lebens» Das Marktleben lernte Hitsch am Parpaner Sonn- Aus alten Tagen tagsmarkt kennen, als er einen Kollegen an dessen Auch wenn sich der Gesprächsinhalt nicht um HoStand vertrat. Zwischen all den Socken und Hosen- senträger dreht, weiss Hitsch immer etwas zu erzäh-
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Christian Zwik, wie er bei der Autobahnausfahrt Landquart anzutreffen ist.
len. So kann er sich gut an seine Kindheit erinnern. 1940, Anderthalb Jahre nach seiner Geburt ist sein Vater in den nahen Bergen tödlich verunfallt. Alleine war seine Mutter nicht in der Lage, die Mäuler aller fünf Kinder zu stopfen. Und so kam es, dass Hitsch bei seinem Patenonkel und dessen Frau aufwuchs und die Kindheit anstatt im Bündner Rheintal in Davos verbrachte. Anfang der 40er-Jahre war der Kurort ein beliebtes Ziel deutscher Feriengäste, weshalb über vielen der bekannten Hotels das Hakenkreuz wehte. Trotz seiner jungen Jahre konnte Hitsch die damals herrschende Anspannungspüren und erinnert sich bis heute daran. Besonders heikel war dabei die politische Haltung seines Patenonkels, der – wie auch Hitsch selbst
– ein überzeugter «Sozi» war. Vielleicht erklärt dies Hitschs nicht nachlassendes Interesse an den Geschehnissen der Welt, die er über die täglichen Nachrichten stehts im Auge behält. Ihm sei es wichtig, zu wissen, was «da draussen» passiert, erzählt er voller Überzeugung. Ein Teil des Ganzen Wie seltsam und eigenartig das alte Männlein an der Autobahausfahrt auch auf Unbekannte wirken mag, missen will man ihn in Lanquart um keinen Preis. Vom Kantonsrat bis zum Mechaniker geht kaum einer an ihm vorbei, ohne zu grüssen. Hitsch gehört halt zum Bündnerland, wie seine Hosenträger zur Autobahnausfahrt Landquart.
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Jugend Medien
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2014
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