Foto: cw
Auawirleben - Zeitgenössisches Theatertreffen Bern 2009
«Vermischung von Realität und Fiktion» Beatrix Bühler und Nicolette Kretz vom Organisationskomitee «Auawirleben» unterhielten sich mit Tink.ch über das Festival und die Rolle, welche das Theater heute in der Gesellschaft einnimmt. Mit Beatrix Bühler und Nicolette Kretz sprach Christian Wyler Tink.ch: Was bewegt sie dazu, einen solchen Anlass zu planen und durchzuführen? Bühler: Vor allem Freude an der Sache. Das Theater ist ein Ort, wo ungeheuer viel möglich ist, mit einer Sensibilität für Dinge, die gerade zugange sind und der Möglichkeit einer ganz eigenen Art, diese zu bearbeiten. Theater sprengt den Zeitrhythmus. Bei mir zuhause läuft dauernd Euronews: man wird von wichtigen Dingen überflutet und befindet sich ständig in einem
Informationschaos. Das Theater sagt einfach stopp, Pause, wir nehmen uns jetzt einen Moment Zeit und schauen die Sache mal anders an. Es ist freier, es kann ganz anders mit Freiheit spielen, es kann ausprobieren, Vorschläge machen, es sagt nicht «hier, das ist jetzt die Wahrheit», spielt mit der Problematik und muss dabei nicht objektiv sein. Tink.ch: Früher hatten grosse Autoren wie Frisch oder Dürrenmatt an der öffentlichen Dis-
kussion teilgenommen – heute herrscht Stille. Gelingt es dem Theater noch, seine Themen an die Öffentlichkeit zu tragen? Bühler: Früher gab es die «grossen Heroen», die auf ein Podest gehoben wurden und zu allen Fragen Stellung nahmen. Adolf Muschg ist zum Beispiel noch so ein Fall. Es gibt heute meist nicht mehr einzelne Apostel, das Ganze ist viel breiter geworden, auch durch neue Formate wie Slam und der Vermischung mit mehr tänzerischen Elementen. Ausserdem ist das Theater heute irgendwie selbst-
verständlicher geworden. Theater ist keinesfalls abgelebt, nicht nur hier im Rahmen des Festivals. Es gibt auch anderswo institutionalisiertes Theater, auch ausserhalb von vielleicht etwas verstaubten Stadttheatern, und durchaus mit jungem Publikum. Kretz: Natürlich wird in Fernsehsendungen mehr diskutiert, da diese ja auch ein mengenmässig viel grösseres Publikum erreichen. Es lässt sich vielleicht erst rückblickend feststellen, wie viel ein Theaterstück wirklich verändert oder bewegt hat. Bühler: Wenn ein Theater gut ist, bewegt es auch etwas in den Köpfen und, schmalzig gesagt, auch in den Herzen, und das ist das Entscheidende. Ausserdem gilt heute nicht mehr das Format: ein Autor, ein Ensemble und dazwischen noch ein Regisseur, der seine Interpretation hinknallt. Heute wird viel mehr projektartig und genreübergreifend gearbeitet. Das Zentralste ist die Vermischung zwischen Realität und Fiktion. Man spielt nicht mehr einfach eine Rolle, reale Erfahrungen der Schauspieler fliessen vermehrt ein; manche Figuren tragen sogar dieselben Namen wie die Schauspieler im privaten Leben. Die Grenze zwischen Realität und Inszenierung wird verwischt – das sind enorme Veränderungen. Das Theater ist sehr viel vitaler geworden. Kretz: Seit dieser Vermischung von Fiktion und Realität spricht das Theater die Zuschauer auch wieder mehr an. Wenn einem nicht mehr klar wird, wer jetzt etwas sagt, die Figur oder der
Schauspieler als reale Person, wird der Zugang direkter und wirklicher. Tink.ch: Es gibt im Rahmen des Festivals auch Outdoor-Veranstaltungen. Auch ein Versuch, näher an die Leute heranzukommen? Kretz: Man erreicht Leute, die sonst nicht ins Theater gehen würden. Ausserdem treten die Leute mit einer ganz anderen Erwartungshaltung an die Aufführung heran – der Zuschauer muss die Situation einschätzen und selber einen Rahmen setzen. Doch auch im Theater drinnen können solche Situationen vorkommen. Auch im Stück «Othello, c’est qui?» wird zwar ein konkreter Rahmen gegeben, es entsteht jedoch jedesmal etwas Neues. Bühler: ...und plötzlich wird daraus ein ganz abgründiger, kultureller Dialog, der die Problematik eines solchen Dialogs an sich aufzeigt: Wie führt man so etwas vor, was ist echt, was ist gespielt? Das finde ich sehr aufregend. Im Stück «Bagdad brennt», werden zum Beispiel ausschliesslich Originaleinträge aus dem Blog einer Irakerin verwendet, deren Wahrheitsgehalt man wiederum auch nicht genau kennen kann. Tink.ch: Migration, Krieg, Gewalt: Schwingt bei diesen Themen der aufgeführten Stücke auch etwas Moral mit? Bühler: Nein, dieses Theater kennt keine Tabus, und es gibt keine Moral. Das Theater spielt mit den Empfindungen, die im Moment Pro-
Theaterschaffende und Publikum vereint im Festivalzentrum in der Turnhalle, Foto: cw
bleme machen, aber ohne Moral. Kretz: Wichtig finde ich, dass das Theater mehr als einen Vorschlag macht und nicht ein «Wir sehen das so»... hervorbringt. Bühler: ...und das zieht einem manchmal auch den Boden unter den Füssen weg, es gibt ja keine Anweisungen. Kretz: Ich finde Theater immer dann am Schönsten, wenn man etwas verstört aus dem Saal kommt und für einen Moment selber nicht mehr weiss, wo oben und unten ist. Dies ergibt sich meist, wenn es gelingt, auf eine gute Art solche Vorschläge zu unterbreiten. Bühler: Zum Beispiel im Filmteil von «Le Jardin»: Trotz erschütternder Geschehnisse kann man irgendwie niemandem darin böse sein. Tink.ch: Ist das Aufzeigen dieser Vorschläge für Sie so etwas wie eine Aufgabe des Theaters? Bühler: Ich verstehe das nicht als Aufgabe. Theater arbeitet gegen die Scheuklappen des Alltags, man will einen grossen Erfahrungsspielraum ermöglichen, auch weil man selbst Lust darauf hat – es ist wohl die profundeste und genussvollste Art Erfahrungen machen zu können. Kretz: …und das ist eben genau die Art von Theater, die uns interessiert. Bühler: Ein Stück wie «Maggy», das das Schicksal einer jungen Migrantin aus dem Kongo in der Schweiz schildert, muss unbedingt gezeigt werden. Die Leute müssen dies sehen. Auch Politiker kidnappen wir, wenn nötig, damit sie das Stück schauen kommen. Tink.ch: Wie geht es weiter mit «Auawirleben»? Bühler: «Auawirleben» bleibt immer ein Experiment. Es ist spannend, sich an die theaterästhetischen Möglichkeiten heranzutasten, Grenzen auszuloten. Bei so einem Festival, wie wir es machen, kann es gar keine Routine geben. Kretz: Wir versuchen, jedes Jahr so flexibel wie möglich zu bleiben. Somit sind wir eigentlich froh, dass wir keine Zukunftsprognosen machen können. Wir lassen uns gerne überraschen. <<
“baGdad brennt”
Sicht einer Direktbetroffenen «Bagdad brennt» erzählt die Sicht einer jungen Frau, welche im Irak lebt und berichtet von der Invasion der Alliierten im Irak und den damit verbunden Folgen für das tägliche Leben. Von Mathias Leuenberger
Kriegsschilderungen verfasst in einem Blog
Unter dem Pseudonym Riverbend (Flussbiegung) führte sie während des Krieges ein Blog, in welchem sie unter anderem die Einschränkungen im Alltag, welcher die Kriegs-
situation mit sich brachte, schilderte. Autor John von Düffel und sein Bruder Peter haben das Blog ins Deutsche übersetzt und ihn als Bühnenstück in Monologform aufbereitet. Sie lassen die Zuschauer im Theater teilhaben an einer ganz anderen Sicht auf die Vorkommnisse im Irak, als dass sie aus den Medien bekannt sind, welche im Irakkrieg bekanntlich eine spezielle Rolle spielten. Anna Böger, welche die junge Irakerin spielt, versteht es, den Zuschauer durch ihre Darbietung bildhaft die Gefühle und Empfindungen einer jungen Frau im Kriegsgebiet zu vermitteln. Videoprojektionen an die Bühnenrückwand unterstützen diese Bilder zusätzlich. «Bagdad brennt» ist ein interessantes Theaterstück, welches anregt, sich Gedanken über die mediale Bericht-
erstattung zu machen. Das Stück verdeutlicht, dass es immer verschiedene Sichten gibt – die Sicht von Aussenstehenden geprägt von den Medien und die Sicht einer Betroffenen geprägt von ihren alltäglichen Erlebnissen. Das Blog (http://riverbendblog.blogspot.com) ist immer noch online, auch wenn seit Oktober 2007 kein Beitrag mehr hinzugefügt wurde. <<
Der Krieg als Videospiel, Fotos: ch
“Jenseits - bist du schwul oder bist du türke?”
Suche nach der eigenen Identität «Ich bin kein Türke!», stellt einer der Reisegäste gleich zu Beginn des Zwischenhaltes klar. Entweder schwul oder Türke: Innerhalb von 100 Minuten müssen sie sich entscheiden. Von Céline Graf Beides zusammen geht nicht, die Konstellation wäre zu kompliziert, unzumutbar für die Gruppe. Die Reise kann erst fortgesetzt werden, wenn all die nötigen «Korrekturen zu den persönlichen Angaben» vorgenommen sind. Fünfzehn Scheinwerfer beleuchten die spärlich eingerichtete Bühne. Die Lebensgeschichten von fünf Männern – allesamt homosexuell und Türken – stehen im Rampenlicht. In diesen 100 Minuten wird einiges erzählt: Von deutschem Rassismus und türkischem Konservatismus; von Identitäts- statt Wirtschaftskri-
se. Es geht um Toleranz – und Sex. Nurkan Erpulat hat mit in Berlin lebenden homosexuellen Männern türkischer Herkunft über ihre Geschichte gesprochen. Resultat ist die starke Inszenierung «Jenseits - Bist du schwul oder bist du Türke?» des Theaters Ballhaus Naunynstrasse (Berlin).
«Eine spannende Ambivalenz» Ein Akkordeon und eine singende Dame, die dem Raumschiff Enterprise entstiegen sein könnte, trennen die fünf Lebensgeschichten voneinander. In Monologen erinnert sich jeder, wie es zu seinem jetzigen Dasein als
«schwuler Türke in Deutschland» kam. Etwas stereotypisiert zwar, aber unglaublich gut dargestellt, treten unter anderen ein Muttersöhnchen und Macho, ein Junkie, ein Koranschüler und ein Transvestit auf. Das Team agiert in der Tat so authentisch, dass man sich fragt, ob es wohl wirklich «nur» Schauspieler sind. «Eine spannende Ambivalenz», nannte dies eine Zuschauerin. Jeder der Protagonisten hat eine Vergangenheit, von welcher er immer wieder eingeholt wird. Schlagende Stiefväter belasten ebenso, wie das Gefühl, ein Tabu der islamischen Gesellschaft zu sein. Letzteres war für einige Grund genug zur Emigration nach Deutschland, wo sie aber auf andere Probleme gestossen sind: Etwa die Schwierigkeit des Ernstgenommenwerdens oder die
Fünf stereotypische «schwule Türken»
richtige Balance der Anpassung, sei es in der Schule oder im Schwulenmilieu. Die hochkommenden Emotionen wollen die fünf Gestrandeten nur zum Teil zeigen, sie haben schliesslich ein Bild von sich und wollen dies aufrechterhalten. Doch plötzlich stehen sie nackt da, fertig mit dem Doppelleben, den 1001 Gesichtern. Der Macho merkt: «Mensch, du kannst dich also auch verlieben». Übermannt wird das Quintett nicht nur von Erinnerungen. Auch im Jetzt,
angezogen von Schweiss und Brusthaaren, kommt es immer wieder zu Körperkontakt, mal flüchtig, mal wild. Überhaupt läuft fast jede Handlung, jede Erzählung auf Sex hinaus. Dies ist zwar weder provokativ noch speziell unangenehm, aber wie es eine Zuschauerin ausdrückt: «vielleicht etwas zu sexuell». Die zahlreichen anderen Ebenen der fünf Lebensgeschichten sind derart interessant, dass manches Homosexuellen-Klischee überflüssig scheint. Der Fragebogen kann natürlich auch nach spannenden 100 Minuten nicht
Der wild umherspringende Junkie, Fotos:ch
Wiedersehen mit der ersten grossen Liebe
ausgefüllt werden. Vielleicht erinnert sich noch jemand an Lessings Nathan der Weise? Im Scheinwerferlicht stehen fünf Menschen, die ihrer ersten Liebe nachtrauern oder einfach nur von Verallgemeinerungen und Vorurteilen, Wünschen und Ängsten erzählen. Das Streben nach der Suche der eigenen Identität liegt anscheinend nicht in der Nationalität oder der Sexualität: «Es hat nichts damit zu tun, dass ich Türke bin. Das hat mit mir zu tun». <<
imPressionen von der “revolution Gottes”
Die Sintflut erreicht Bern
Seit Beginn des Theaterfestivals schleichen in Bern wilde Tiere umher: Hasen, Bären, Störche, Wölfe, Katzen. Wer glaubt, die Tiere würden die Stadt erobern, irrt: Es handelt sich um ein Abschiednehmen. Denn am 30. April 2009 ist es so weit: Die Sintflut kommt. Aus früheren Erfahrungen haben die Tiere gelernt und Fehler sollen nicht wiederholt werden. So kommen die Menschen diesmal gar nicht mit auf die Arche, welche auf der grossen Schanze in Bern gebaut wird.
Die Tiere auf der Arche. Die Menschen
Die singende Giraffe hat das Wort,
Die chaotische Pressekonferenz der Tiere
werden der Sintflut überlassen, Foto: ch
Foto: cw
auf der grossen Schanze, Foto: ch
mitmachen Wir sind da, wo Theater entsteht. Und wo bist du? Tink.ch sucht unentdeckte Schreibtalente zwischen 16 und 30 Jahren. Jung, kritisch, frech und schnell? www.tink.ch/mitmachen
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Nummer 1
Kulturbüro
2. Mai 2009
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Céline Graf
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Manuela Zeiter
Christian Wyler
Theaterfestival Auflage
Matthias Leuenberger Auawirleben
500 Exemplare