Das tiefgr端ndige Magazin f端r die Schweizer Jugend / www.tink.ch / Nr.1 November 2010 / CH: 6.00 CHF
SUCHT
/ INHALTE
Editorial
Die alltäglichen Laster Mediensucht Liebe Leserinnen, Liebe Leser Medien dominieren unseren Alltag. Sind wir alle süchtig?
Nach einer halbjährigen Planungszeit präsentieren wir euch nun das erste Tink.ch-Magazin. Vier Mal im Jahr wollen wir uns ab sofort einem SpezialThema widmen. Den Anfang macht die Sucht.
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Workaholic?! Streitsucht, Sehnsucht, Eifersucht, aber auch Drogensucht, Mediensucht und Magersucht: Süchte begleiten uns und unseren Alltag überall, egal ob als gut getarnte Sammelwut oder als Begriffe, die mit der eigentlichen Abhängigkeit einer Sucht nicht mehr viel gemein haben. Wonach sind junge Menschen süchtig? Was führt sie in Versuchung? Was dominiert ihren Alltag? Tink.ch begab sich auf die Suche nach Süchten und Süchtigen und traf dabei bewundernswerte Menschen: Sascha (Seite 4) zum Beispiel, der durch seine grosse Liebe seine von Drogen geprägte Vergangenheit hinter sich lassen konnte. Oder die Ex-Heroinsüchtige Joëlle (Seite 10), die nun voller Lebensfreude ihrer Zukunft entgegensieht. Doch was hat es mit den Süchten auf sich, die eher Verhaltenszwänge sind? Was unterscheidet die Arbeitssucht (Seite 8) von der Alkoholsucht (Seite 24)? Wie eine Sucht überhaupt entstehen kann, erklärt uns Suchtberater Helmut Wolfer (Seite 18). Doch egal, wie das Laster der von uns getroffenen Menschen aussieht: Sie alle haben ihre Abhängigkeit in den Griff bekommen oder gelernt, sich mit ihrer Sucht zu arrangieren.
Nichts als Arbeit? Weshalb man besser eine Pause einlegen sollte. Seite 8 & 9
Adrenalin pur Nie genug vom Kick? Dann geht es dir wie vielen Adrenalinsüchtigen. Seite 16
Inhalt Einkaufsfrust statt Einkaufslust ...... Seite 3 Kokain, das zerstört ..................... Seite 4 Süchtig nach Liebe ........................ Seite 6 Workaholic?! ............................... Seite 8 Heroin: Überdosis, die verbindet ..... Seite 10 Welt des Kaffees .......................... Seite 12 Medien, die uns dominieren ........... Seite 13 Auf Handyentzug .......................... Seite 15
Und nun wünschen wir euch unterhaltsames Eintauchen in die Welt der Süchte. David Naef und Thinh-Lay Tong und das Tink.ch-Team
Adrenalin pur ............................... Seite 16 Experte im Gespräch ..................... Seite 18 DVD-Junkie .................................. Seite 20 Jedes Kilo, jede Kalorie zählt .......... Seite 22 Im Teufelskreis der Alkoholsucht ..... Seite 24 Impressum ................................... Seite 27 Such(t)rätsel ................................ Seite 28
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/ KOLUMNE
.: Shopping-Sucht :.
Let’s go shopping - oder doch nicht? Einkaufen ist für viele eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen. Doch was tun, wenn das Shoppen zur Sucht wird? Larissa Utz
Für mich gibt es fast nichts Schöneres, als ein neues Paar Schuhe zu kaufen. Zu kaufen und nicht zu tragen, wohlgemerkt. Es gibt Schuhe, in die ich nur einmal geschlüpft bin - im Laden, um sie anzuprobieren. Ich weiss oft nicht einmal, warum ich die Schuhe will. Ich denke mir immer, dass sich irgendwann eine Gelegenheit ergeben wird, um die Schuhe zu tragen. Vorerst aber verstauben sie im Schrank. Bin ich etwa kaufsüchtig? Wie für mich gehört Shoppen auch für viele andere zu den liebsten Hobbies. Doch wenn das Einkaufen ausser Kontrolle gerät und man immer öfter unnötige Dinge einkauft, wird das als Kaufsucht bezeichnet. Laut einer Studie der Fachhochschule für Soziale Arbeit in Bern aus dem Jahre 2003 sind rund fünf Prozent der Befragten kaufsüchtig, rund 33 Prozent haben eine Tendenz zu unkontrolliertem Einkau-
18- bis 24-Jährige neigen besonders zur Kaufsucht. Foto: Katharina Good
fen: Sie kaufen nicht, weil sie die Dinge wirklich brauchen, sondern um etwa dem unerfreulichen Alltag zu entkommen. Überdurchschnittlich häufig betroffen sind die 18- bis 24-Jährigen. Gemäss der Studie sind in dieser Altersgruppe 17 Prozent kaufsüchtig und ganze 47 Prozent gefährdet.
Foto: Michael Dolensek
Die Ursachen für eine Kaufsucht sind ganz unterschiedlich. Dazu gehören unter anderem Persönlichkeitsstörungen, aber auch unerfüllte Sehnsüchte nach Anerkennung, Respekt und Beachtung. Das Motto lautet: „Ich kaufe, also bin ich“. Kaufsüchtige sind vom Drang getrieben, etwas zu kaufen. Kaufen löst euphorische Stimmungen aus oder hilft, unangenehme Gefühle zu dämpfen oder zu vergessen. Bei manchen Menschen entsteht eine Abhängigkeit, die mit der Alkohol- oder Nikotinsucht vergleichbar ist.
Kaufsucht führt früher oder später zu Verschuldung und oft auch zu einer sozialen Isolation, da sich die Betroffenen, wie bei anderen Süchten auch, schämen und sich nicht eingestehen wollen, dass sie ein Problem haben. Oft kommen zu der Kaufsucht andere Probleme wie Ängste, Schuldgefühle und Depressionen hinzu. Trotz dieser Konsequenzen können Kaufsüchtige ihr Verhalten nur schwer ändern. Die Behandlung basiert in der Regel auf einer Verhaltenstherapie und sozialen Hilfen. Es wurde nachgewiesen, dass Kaufsucht, wie Alkoholmissbrauch, keine wirklich heilbare Krankheit ist. Man kann nur die Symptome mildern, jedoch niemals den Drang zum Einkaufen ganz besiegen. Gerade fällt mir auf, dass ich noch dringend gute Winterschuhe bräuchte. Doch nach all diesen Informationen ist mir die Lust am Einkaufen vergangen. Ich warte lieber, bis der Winter wirklich da ist.
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.: Kokainsucht :.
«Ich wollte mich selbst zerstören» Mit elf Jahren den ersten Joint, mit 15 zum ersten Mal Kokain. Sascha ist heute 29 Jahre alt und blickt zurück auf eine Zeit, in der es mit ihm tief hinunter ging – und am Ende doch wieder hinauf. Eva Hirschi
Meinen ersten Joint rauchte ich, als ich in der fünften Klasse war“, erinnert sich Sascha*. Er wollte etwas Neues ausprobieren, doch das war nicht der einzige Grund. Seinen ersten Joint rauchte er, um zu rebellieren. „Zu Hause gab es ständig Zoff, meine Eltern schlugen meinen Bruder und mich, und das seit ich acht Jahre alt war“, erzählt der heute 29-Jährige. Keine Autorität Sascha war ein hyperaktives Kind, die Eltern wussten nicht, wie sie die Kontrolle behalten sollten. Deshalb schlugen sie ihn. „Und eines Tages schlug ich zurück – das totale Chaos brach aus“, erzählt er. Er hatte sich der für ein Kind grösstmöglichen Autorität widersetzt, nun gab es keine Grenzen mehr. Er wurde aggressiv in der Schule, gegen die Kameraden, gegen die Lehrkräfte. Die Folge: Häufige Schulwechsel, schlechte Beziehung zu den Eltern und auch zu sich selber. „Ich nahm es mir übel, dass ich meine Eltern geschlagen hatte, aber gleichzeitig nahm ich ihnen übel, dass sie mich geschlagen hatten. Ich konnte das nicht verstehen. Ich war auf der Suche nach mir selbst, hatte aber gleichzeitig Lust, die ganze Welt zu verhauen. Ich wollte, dass alle sterben, ich hätte am liebsten jemanden umgebracht. Wenn man so jung ist, kann man mit solchen Gedanken im Kopf nicht leben.“ „Ich war voller Hass, und den musste ich irgendwie rauslassen. Deswegen begann ich zu kiffen.“ Dem Bruder seines damaligen besten Freundes kauften Sascha
und sein Freund ein Säckchen Cannabis ab. So haben die „Dummheiten“, wie Sascha es nennt, angefangen. Wilde Partys und harte Drogen In Berührung mit harten Drogen kam Sascha erstmals im Alter von 14 Jahren. Nachdem der Cannabisboom abgeflaut war, kamen in den 90er-Jahren die harten Drogen in Mode. An Partys mit elektronischer Musik versammelten sich viele Menschen und dröhnten sich gemeinsam zu. Mit seinem besten Freund besuchte Sascha eine solche Raveparty. Dort probierten sie zum ersten Mal Ecstasy aus. Einmal begonnen, gehörten die Drogen im Ausgang bald dazu. In dieser Zeit waren Sascha und sein Freund praktisch jedes Wochenende an einer Raveparty. Sascha erinnert sich an die Partys in Roggwil bei Langenthal im
„Tausende von Leuten und etwa drei Viertel von ihnen nahmen Ecstasy“ Kanton Bern. „Dort hatte es Tausende von Leuten und etwa drei Viertel von ihnen nahmen Ecstasy“, schätzt Sascha. „Logisch fängst du dann auch an mit diesem Zeug.“ Ecstasy, LSD, Speed, Kokain – alles habe er ausprobiert. Ausser Heroin. Das war eine Grenze, die er sich selber gesetzt und die er nie überschritten habe. „Beginnst du zu konsumieren, beginnst du auch zu verkaufen, um dir deinen Konsum zu finanzieren. Das hat bei uns
schliesslich eine Dimension angenommen, die wir nicht mehr kontrollieren konnten“, erzählt Sascha. Mit 16 wurde er kokainabhängig. Da hätten die „wirklich grossen Dummheiten“ angefangen. Drogen waren teuer und seine Sucht führte ihn später sogar ins Gefängnis. Von Walkmans bis zu Autos Zuerst kratzten sich er und sein Freund das Geld für die Drogen durch kleine Ladendiebstähle zusammen. Sie verkauften die gestohlenen Walkmans und anderen Dinge weiter. Doch bald reichte das nicht mehr aus und sie begannen, Autos zu stehlen und mit Drogen zu handeln. Besser ging es Sascha durch die Rauschmittel jedoch nicht, im Gegenteil. Er nahm Drogen, um sich selbst zu vernichten. „Ich war nicht glücklich, so viele Dummheiten hatte ich seit der Kindheit erlebt. Jedes Mal, wenn ich etwas konsumierte, sagte ich mir, dieses Mal wirst du daran sterben. Ich war traurig, mir ging es so schlecht.“ Mit den Autodiebstählen begann auch die „schwarze Phase“, wie Sascha sagt. Er und sein Freund wurden von der Polizei geschnappt. Das Urteil des Jugendrichters lautete: vier Jahre Freiheitsentzug. Sascha war sechzehneinhalb Jahre alt, als er ins Gefängnis musste. „Nicht mehr mein Sohn“ Seine Familie und sein Freundeskreis reagierten abweisend. Von den meisten Freunden habe er nichts mehr gehört, erinnert sich Sascha. Auch die Familie
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brach den Kontakt ab. „Als ich ins Gefängnis kam, sagte meine Mutter, ich sei nicht mehr ihr Sohn. Während dieser Zeit verlor ich viele Freunde. Inzwischen weiss ich, dass es keine richtigen Freunde gewesen sind.“ Während der Jahre im Gefängnis beruhigte sich Sa-
Durch die Bekanntschaft zweier Frauen fand er den Einstieg in die Pornoindustrie und wollte nach Holland, um dort Karriere als Pornodarsteller zu machen. Doch kurz vor der Abreise wurde ihm sein ganzes Geld gestohlen. So musste er in der Schweiz bleiben. „Zum Glück“,
„Aber ich habe keine Angst, rückfällig zu werden. Ich habe es geschafft, weil ich einen sehr starken Willen habe“. Ausserdem nahm Saschas Familie wieder Kontakt zu ihm auf, was ihm zusätzlich Kraft gab. „Ich konnte mir sagen: Ja, ich bin jemand, der sehr viel Schlechtes
Von Freunden und Familie im Stich gelassen, sah Sascha in den Drogen die einzige Zuflucht. Fotos: Eva Hirschi
scha ein wenig, er liess die Finger von Ecstasy und Kokain. Der Gedanke an die Musik liess ihn die Zeit überstehen. Als junger Teenager hatte er erste Versuche als DJ gemacht, nach der Freilassung wollte er durchstarten. Doch das liess ihn, kaum war er frei, erneut in die Drogenszene stürzen. Als DJ war er viel unterwegs und spielte in der ganzen Schweiz. Er wollte sich einen Namen machen, sehnte sich nach Ruhm. Nicht selten bekam er jedoch Drogen geschenkt. Bald war er wieder stark abhängig. Glück im Unglück In dieser Zeit wechselte Sascha häufig den Wohnort, vom Wallis nach Lausanne, von Genf nach Biel. Mal lebte er bei Freunden, mal besetzte er mit Punks ein verlassenes Haus. Um seinen Konsum zu finanzieren, dealte er mit Cannabis.
sagt er im Nachhinein, denn hier habe er kurz darauf die Liebe gefunden. Wenig später zog er mit seiner neuen Freundin zusammen. Sie nimmt keine Drogen. „Dank ihr habe auch ich aufgehört.“ Pure Willenskraft? „Ich habe nie irgendeinen Drogenentzug oder so etwas gemacht. Ich hatte das Glück, immer selber aufhören zu können, wenn ich es wirklich wollte“, meint Sascha. Bereits drei Mal habe er eine Zeit lang mit den harten Drogen aufgehört. Er habe sich gesagt, er müsse sich von den Drogen und von allem, was er in dieser Zeit erlebt hatte, so anwidern lassen, dass er die Finger davon liesse. Sascha fällt es nicht schwer, über die vergangenen Ereignisse zu sprechen. Diese Periode liegt hinter ihm, er hat damit abgeschlossen. „Natürlich ist es schwierig, mit den Drogen aufzuhören“, wirft er ein.
erlebt hat, aber jetzt kann ich beginnen, etwas Gutes zu leben.“ Wunsch nach einem Happyend Heute konsumiert Sascha keine harten Drogen mehr. Nur mit den Joints hat er nie ganz aufhören können, auch wenn er seinen Konsum stark verringert hat. Mit seiner Freundin und einer Hündin lebt er seit über einem Jahr glücklich in Freiburg. In den nächsten fünf Jahren möchte er gerne nachholen, was er früher links liegen gelassen hat: Bildung. An seinem aktuellen Arbeitsplatz kann er Kurse besuchen und sich weiterbilden. „In zehn, zwanzig Jahren“, verrät Sascha, „wäre ich gerne verheiratet, hätte Kinder und ein Leben, das aus Glückseligkeit besteht. Nicht aus schmutzigen Geschichten“. Es ist der Wunsch nach einem Happyend. *Name geändert