Wie glaubt der Norden?

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WIE GLAUBT DER NORDEN?

Wie glaubt der Norden? Mit dieser Frage und offenen Augen sind die Mitarbeiter dieses Magazins in den letzten Wochen durch Schleswig-Holstein getourt. Antworten fanden sie bei Buddhisten und Schamanen, bei Christen und Esoterikern, bei Moslems und Bahá’í. Ihre Geschichten sind in diesem Heft nachzulesen, in dem spirituelle Menschen und ihre Beweggründe im Mittelpunkt stehen. Die Ausgabe kam nur zustande, weil im Vorfeld knapp 80 Unterstützer die Druckkosten aufgebracht haben. „Crowdfunding“ heißt dieses alternative Finanzierungsmodell. Mehr dazu und die Namen der Unterstützer gibt es auf Seite 35. Hauptverantwortlich für Finanzierungsphase und Redaktion waren zwei Volontäre des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags: Anabela Brandao (26) ist studierte Ethnologin, Michael Althaus (26) katholischer Diplom-Theologe. Beide sind zur Zeit in der Lokalredaktion in Itzehoe eingesetzt. Mit kurzen Statements zur ihrer eigenen Weltanschauung stellen sie sich auf dieser Seite vor. ●

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Über dieses Magazin

STANDPUNKT

Warum bin ich Atheistin? VON ANABELA BRANDAO

Weil ich mein Leben selbst in der Hand haben möchte. Für mich ist Religion etwas, das Menschen erfunden haben, um all das zu erklären, was die Wissenschaft nicht beantworten kann. Wer sind wir? Woher kommen wir und wohin gehen wir? Die Frage nach dem Sinn ist mindestens so alt, wie die Menschheit selbst. Ohne Zweifel kann Religion darauf Antworten geben. Aber für mich sind

diese Antworten nicht wichtig. Ich mache mir keine Gedanken darüber, was nach dem Tod passiert. Ich frage mich nicht jeden Tag, warum ich auf der Welt bin. Ich lebe einfach. Auch ohne Religion. Ich bestimme mein Leben durch mein eigenes Handeln. Ich versuche, Gutes zu tun, weil ich es will und nicht, weil ich einem Gott gefallen möchte. Ich denke, jeder Mensch setzt sich seine eigenen Ziele im

Leben und verleiht seinem Dasein dadurch selbst einen Sinn. Statt mich auf einen Gott zu verlassen, den ich nicht sehen kann, halte ich mich lieber an Fakten – an Dinge, die greifbar sind. Und an das, was ich sehen, anfassen und fühlen kann. Freunde, Familie, Liebe – diese Dinge sind meine Religion. Sie geben mir Halt, sie geben mir Hoffnung, sie sind für mich da, wenn es mir schlecht geht und sie hören mir zu, wenn ich etwas zu sagen habe. Besser, als jeder Gott es je könnte.

Warum bin ich Christ? VON MICHAEL ALTHAUS

Möglichkeit pflegen sollte. Er hat Vertrauen in mich, Weil ich mich einer höheren dass ich etwas Gutes Macht verdanke. Ich habe mein daraus mache. Mit dieser Leben nicht selbst in der Hand. Aufgabe lässt er mich nicht Als ich auf die Welt kam, da hatte allein: Es gibt immer wieder schon jemand einen ganzen Garten Ereignisse und Begegnungen, die mir von Talenten in mir angelegt, etwa geschenkt werden und die mich auf die meine Liebe für das Musik machen richtige Bahn lenken. In meinen oder meine Begabung für Augen ist es kein Zufall, sondern das Fremdsprachen. Ich komme nicht aus Wirken Gottes, wenn ich einem guten dem Nichts. Ich glaube: Jedem Freund begegne oder einen Menschen hat Gott besondere hilfsbereiten Menschen treffe. Solche Fähigkeiten geschenkt, die er nach Ereignisse geben mir das Gefühl von

Geborgenheit, auch wenn mal nicht alles glatt läuft im Leben. Alle großen Religionen kennen diese Lehre, dass es einen Schöpfer gibt, der jeden von uns gemacht hat. Deshalb ist es erstmal gar nicht entscheidend, ob ich Hindu, Moslem, Bahá’í oder Christ bin, und schon gar nicht, ob ich evangelisch, katholisch oder orthodox bin. Entscheidend ist, sich sicher zu sein: Da ist etwas vorbereitet für mich, das es zu entdecken gilt. Das zu glauben, ist aus meiner Sicht absolut vernünftig.

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Ein Schal für alle Fälle Elmshorn Er ist sicher nicht nur der längste sondern auch der bunteste Halsschmuck im Norden: Der interreligiöse Schal aus Elmshorn. Das Projekt wurde von der Diakonie Rantzau-Münsterdorf ins Leben gerufen und begann als Zeichen gegen gesellschaftliche Kälte. Mittlerweile ist der Schal zum Verständigungssymbol der Religionen geworden. Mehr als vier Gemeinden, darunter die islamische, die jüdische, evangelische und die katholische, haben seit Oktober vergangenen Jahres an dem guten Stück mitgestrickt und ihn nach ihren ganz eigenen Wünschen und Vorstellun-

gen gestaltet. Das Ergebnis ist eine kunterbunte Mischung aus Mustern und Farben gepaart mit religiösen Symbolen wie Davidstern, Kreuz oder Halbmond. Jetzt wechselte der Schal erneut den Besitzer. Stellvertretend für die evangelisch-freikirchliche Gemeinde Elmshorn (Baptisten) nahm Catana Dargel-Jermies (Foto, Mitte) ihn von der katholischen St. Marien-Gemeinde im Diakonie-Café in Elmshorn entgegen. Was genau danach mit den Schal passieren soll, wissen die Initiatoren noch nicht. Nur eines ist sicher: Das Ende soll offen bleiben. ●


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Inhalt

Buddhismus auf Bio:

Auf seinem Hof pflanzt Gerd Boll nicht nur Gurken und Tomaten, sondern widmet sich auch Buddhas Lehren. Seite 18 Chillen in der Stadt:

In der Kirche der Stille in Altona können sich gestresste Großstädter eine Auszeit nehmen.

Seite 21

Ein Gott für alle:

Die Bahá’í glauben daran, dass Jesus, Mohammed und Krishna denselben Gott offenbaren. Seite 22 Glosse: Nordische Götterreligion:

Er ist klein, schwimmt und klebt auf vielen Heckklappen. Doch was bedeutet der bunte Fisch?

Wie Schamane Thorsten Dechow den Donnergott Thor anruft. .

Seite 4 Atheisten:

An Gott glaubt Tanja Großmann nicht. Sie gründete eine atheistische Gruppe. Seite 6

Seite 23 Judentum:

Die Synagoge von Viktoria Budnikov ist offen für alle. Regelmäßig finden dort Tage der Begegnung statt. Seite 24

Glaubensbefreit:

Thomas Staudt hat seinen eigenen Glauben gefunden. Eine Kirche oder eine Organisation braucht er dazu nicht. Seite 7

Interview:

Glaube ist im Kommen, ist sich Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong sicher. Die Theologin spricht über Open Air-Gottesdienste, Wiedergeburt und Esoterik. Seite 25 Spiritismus:

Nachwuchs-Priester:

Heiko Kiehn will katholischer Priester werden. Für ihn bedeutet Zölibat ein Stück Freiheit. Seite 8

Vor 23 Jahren gründete die Brasilianerin Mariley Lopes Stoll die Spiritischtische Studiengruppe „Schwester Sheilla“. Seite 26 Karma-Arbeit:

Vikarin:

Eigentlich wollte Geske Weber Kinder unterrichten. Doch dann entschied sich die Insulanerin dafür, Pastorin zu werden. Seite 9

Hexe, Mönch oder Adelsfrau – Christiane Feuerstack hilft Menschen, mehr über ihr früheres Leben zu erfahren. Seite 27 Das Muslimische Ich:

Als 13-Jährige befasste sich Rabia Atasoy intensiv mit ihrem Glauben. Seitdem dreht sich das Leben der jungen Muslimin um den Koran. Seite 28 Hochzeitsfeier im Doppelpack:

Mohamad Ahmad und Laila Burgschat feiern gleich zweimal ihre Vermählung – einmal auf deutsch und einmal auf arabisch. Seite 30 Interview: Islamische Hochschulgemeinde:

An der Kieler Uni kämpfen junge Muslime gegen Islamfeindlichkeit.

Pastor Friedemann Magaard erklärt, warum bei ihm Moslems, Juden und Christen in einem Zelt sitzen.

Seite 31

Seite 10 Zeugen Jehovas:

Wolfgang Czajka über sein Leben mit der „richtigen“ Religion. Seite 12 Ausgestiegen:

Susanne Olsen hat den Zeugen Jehovas den Rücken gekehrt – zumindest innerlich. Seite 13 48 Stunden Stille:

Im Benediktiner-Kloster Nüttschau hat unsere Autorin Johanna Tyrell zwei Tage lang geschwiegen.

Meditation:

Durch Sitzmeditation versuchen die Mönche im Zen-Kloster Schönböken ihre innere Mitte zu finden.

Seite 32

Seite 14 Schamanismus: Neuapostole:

Seine Verlobte hielt ihn erst für einen Dealer – doch Tobias Nissen geht stattdessen in die Kirche. Seite 16

Ghelia Bohnhof spricht mit Geistern. Hokuspokus oder wirksame Therapie? – Ein Selbstversuch.

Seite 34

Unterstützer und Impressum:

Seite 35


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Direkter Draht nach oben: Thorsten Dechow erklärt, dass er bei seinen Zeremonien die Götter um Hilfe bittet. FOTOS: MICHAEL STAUDT

Neumünster Thorsten Dechow steht im

Garten seines Hauses und bereitet die Zeremonie vor. Er steckt neun Fackeln in den Rasen, acht im Kreis, eine in die Mitte. Auf seinem Kopf sitzt ein Dachs. „Das ist Grimmbart“, stellt er die Fellkappe mit den gelben Knopfaugen vor, „der passt auf, das hier alles richtig läuft.“ In der Mitte des Kreises steht eine Feuerschale, davor ein großer Holzklotz, auf dem ein Seil liegt. „Das ist die Energieleitung, die werden wir gleich durchtrennen“, erklärt er. In dem Kreis aus Fackeln soll gleich eine energetische Trennungszeremonie stattfinden. Dabei wird die Verbindung zwischen Personen oder schlechten Erinnerungen symbolisch gekappt. „Es hilft einem, sich davon besser lösen zu können, zum Beispiel von einschneidenden Erlebnissen aus der Vergangenheit“, erklärt Dechow, der von allen nur „Thoddy“ genannt wird. Der 54-Jährige ist Schamane. Obwohl er sich selbst nicht so nennen würde. „Ich arbeite schamanisch, aber mich selbst so zu bezeichnen, wäre irgendwie anmaßend.“ Mit den gängigen Klischees hat der drahtige Mittfünziger mit den langen grauen Haaren nämlich nichts zu tun. Kein monotoner Singsang, keine Extase, keine Drogen. Stattdessen bietet er rituelle Reinigungen an, hält zeremonielle Vertragsschließungen ab oder traut Paare nach altem nordischem Brauch. Auch das Ausräuchern von Wohnungen, um den alten Muff des Expartners zu vertreiben,

Auf den Spuren des Donnergotts Als Schamane führt Thorsten Dechow Zeremonien nach altem heidnischem Brauch durch. Der Neumünsteraner gehört einer Nordischen Götterreligion – dem „Ásatrú“ an. Wir durften ihn bei einer Trennungszeremonie begleiten. VON ANABELA BRANDAO

hat er im Programm. Dabei fungiert er als eine Art Mittler zwischen Erde und Götterwelt. Nur eines sucht man bei ihm vergeblich. „Wer eine Show will, muss sich einen Gaukler holen. Aus Spaß rufe ich meine Götter nicht an.“ Denn bei dem Neumünsteraner dreht sich alles um Thor – den Gott des Donners. 24 dieser germanischen Gottheiten gibt es im Ásatrú – einer Glaubensrichtung, die sich auf das germanische Neuheidentum zurückführt. Obwohl die nordische Götterreligion polytheistisch ist,

folgen ihre Anhänger jeweils nur einer Gottheit. Ob das nun Odin, der Göttervater, oder eher Freya, die Göttin der Liebe, ist, entscheiden die Anhänger individuell. „Jeder muss seinen eigenen Gott finden“, so Dechow. Warum er sich für Thor entschieden hat? „Das ist doch einfach – das kommt durch meinen Namen“, erklärt er undgrinstverschmitzt.Dennderbedeute übersetzt „Thors Stein“. Schon als kleiner Junge wollte er mehr über die Herkunft seines Namens wissen und stieß dabei auf Ásatrú. Seitdem hat ihn der Glaube an die

nordische Mythologie und die Götterwelt des Heidentums nicht mehr losgelassen. Einer der wichtigsten Grundsätze des Ásatrú ist der respektvolle Umgang mit der Natur. „Wir gehen davon aus, dass alles eine Seele hat – Menschen, Tiere und Pflanzen“, erklärt Deckow. Jeder Mensch bestimme sein Leben deshalb selbst, durch seine Taten. Bevor er zum Beispiel einen Ast absägt, bittet er deshalb erst den Baum um Erlaubnis. Als Vorlage dienen die zwei Bücher der Edda, eine Sammlung skandinavischer Götter- und Heldensagen aus dem 13. Jahrhundert. Doch die Schriften sind meine Dogmen-Sammlung. „Wir arbeiten hier viel mit Bildern“, erklärt Dechow. Die Geschichten sind eher Anregungen zum Nachdenken, über sich, die Natur, die Welt. EinWunderheiler,wieSchamaneinvielen Naturreligionen bezeichnet werden, ist der 54-Jährige nicht. Trotzdem versucht er die heilenden Kräfte der Natur zu nutzen und weiterzugeben, zum Beispiel in Form von Edelsteinen und Amuletten. Außerdem beherrscht er Reiki, Heilen durch Handauflegen. Doch auch der Geist spielt dabei eine wichtige Rolle. Als er sich vor einigen Jahren eine schlimme Sepsis eingefangen hatte, nutzte er seine Vorstellungkraft. „Ich habe in Gedanken eine Horde Wikinger durch meinen Körper gejagt, die alles platt gemacht hat“, erinnert er sich. Nach ein paar Tagen ging es ihm besser. Schon drei solcher Nahtoderlebnisse


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hat er hinter sich, vom Autounfall bis zur Krankheit. An so etwas wie Schicksal glaubt er nicht. Dass er jedes Mal mit einem blauen Auge davon gekommen ist, ist für ihn ein Zeichen seines Glaubens. Denn mindestens dreimal sollte man dem Tod ins Auge geblickt haben, das ist Voraussetzung für die Ausbildung zum Schamanen. Auch auf den normalen Alltag wirkt sich sein Glaube aus. „Man wird aufmerksamer und auch achtsamer im Umgang mit Menschen“, sagt er. Außerdem lerne man die Dinge mehr zu schätzen und nicht nur zu konsumieren. „Vor jeder Flasche Wein und jeder Kanne Tee halte ich einen Moment inne und erzähle ihr, was ich von ihr will.“ Dass das für Außenstehende oft befremdlich wirken mag, stört ihn schon lange nicht mehr. Nur die Vor.......................................................

„Jeder muss seinen eigenen Gott finden.“ Thorsten Dechow Schamane .......................................................

urteile gegenüber seiner Religion ärgern ihn. „Wir werden häufig in die rechte Ecke gedrückt, weil die Nazis damals viele alte Symbole wie Runen und das Sonnenrad benutzt haben.“ Auch von Passanten sei er deshalb schon beschimpft worden. „Viele von uns gehen deshalb gar nicht mehr an die Öffentlichkeit.“ In seinem Fackelkreis versucht er derweil das Feuer in der Schale anzuzünden. Mit einem Feuerstahl, versteht sich. Sofort sprühen ein paar Funken, doch das kleine Zunderbüschel will einfach nicht brennen. Zu viel Wind. „Kannst du bitte mal aufhören zu pusten“, ruft er laut und guckt dabei nach oben. Und siehe da – eine Viertelstunde und ein paar Stücke Birkenrinde später hat Thor ein Einsehen. Der Wind lässt nach, das Feuer brennt. An jeder Fackel bleibt er stehen, breitet die

Das Feuer dient nicht nur als Kochstelle, sondern hat auch symbolische Bedeutung.

ArmeausundmurmelteinpaarWorteauf altnordisch. „Damit bitte ich die Götter um Hilfe“, erklärt er. Um die energetische Verbindung zu aktivieren, folgt eine Phase der Fokussierung. Die kann wenige Minuten oder auch mehrere Stunden dauern. „Je nachdem, wie schnell sich der Betroffene auf das Ereignis oder die Person konzentrieren kann.“ Steht die Verbindung, merke man das sofort. „Das ist ein Gefühl, das in der Magengegend sitzt“, beschreibt er. Danach zerschlägt er das Seil mit einer Axt, die Energierohre sind gekappt. „Das ist

wie eine große Wurzel aus schlechten Erinnerungen, die wir jetzt durchgeschnitten haben.“ Doch gelöst seien die Probleme damit noch lange nicht. „Die Wurzel versucht immer wieder zu wachsen und entwickelt neue Triebe. Die muss man dann mit einem Messer abschneiden, solange sie noch klein sind.“ Symbolisch natürlich. Seine Ausrüstung stellt Thorsten Dechow selbst her. Amulette, Messer, Taschen, Gürtel, Trinkhörner – die meisten seiner Stücke verkauft er auf Mittelaltermärkten. Auch die verzierte ZeremonienAxt mit dem Griff aus Rochenleder ist handgemacht. Mehrere Wochen Arbeit stecken in so einem Stück. Doch der Aufwand lohnt sich. „So kann ich meine ganze Energie reinstecken“, sagt er, „und muss die Sachen nicht erst neu aufladen.“ Das erhöht die Erfolgsquote. Anders als in Skandinavien ist das Ásatrú in Deutschland keine eingetragene Glaubensgemeinschaft. „Wir sind eine nicht-organisierte Religion“, erzählt Dechow, und das sei auch gut so. „Bei uns überwiegt der Freiheitsgedanke und organisieren heißt immer auch unterordnen.“ Eine genau Zahl über die Anhänger gibt es deshalb nicht. Trotzdem scheinen sich Thoddys Künste herumgesprochen zu haben. Für eine Folge der ZDFSendung „Terra X – Tatort Eulau“ sollte er einen Schamanen spielen. Gar nicht so einfach, denn die Geschichte um die rätselhaften Skelettfunde versetzte den 54-Jährigen einige hundert Jahre zurück.

„Da musste ich erstmal gucken, wie die das in der Steinzeit alles gemacht haben“, erinnert er sich. Vom Christentum hat sich der Neumünsteraner schon früh abgewendet. „Ich bin zwar evangelisch getauft, aber nicht konfirmiert“, sagt er. Nach dem Abitur fing er zunächst ein Studium an: Soziologie und Psychologie. Doch das war nichts für ihn, „zu viel Theorie“. Stattdessen wollte er etwas Handwerkliches machen und entschied sich für eine Schlosserlehre. Nachdem sein Rücken jedoch vor ein paar Jahren nicht mehr mitmachte, musste er sich neu orientieren. „Da dachte ich mir, warum soll ich mit etwas Geld verdienen, was ich die ganzen Jahreübersowiesoschongemachthabe?“ Seitdem ist er als freischaffender Künstler gemeldet und bietet Schmuck, Waffen und Zeremonien im Internet oder auf Märkten an. Doch auf die hat der Schamane eigentlich keine Lust mehr, er will in Sachen Mittelalterspektakel etwas kürzer treten. „Die Leute sind nicht mehr bereit, meine Arbeit zu wertschätzen und wollen nichts mehr dafür bezahlen“, sagt er. Was ihn noch mehr ärgert: „Die Besucher gehen teilweise ohne zu fragen an unsere Sachen.“ Letztes Mal sei jemand einfach in seinZeltgegangenundhabesich‚Grimmbart‘ auf den Kopf gessetzt. Da hört der Spaß auf. „Das finde ich einfach frech“, ärgertersich.WeilsicheinGroßteilderSzene in Skandiavien befindet, sind die Reisen zu den Treffen oft lang, besonders wenn man die schwere Ausrüstung inklusive Zelt transportieren muss. Deshalb bastelt er gerade an seinem grünen Landrover herum, der muss vor der nächsten Mittelalter-Tour wieder flott gemacht werden. Und auch Dachs „Grimmbart“ soll sich demnächst von seiner schönsten Seitezeigen.„ErbekommtbaldnochZähne.“ ●

GERMANISCHES NEUHEIDENTUM

ÁSATRÚ Das Ásatrú ist eine von vielen unterschiedlichen Strömungen des germanischen Neuheidentums. Ásatrú-Gemeinschaften streben danach, die religiösen Vorstellungen der vorchristlichen Germanen wiederzubeleben und als moderne Religion in der heutigen Zeit zu etablieren. Im Vordergrund steht das Leben mit den Göttern. Weil im Dritten Reich viele Nationalsozialisten die alten Symbole – bestes Beispiel ist das Hakenkreuz – für ihre Zwecke nutzten, wird Ásatrú heute oft mit rechtsradikalen Tendenzen in Verbindung gebracht, von denen sich Anhänger vehement distanzieren. In Skandinavien ist Ásatrú als offizielle Religion anerkannt, in Island besteht sie seit 1973 sogar gleichberechtigt neben dem Christentum.


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Die Gruppe der Atheisten trifft sich zweimal im Monat. Von links: Gottfried, MarkStephan, Tanja, Dieter und Gerd. ALTHAUS

Von Gott und lila Einhörnern Die Kielerin Tanja Großmann glaubt nicht an eine überirdische Macht. Zum Austausch mit Gleichgesinnten gründete sie eine atheistische Gruppe. Die Teilnehmer debattieren über „Gott und die Welt“. VON MICHAEL ALTHAUS

Kiel EinegroßeweißeBallonlampe,wiesie in den 70er Jahren modern war, hängt an der Decke. „Peace“ verkündet die etwas ausgeblichene Regenbogenfahne, die vom Regal herunterhängt. Die Wand daneben ist voll mit Plakaten von Friedensdemos und Ostermärschen. Und dann sind da noch einige selbstgebastelte Laternen aus Pappmachéverziertmitdemgelb-schwarzen Warnzeichen für Radioaktivität. Aus einer dieser Laternen wurde mit zwei Latten eine Stehlampe gebastelt, die in der Ecke steht. Tanja Großmann nimmt auf einem abgenutzten Sessel daneben Platz. Die 36-Jährige will nicht so recht in das Hippie-Ambiente passen mit ihren glatten braunen Haaren. Sie trägt eine Jeans und eine Fleece-Jacke. Nur zwei winzige Anhänger an ihrem Halstuch deuten an, dass sie irgendwie doch hierher gehört: Sie zeigen das Peace-Symbol, den Kreis mit den dreiStrichendarin.Warumsieherkommt? Tanja Großmann ist bekennende Atheistin, hier trifft sie auf Gleichgesinnte. MarkStephan (42), Frank (50) und Gerd (68) sind schon da. Und kurze Zeit später kommt auch Gottfried (56) – ein drahtiger Typ mit krausem Haar und Brille – mit einer Kanne Tee herein. Zwei Mal im Monat trifft sich die Grup-

pe, die Tanja Großmann im Jahr 2002 ins Leben rief. „Wir reden über Gott und die Welt“, sagt sie und muss lachen ob des Wortspiels. Doch sie meint es ernst: „Natürlich ist Gott ein Thema für uns.“ Beim vergangenen Treffen las die Gruppe gemeinsam einen Artikel über den Pharao Echnaton, der schon im alten Ägypten einen Ein-Gott-Glauben eingeführt haben soll. Heute stehen aktuelle Themen auf dem Programm: Frank berichtet vom Deutschen Humanistentag. „Weißt du was das ist?“, fragt er, und die Erklärung folgt: Es handelt sich um eine Parallelveranstaltung zum evangelischen Kirchentag in Hamburg, organisiert von atheistischen Denkern.DerAustauschseiihrwichtig,erklärt Tanja Großmann, die in ihrer Freizeit gerne liest – auch mal Originale von Charles Darwin oder Rudolf Steiner. Bei den Treffen kann sie das Gelesene dann einbringen: „In der Gruppe sind wir alle auf einer Wellenlänge.“ Nicht immer bewegte sich die gelernte Arzthelferin unter Gleichgesinnten. In ihrer Ausbildung in einem katholischen Krankenhaus musste sie klein beigeben und konnte nicht offen zu ihrer Weltanschauung stehen: „Da musste ich mich bedeckt halten.“

Bis zum Ende ihrer Ausbildung im Jahr 2000warsieMitgliedderkatholischenKirche. Ihre Eltern – selbst nicht besonders religiös – hatten sie taufen lassen. Im katholischen Emsland, wo sie aufwuchs, war das so üblich. Doch schon im Kommunionunterricht begann Großmann „blöde Fragen“ zu stellen. „Das klang für mich alleswieGrimm’sMärchen.“Obwohlsiedas Schulfach Religion später abwählte, zwangen sie die Lehrer – mangels Alternative – trotzdem teilzunehmen. „Da habe ich angefangen, diesen Hass zu kriegen“, sagt sie heute. „Es ist unglaublich, wie groß der Druck im Alltag ist, wenn man nicht einer bestimmten Religion angehört.“ Deshalb ist sie strikter Gegner von Religionsunterricht an staatlichen Schulen, Kirchensteuer und staatlichem Sponsoring kirchlicher Einrichtungen. Auch das kirchliche Arbeitsrecht kritisiert sie, mit dem sie während ihrer Ausbildung in Berührung kam. Das katholische Krankenhaus sei die einzige Möglichkeit für sie gewesen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Deshalb habe sie dort angefangen. Als sie fertig war, machte sie einen radikalen Schnitt in ihrem Leben, trat aus der Kirche aus und suchte nach Möglichkeiten aktiv zu werden. Über eine Freundin kam

sie zum IBKA, dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten, und wurde Mitglied. Als sie nach Kiel zog, wo sie in einer Arztpraxis Arbeit fand, stand sie aber erstmal wieder allein auf weiter Flur. Sie beschloss, eine Gruppe vor Ort zu gründen. Schnell fand sie einige Mitstreiter – meist Aktive aus der Friedensbewegung oder von den Freidenkern. Beim heutigen Treffen sitzen ein Lehrer für Mathe und Physik, ein Krankengymnast, ein Schriftsetzer und ein Erwerbsloser, der sich selbst als „Hobby-Philosoph“ bezeichnet, in der Runde. Mit 36 Jahren ist Tanja Großmann die jüngste Teilnehmerin, Dieter ist mit 75 Jahren der älteste. Aufklärung ist ihr wichtigstes Ziel, um den Glauben zu überwinden und eine friedliche Gesellschaft zu schaffen. Ist der Atheismus nicht auch eine Art Glaube? Der Glaube, dass es keinen Gott gibt?TanjaGroßmannistsichunschlüssig: „Natürlich kann ich auch irren“, sagt sie. Aber sie gründe ihr Weltbild auf beweisbare Fakten. Und da komme Gott nun mal nicht vor. Wer also an eine höhere Macht glaube, müsse Argumente bringen: „Wer behauptet, dass es unsichtbare lila Einhörner gibt, der ist ja auch in der Beweispflicht.“ ●


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Flensburg Früher hätte sich Thomas Staudt Tage vor dem Interview-Termin verrückt gemacht, stundenlang vor dem Spiegel gestanden. Was zieh ich an? Was sage ich? Früher war Thomas Staudt „unerträglich“, „ein Revoluzzer“, „linksextrem“. Er haderte mit den Missständen in der Welt, den kapitalistischen Strukturen. Und er hatte klare Feindbilder. Glaube und Religion spielten keine Rolle – bis er in eine tiefe Sinnkrise geriet. Heute sitzt ein veränderter Mensch in dem kleinen Restaurant am Flensburger Hafen. Der 44-Jährige strahlt innere Ruhe aus, Gelassenheit und Selbstbewusstsein. „Ich kann mich sorgen und Ängste haben, oder ich lass es einfach und lebe im Jetzt“, sagt er, schaut aus dem Fenster und trinkt einen Schluck Kamillentee. „Ich muss Situationen nicht mehr beherrschen.“ Thomas Staudt hat seinen Glauben gefunden oder besser: Sein Glaube hat ihn gefunden, er gibt ihm Kraft und inneren Frieden. „Einen fundamentalen Christen“, nennt er sich selbst. Einen „tief gläubigen Glaubensbefreiten“ ohne Kirche, ohne Organisation. Der Weg dahin war lang und alles andere als geradlinig. Vor sieben Jahren nahm das Ende seiner spirituellen Suche seinen Anfang: Thomas Staudt schlug das Buch „Göttliche Heilung von Seele und Geist“ von Murdo MacDonald-Bayne auf: 14 Reden aus dem Jahr 1948, in denen Jesus durch den schottischen Heiler sprach. Zutiefst berührt suchte Staudt nach Augenzeugen und Informationen über den Mann, der 1936 einer inneren Stimme folgend nach Tibet gereist war und seinen Geist dort so trainierte, dass er heilen konnte. In jahrelanger Arbeit übersetzte Staudt schließlich zwei seiner Bücher ins Deutsche – „Jenseits des Himalaya“ und „Das Yoga des Christus“. Er holt eines der Bücher aus seinem Rucksack, blättert. Liest: „Wir wissen nicht, was es ist, aber, dass es ist.“ Für den gebürtigen Kallebyer eine der wichtigsten Erkenntnisse seines Lebens. Das Wort „Gott“ hält er für negativ belastet. Auch ein Glaubensbekenntnis braucht er nicht. Thomas Staudt lebt die zentralen Grundsätze der MacDonald-Baynesche Lehre: Liebe deinenNächstenwiedichselbst! – Ich und der Vater sind eins! – Lebe im Jetzt! „Die Bücher ha-

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Ängste und Selbstzweifel hat er überwunden – dank seines Glaubens: Thomas Staudt.

Glaubensbefreit Thomas Staudt liebäugelte mit dem Kommunismus und dem Islam, mit der evangelischen Theologie und dem Spiritismus. Heute hat er seine eigene Spiritualität gefunden – ohne Kirche, ohne Organisation. VON DANA RUHNKE

ben alles beantwortet, von dem ich nicht wusste, dass ich Angst hatte, es zu glauben.“ Angst und Frustration – lange bestimmten sie den Alltag des derzeit bei einer Zeitarbeitsfirma angestellten Fahrers. Von einer inneren Erleuchtung war er vor zwölf Jahren wohl soweit entfernt, wie man es nur sein kann. Schon als Jugendlicher entwickelte Staudt ein linksextremes, kommunistisches Weltbild. In der Schule und beim Konfirmandenunterricht fiel er auf – nicht nur wegen der hochfrisierten Haare. Die politische Einstellung verfestigte sich und mit ihr die Unzufriedenheit. „Wenn man ganz links ist, fühlt man sich im Alltag zwangsläufig betrogen. Die Welt ist schlecht“, erklärt Staudt. Er war streitsüchtig, ziellos, begann mehrere Studiengänge, beendete keinen. Mit verschiedenen Jobs hielt er sich über Wasser. Die Folge war eine tiefe Lebenskrise, die in der

Trennung von seiner langjährigen Freundin gipfelte. Thomas Staudt war Mitte 30 und auf der Suche. In einer Zeit, in der Nachrichten über islamistischen Terror das weltpolitische Geschehen prägten, begann er sich mit dem Koran zu beschäftigen. Und was darin stand, war für ihn wie eine Offenbarung. Schwer zu beschreiben sei das, aber „ich las die ersten drei Seiten und wusste, dass es Gott gibt“, erzählt er. Er lernte sogar arabisch. Und dennoch: Seine spirituelle Reise hatte gerade erst begonnen. Es folgten ein Studium der evangelischen Theologie und erste Erfahrungen mit Spiritisten wie Eckhart Tolle, ehe seine Mutter ihm im Alter von 37 Jahren das Werk von Murdo MacDonald-Bayne in die Hand drückte. „Ich glaube jetzt ist das etwas für dich“, erinnert sich Staudt an ihre Worte. All die Jahre hatte es im Bücherregal des elterlichen Wohnzimmers gestan-

den. „Murdo entschlüsselte die verschleierte Bildsprache von Bibel und Koran, und erreichte mich tief in meinem Inneren.“ Kirche dagegen verwässere die Lehre des Christentums, sie interpretiert und stellt Richtlinien auf, wo jeder seinen eigenen Glauben finden müsse. Thomas Staudt lehnt Kirche nicht ab, aber er braucht sie nicht. Seine Kirche ist da, wo er sich gerade befindet. „Ich versuche meinen ganzen Tag zu einem Gebet zu machen, in dem ich mir Situationen und Gedanken bewusst werde, nicht über sie urteile und darin das Leben erkenne.“ Das gehe nicht nur sonntags um zehn, sondern in den banalsten Momenten. „Im Stau, im Supermarkt, beim Kochen. Es geht darum, jeden Moment anzunehmen, denn es gibt nur das Jetzt.“ Mehrmals am Tag meditiert Staudt in Stille. Das Leben sei kein Tauschhandel. Davon ist der 44-Jährige überzeugt. Auch wenn er an ein

Leben nach dem Tod glaubt: „Erlösung kann es nur im Jetzt geben.“ Im Jetzt zu leben, sei jedoch das Schwierigste überhaupt. Nicht immer gelingt es ihm. Dann regt er sich auch mal über Autofahrer auf, die mit 70 km/h über die Landstraße rollen. „Aber ich verzeihe mir, denn wenn man erkennt, dass man gerade nicht im Jetzt ist, ist man schon sehr weit.“ Streit, Ängste, Selbstzweifel – all das hat Thomas Staudt weitgehend aus seinem Alltag verbannt. Seine Übersetzungen hat er mittlerweile 60 Mal gelesen und überarbeitet. 2011 gründete er seinen eigenen Verlag. Bekehren möchte er mit seinen Büchern niemanden. Jeder soll seinen eigenen Weg finden, betont er. Ganz im Sinne von Murdo MacDonald-Bayne, der schreibt: „Ich möchte nicht, dass sie akzeptieren, was ich sage, denn es könnte womöglich ein neuer Glaube werden, probieren Sie es aus.“ ●


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Kiel / Lauenburg „Komm rein in meine Bude. Es ist gerad’ ein bisschen unaufgeräumt, ich komm direkt vom Kirchentag. Aber hier in der Küche geht’s“, plaudert Heiko Kiehn während er durch seine Wohnung flitzt. „Möchtest du vielleicht ein Bierchen?“, fügt er hinzu und lacht – es ist 11 Uhr. Das sind wohl die letzten Worte, die man von einem angehenden Priester erwartet. Mit seiner lockeren Art räumt der 32-Jährige von Anfang an mit den Vorurteilen auf, dass ein katholischer Priester und dessen Leben streng und fad sein müssen. Der gebürtige Lauenburger ist in der Ausbildung zum katholischen Priester und wurde im März in

er sich, ob es der richtige Weg ist. Mit den anderen Berufswünschen im Hinterkopf trat er wieder aus dem Priesterseminar aus und begann ein Lehramtsstudium in München. Doch er stellte fest, dass der Lehrerberuf nicht das war, was er wirklich wollte. Außerdem machte er die Erfahrung: „Gott ist treu, auch wenn ich selber nicht treu bin.“ Gott sei dagewesen, auch wenn er nicht immer regelmäßig gebetet habe. Der erneute Eintritt ins Priesterseminar war seine Art, auf diese Treue zu antworten. Über seinen Glauben spricht er gern. „Ich predige, was ich von Gott verstanden habe und gebe es weiter.“ Mit der Weihe

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„In meiner Familie spielte der Glaube eine große Rolle.“

„Ich predige, was ich von Gott verstanden habe und gebe es weiter.“

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Hamburg zum Diakon geweiht. Seitdem lebt und praktiziert er in der St. Heinrich-Kirche in Kiel, bis er in rund einem Jahr zum Priester geweiht wird. Kein alltäglicher Job in der heutigen Zeit. Doch schon als die Spielkameraden in seiner Kindheit Feuerwehrmann oder Astronaut werden wollten, dachte er darüber nach. „Ich bin von Kindesbeinen an mit Religion in Berührung gekommen. In meiner Familie spielte der Glaube eine große Rolle. Bei Tisch wurde gebetet und sonntags sind wir in die Kirche gegangen“, erinnert sich Kiehn. Eigentlich begann seine Karriere schon, als er mit neun Jahren Messdiener wurde – ungewollt. Er musste erst überredet werden, merkte dann aber schnell, dass es ihm Spaß machte. Vorher hatte er nur in der Kirche gesessen, jetzt konnte er sehen, was hinter den Kulissen passiert. Hier sah er zum ersten Mal den Priester als ganz normalen Menschen in Jeans. Ein prägender Moment: „Ich dachte mir, wenn der das kann, wenn der so normal ist, dann kann ich das auch.“ Nach den Anfängen als Messdiener kam die Jugendarbeit. „Die Gemeinde war Heimat für mich. Ich hatte dort viele Freunde“, erzählt der Diakon. Trotz allem hatte er zwischendurch andere Berufswünsche, wollte Zahnarzt werden und war dem Lehrerberuf nicht ab-

zum Diakon ist er einen wichtigen Schritt in diese Richtung gegangen, der aber auch Verzicht bedeutet. Denn damit hat er sich zum Zölibat verpflichtet und darf nicht heiraten. „Ich habe mich schon nach dem Abi für ein zölibatäres Leben entschieden. Doch keine eigenen Kinder haben zu können, ist ein richtiger Verzicht.“ Auf der anderen Seite sieht er den Zölibat aber auch als eine gute Lebensform mit vielen Freiheiten. „Ich kann einen Tag frei gestalten ohne Rücksicht auf Partner oder Familie.“ Eine Art Ausgleich bilden Freundschaften: „Ich habe viele gute Freunde und Freundinnen, mit denen ich intensiv sprechen und eine andere Art von Beziehung führen kann.“ Kiehn wirkt rundum zufrieden mit seinem Leben und der Arbeit als Diakon. Er ist viel unterwegs, macht Hausbesuche bei alten, einsamen und kranken Menschen, die nicht mehr zur Kirche kommen können, ist in der Jugendarbeit und in den Gottesdiensten tätig. „Mir gefällt an meiner Arbeit am meisten die Begegnung mit den Menschen.“ Noch während er plaudert, hüllt er sich Stück für Stück in sein Gewand, um sich für den Gottesdienst vorzubereiten. In diesem Augenblick wird er für Außenstehende zur Figur des Priesters, den er damals selbst als kleiner Junge beobachtet und bewundert hat. ●

Die St. Heinrich-Kirche in Kiel ist derzeit die Arbeitsstätte des zukünftigen Priesters Heiko Kiehn. KRUG

Gemeinde ist Heimat Heiko Kiehn wird in einem Jahr zum katholischen Priester geweiht. Von Kindesbeinen an hatte er diesen Berufswunsch. Er will weitergeben, was er von Gott verstanden hat. Sein Weg ist verbunden mit Verzicht auf Familie und Kinder. VON INA KRUG

geneigt. Doch nach dem Abi entschied er sich für das Priesteramt, studierte Theologie in Frankfurt am Main. Der überzeugte Christ zog ins Priesterseminar, eine Art Wohnheim für Männer, die sich auf das geistliche Amt vorbereiten. Hier werden sie neben dem

Studium von Geistlichen ausgebildet. Täglich kamen die Männer zum Gottesdienst zusammen und trafen sich in kleinen Gebetsgruppen. Jede Woche gab es einen stillen Tag oder Abend, an dem gebetet wurde. Als streng empfand Kiehn das Leben dort jedoch nicht: „Wir

führten kein Leben verschwiegen hinter Mauern. Ein Priesterseminar ist kein Kloster. Wir hatten Internet auf dem Zimmer – unzensiert, Telefon, haben zusammen gekocht, es wurde gefeiert und wir hatten sogar eine hauseigene Bar.“ Doch nach drei Jahren fragte


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Der Pastorenberuf ist nicht nur auf den Gottesdienst beschränkt, sondern schließt auch soziales Engagement mit ein, weiß Geske Weber. KUPFER

Kirche statt Klassenzimmer Eigentlich wollte Geske Weber Lehrerin werden – doch dann erschien ihr der Beruf der Pastorin abwechslungsreicher. Jetzt ist sie Vikarin in Horst (Kreis Steinburg). VON LINDA KUPFER

torenberuf sei sie trotzdem eher zufällig, beim Blättern in Büchern voller Berufe gestoßen. „Irgendwann habe ich angefangen, mich näher damit zu beschäftigen.“ Ihr gefiel, dass sie sich als Pastorin sozial engagieren könne und mit unterschiedlichsten Menschen zu tun haben würde. „Der Beruf ist sehr vielfältig, es geht um viel mehr als nur Gottesdienste.“ Weitere Aspekte seien beispielsweise die Seelsorge oder auch die Arbeit mit Konfirmanden. Doch das Studium war „phasenweise anstrengend“, erinnert sie sich. „Aber wenn ich dann in der Kirche war, habe ich gemerkt, dass es genau das ist, was ich machen will.“ Sie spricht schnell, aber dennoch ruhig. Ihre Augen strahlen. SieistzufriedenmitihrerBerufswahl, die ihr Leben umgekrempelt hat – gemeinsam mit ihrem Mann zog sie für das Vikariat von Kiel nach Horst. Die Auswahl dieser Ausbildungsgemeinde wurde bei einer Art „Speed-Dating“ getroffen: Pastoren aus 14 Gemeinden trafen auf 14 ange-

hende Vikare. „Dann gab es Einzelgespräche, die jeweils acht Minuten dauerten. Mehr als ein erster Eindruck war darum nicht möglich.“ Doch mit dem im Hinterkopf nahm sie einige Gemeinden in die engere Wahl. Dass sie die Zusage für die St. Jürgen Gemeinde bekommen hat, freut sie sehr. „Pastor Thomas steht hinter mir, das gibt mir eine große Sicherheit.“ ............................................

„Der Beruf ist sehr vielfältig, es geht um viel mehr als nur Gottesdienste.“ ............................................

Horst Fast ein bisschen stolz zeigt Geske Weber ein Schlüsselbund, das sie seit kurzem bei sich trägt. Die Schlüssel daran öffnen unter anderem die Tür zur Kirche in Horst. In der dortigen St. Jürgen-Gemeinde ist Geske Weber Vikarin – der letzte Ausbildungsabschnitt auf ihrem Weg zur Pastorin. Zuvor hatte die auf der Insel Föhr geborene und aufgewachsene 28-Jährige Theologie in Kiel studiert. Diese Ausbildung war alles andere als ein lang gehegter Plan: Nach dem Abitur wusste sie zunächst gar nicht, welchen Berufsweg sie einschlagen sollte. Lehrerin war in der engeren Wahl. „Aber ich wollte mich nicht auf bestimmte Fächer oder Altersstufen beschränken“, erzählt sie. Den berühmten Schlüsselmoment, in dem sie sich für ein Leben als Pastorin entschied, habe es bei ihr nicht gegeben. Zwar stamme sie aus einem christlich geprägten Elternhaus, habe gebetet und sei immer schon in die Kirche gegangen („Wir hatten einen ganz tollen Pastor zu Hause!“). Auf den Pas-

Dennoch hat sie auch Angst, zum Beispiel vor ihrer ersten Beerdigung. Mut macht ihr die Gemeinde: „Die Menschen hier sind sehr offen und haben mich herzlich aufgenommen.“ Vorgestellt hat sie sich ihnen unter anderem in Gottesdiensten, in denen sie bereits erste Lesungen übernommen hat. Einen eigenen Gottesdienst hat sie bisher noch nicht gehalten, weiß aber, was ihr selbst wichtig ist: „Ich brauche

ein Orgelvorspiel, um anzukommen und mich zu sammeln, und ein Orgelnachspiel, um rausgeleitet zu werden.“ Außerdem sei diePredigtalsHerzstückeinesjeden Gottesdienstes von Bedeutung. Wie die aufgebaut ist, lernt sie in den Seminaren während ihres Vikariats. Was sie daraus macht, liegt allein in ihren Händen. „Eine Predigt ist dann am besten,wennsieauthentischist“, meint sie. Ihren eigenen Stil müssesieabererstfinden.„Ichmöchte, dass die Leute aus meiner Predigt etwas mitnehmen, einen Denkanstoß bekommen. Auch wenn ich weiß, dass ich nicht alle erreichen kann.“ Aber: Sie müsse darauf achten, langsam zu sprechen und „nicht so zu rappeln“, weiß sie. Doch gerade im Vikariat habe sie die Chance, sich auszuprobieren und auch mal Fehler zu machen – darum genieße sie die 28 Monate als Vikarin. Besondersfreuesiesichaufdie Seelsorge-Kurse.„Ichhabeschon eine Seelsorge-Ausbildung im Krankenhaus gemacht“, erzählt sie. Gerade in den letzten Jahren habe sich diese Arbeit weiterent-

wickelt. „Statt ausschließlich Bibel-Versen gibt es starke Einflüsse aus der Psychologie. Trotzdem ist Gott immer mit dabei.“ Auch vor Gesprächen im Alltag scheut sie sich nicht: „Diese Gespräche zwischen Tür und Angel sind wahrscheinlich am spannendsten, weil die Schwelle, mich dann anzusprechen, nicht so hoch ist.“ Und die Chance, die Vikarin im Supermarkt anzutreffen, ist groß. Denn nach Feierabend entspannt sie beim Kochen und Backen. „Am liebsten, wenn ich vorher in Ruhe Zutaten einkaufen und mir Zeit nehmen kann.“ Wenn sie die nicht hat, liest sie ihre Kochbücher auch gern einfach so. „Ich mag es, in den Rezepten zu stöbern und zu lesen, wie die Gerichte zubereitet werden.“ Lieblingslektüre? „Momentan thailändisch.“ Beruflich wirkt Geske Weber, als hätte sie mit ihrer Wahl genau ihren Geschmack getroffen – auch wenn der Pastorenberuf auf Partys eher für „Fluchtreaktionen“ sorge. Doch das ist ihr egal. „Mein Vater fand sofort, dass es passt.“ ●


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Multi-Kulti unter dem Dach des Islam: der aktuelle Vorstand der Hochschulgemeinde. FOTO: IHG

Kampf gegen die Vorurteile Die Islamische Hochschulgemeinde gehört zu den aktivsten Studentenvereinigungen in Kiel, muss sich aber immer wieder gegen Vorurteile behaupten. Ihr Ziel: Ein Ende der Islamfeindlichkeit. VON CHRISTINA NORDEN

er in den Keller. Der 25-jährige Medizinstudent ist fast den ganzen Tag in der Bibliothek, um an seiner Doktorarbeit zu schreiben. Es gibt nur wenige Pausen – zum Beispiel für seine Gebete. Muhammed ist Moslem. Doch an der Universität Kiel gibt es für ihn keinen Rückzugsort. Deshalb geht er zum Beten ins Untergeschoss. Unter der Treppe hat er einen kleinen Teppich ausgebreitet. Eine App auf seinem Smartphone zeigt ihm, wohin er sich nach Mekka ausrichten muss. Glaube macht auch vor der Uni nicht Halt. Seit 2009 gibt es in Kiel außer der Evangelischen und der Katholischen auch eine Islamische Hochschulgemeinde (IHg). Muhammed ist ihr Vorsitzender. Die IHg versteht sich als Stimme aller Muslime in Kiel und setzt sich für deren Bedürfnisse ein. Dazu gehört auch

ein Rückzugsort zum Gebet. Seit einem muslimischer Glaube. Neben dem innerJahr bemüht sich Muhammed darum. islamischen Dialog versucht die insge„Wir wollen keine Moschee in der Uni samt 50 Mitglieder umfassende Gruppe bauen“, klärt er auf. Er wünscht sich nur mit anderen Glaubensgemeinschaften eieinen „Raum der Stille“, den er auch mit nen intensiven Kontakt zu pflegen. Studenten teilen würde, die Yoga machen, um sich vom Unistress zu entspan- ......................................................... nen. Doch bisher blieb sein Einsatz ohne „Es ist unser Wunsch endlich aus dem Erfolg. Schuld sei der Platzmangel an der Schatten eines negativen Islambildes Universität, hat die Verwaltung ihm gezu treten und die interkulturelle sowie genüber argumentiert. interreligiöse Verständigung zu fördern“ Doch die Suche nach einem Raum der Stille bildet nur einen kleinen Ausschnitt des Aufgabenspektrums der IHg. „Unsere Younes Al-Amayra Mitglieder gehören verschiedenen Staaten, Völkern, Rechtsschulen, StrömunDas über alldem thronende Hauptziel gen und Gruppen an“, erklärt die zweite IHg-Vorsitzende Amina Khalid (21). Al- der Gruppe ist ein vorurteilsfreies Islein dem Vorstand gehören Türken, Pa- lambild. „Es wird viel gesprochen“, sagt kistani, Ägypter und Kurden wie auch Pa- Muhammend. Damit meint er die vielen lästinenser an. Was alle vereint, ist ihr Vorurteile. Deutschland ist Europameis-

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Kiel Wenn Muhammed beten will, geht

ter, wenn es um Islamfeindlichkeit geht. Das ist das zentrale Ergebnis einer der bislang größten repräsentativen Umfragen zur religiösen Vielfalt in Europa. Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster führte sie 2010 kurz vor der Sarrazin-Debatte mit TNS Emnid in fünf Ländern durch. Demnach sprechen sich Deutsche deutlich öfter als Franzosen, Dänen, Niederländer oder Portugiesen gegen neue Moscheen und Minarette aus. Muhammed und Amina können ein Lied davon singen. Die Voreingenommenheit erleben sie tagtäglich. „Ich kenne viele Mädchen, die von Dozenten benachteiligt werden, weil sie ein Kopftuch tragen“, berichtet Amina. Sie selbst sei zum Glück noch nie Opfer von Diskriminierung geworden. Vielleicht liege das an ihren Studienfächern Politik- und


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Am Study Day witbt Muhammed Recber auf humorvolle Art für das Medizinstudium.

Eine Einladung zum Gebet ist diese Nische während der Islamwoche. FOTOS: IHG

Islamwissenschaft, vermutet sie. Immer wieder müssen sich die Mitglieder der IHg von den als extrem geltenden Salafisten abgrenzen. „2011 wollte der radikal-islamistische Prediger Pierre Vogel an der Uni Kiel einen Vortrag halten“, erklärt Muhammed. Organisiert wurde die Veranstaltung von muslimischen Studenten, allerdings nicht von der IHg, sondern von der Hochschulgruppe Maghreb. „Wegen der religiösen Zugehörigkeit haben viele gedacht, wir hätten etwas mit Vogels Vortrag zu tun“, ergänzt Amina. „Das war aber absolut nicht der Fall.“ Vogel wurde letztlich vom Präsidium der Hochschule wegen seinen menschenverachtenden Positionen ausgeladen. Seitdem muss die IHg allerdings bei der Anmeldung von Veranstaltungen Lebensläufe der eingeladenen Referenten vorlegen. „Das macht uns aber nichts aus“, ergänzt Muhammed. „Wir setzen auf

Transparenz und Aufklärung.“ Der Erfolg gibt ihnen Recht. Beim Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) gilt die IHg als eine der aktivsten Hochschulgruppen. Zu ihren Veranstaltungen kommen auch viele Nicht-Muslime. Denn sehr häufig geht es nicht ausschließlich um Religion, sondern auch um Politik oder Gesellschaft wie kürzlich bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema „Antimuslimischer Rassismus im Alltag“. Ganz besonders stolz sind Amina und Muhammed auf die größte Veranstaltung der IHg: Die Islamwoche. Seit vier Jahren veranstalten sie im Sommersemester eine einwöchige Reihe von Vorträgen und Podiumsdiskussionen mit Akademikern und Politikern. „Das zieht nicht nur Studenten an“, hat Amina beobachtet. Dieses Jahr lautete das Motto „Beyond sense and science“. Es

ging um das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft, Kaligraphie und Medizinethik im Islam. Höhepunkt war der „iSlam“, ein muslimischer Poetry Slam. Dabei können junge, talentierte Muslime sich sowohl zum Geschehen in Deutschland als auch zu Ereignissen weltweit in Form von lyrischen Texten äußern. Das Ziel der durch Deutschland tourenden Veranstaltung erklärt der Organisator und frühere Vorsitzende der IHg Kiel Younes Al-Amayra: „Die Liebe zum Islam ist beim iSlam die treibende Kraft. Es ist unser Wunsch endlich aus dem Schatten eines negativen Islambildes zu treten und die interkulturelle sowie interreligiöse Verständigung zu fördern.“ Genau das ist es, was sich Amina und Muhammed für ihre Kieler Uni wünschen. Mit der diesjährigen Islamwoche dürften sie ihrem Ziel wieder ein Stück näher gekommen sein. ●

HOCHSCHULGEMEINDE

DIE VORSITZENDEN Amina Khalid (21) wurde in Deutschland geboren. Ihre Eltern kommen aus Pakistan. Die zweite Vorsitzende der IHg studiert Politik- und Islamwissenschaften im sechsten Semester. Sie sieht sich selbst als Deutsche und wünscht sichmehr politische Offenheit gegenüber dem Islam. Muhammed Recber (25) wurde in der Türkei geboren. Als er zehn Jahre alt war, kam er mit seinen Eltern nach Deutschland. Er bekam eine Hauptschulempfehlung. Sein Vater schickte ihn trotzdem auf ein Gymnasium.HeutestudiertMuhammed im 11. Semester Medizin und schreibt an seiner Doktorarbeit. Er sieht sich selbst als deutscher Moslem.

Nicht zuletzt wegen ihrer Kopfbedeckung werden muslimische Studentinnen oft benachteiligt: Die Veranstaltung „Kopftuch runter“ will darauf aufmerksam machen. NORDEN


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Schleswig Leben, wie die Bibel es ver-

Im Königreichssaal in Schleswig treffen sich regelmäßig etwa 100 „Verkündiger“, also getaufte Zeugen. Immer mit dabei: Wolfgang Czajka aus dem Ältestenrat. FOTO: WELKENER

Warten auf das Paradies Die Zeugen Jehovas leben gottgefällig und bibelkonform. Dadurch wollen sie sich ihren Platz in Jehovas Königreich sichern. Alle anderen – so ihre Überzeugung – werden eines Tages vernichtet. VON ANNE WELKENER

andenGerichtstageinfesterBestandtteil. meinschaft mit religiösen Themen und „Harmagedon“ nennen sie diesen Zu- Fragestellungen, leisten ihren Predigtstand, wenn Jehova einen Schlussstrich dienst ab, um anderen ihren Glauben näziehen und die Erde reinigen wird. Der herzubringen. Bei allem steht die Bibel im Weg zu diesem Ende, dem für die Zeugen Mittelpunkt. Da wundert es nicht, dass ein Neubeginn in paradiesischen Zuständen folgen soll, wird jedoch immer be- ......................................................... schwerlicher. „Es muss erst schlechter „Das sind die letzten Tage, werden, damit es anschließend besser aber wir sind überzeugt, werdenkann“,istWolfgangCzajkasicher. Ihnen selbst gehe es ja noch gut, aber glodass Gott die Rettung bringt.“ bal betrachtet sei die Situation auf der Welt schlimm. „Der Druck wird immer Gunta Czajka größer, es wird immer grauenvoller auf der Erde. Von nun an geht’s bergab“, sagt seine Frau, lacht kurz auf und erklärt: Wolfgang Czajka zu jedem Aspekt ent„Das ist halt die Weltlage.“ Verrückt ma- sprechende Bibelstellen parat hat. Er ist chen solle man sich deshalb aber nicht, einervonachtÄltesten,derVersammlung schließlich gebe es einen Ausweg. Ihr der Zeugen Jehovas in Schleswig. Als ÄlGlaube lasse sie gelassen bleiben. Wolf- tester entscheidet er mit darüber, wann gang Czajka: „Wir leben nicht in Panik. jemandausderGemeinschaftderZeugen Das sind die letzten Tage, aber wir sind ausgeschlossen wird. Denn wenn ein überzeugt, dass Gott die Rettung bringt.“ Glaubensbruder oder eine GlaubensUmgerettetzuwerden,folgensiestrikt schwester in Konflikt mit dem Gesetz den Regeln der Bibel: Täglich lesen sie Gottes gerät – zum Beispiel durch Ehedarin, beschäftigen sich zwei Mal pro Wo- bruch, Hurerei (zum Beispiel Sex vor der che auf den Treffen ihrer Glaubensge- Ehe),BetrügereioderDiebstahl–unddie-

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langt – das ist der Lebensinhalt von Wolfgang und Gunta Czajka. „Wir wollen den Menschenerkennenhelfen,woderwahre Glauben liegt.“ Als Zeugen Jehovas kennt und lebt das Ehepaar aus Kropp im Kreis Schleswig-Flensburg das, was für sie der „wahre Glauben“ ist. Nach Jehova, dem GottderBibel,denihrerMeinungnachalle Christen so nennen müssten, richten sie ihr Denken und Handeln aus: „Die Bibel ist der Maßstab für jeden Christen“, sagt der Rentner. „Und das nicht nur in Teilen“, ergänzt seine Frau. „Die Bibel als Ganzes ist maßgeblich. Wir leben nach dem Gesetz Gottes − in aller Konsequenz.“ Aber was sind diese Konsequenzen? Kurz gesagt: Keine Geburtstage (ist ein heidnisches Fest und götzendienerisch, außerdem verurteilt die Bibel, dass eine Personsobesondersherausgestelltwird), kein Sex vor der Ehe (gilt als Krönung einer ehelichen Liebe) und keine Blutübertragungen (Bibel gebietet, dass man sich des Blutes enthalten soll). Heiraten dürfen Zeugen Jehovas, wen sie möchten, allerdings wird empfohlen innerhalb des gleichen Glaubens, also „im Herrn“ zu heiraten. Wolfgang Czajka erklärt das mit einem Bild: „Spannt man einen Ochsen undeinPferdvoreinenKarren,dannzieht das Gespann schief.“ Die Czajkas sind überzeugt, kein Teil derWeltzusein.Dasbesageeinbiblisches Gebot. „Wir halten uns ziemlich raus aus der Welt, aus allem, weil wir wissen, dass die Menschen nie eine Lösung für alle Probleme finden werden. Durch Menschenhand werden niemals Glück und Frieden auf die Erde kommen“, so Gunta Czajka. Deshalb gehen die Zeugen nicht wählen. Sie respektieren die Regierung, halten sich an deren Gesetze, aber bringensichnichtein−zumindestnichtinder Demokratie. Sie leisten ihren Beitrag, indem sie Gottes Botschaft verkünden, denn wenn die Menschen das umsetzen würden, was Gott sie lehrt, gäbe es weniger Böses – davon ist sie überzeugt. Deshalb gehen sie von Tür zu Tür oder stehen mit ihren Zeitschriften „Erwachet!“ und dem „Wachturm“ in der Einkaufsstraße. „Es steht in der Bibel, dass wir von Haus zu Haus gehen sollen, das sollte jeder Christ tun“. Sie seien Außenseiter, obwohl sie das täten, was Gott will. „Die gute Botschaft zu verkünden ist unsere Pflicht, auch wenn den Menschen das teilweise nicht gefällt. Manche werden sogar aggressiv, aber wir haben es ja nur gut gemeint“, so die 63-Jährige. Denn Jehovas Zeugen seien überzeugt, den Menschen dabei zu helfen, sich einen Platz im ewigen Paradies zu sichern. Den verdiene jedoch nur, wer genauso gottgefällig und bibelkonform lebt, wie sie selbst. „Alle, die sich keine Mühe geben, Gottkennenzulernen,werdenvernichtet. Gott wird gerecht richten.“ Und das schon bald. Denn im Weltbild der Zeugen Jehovas ist auch der Glaube

ses Fehlverhalten nicht aufrichtig bereut, wird die Person aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Zu dem AusgeschlossenenwerdeeingewisserAbstandgehalten, um ihn erkennen zu lassen, „dass er die falsche Richtung einschlägt.“ Denn: Schlechte Gesellschaft zerstöre nützliche Gewohnheiten, so Wolfgang Czajka. Wer sich einmal für den Glauben an Jehova entscheide, müsse vollkommen dahinter stehen. „Man geht nicht konform mit dem Glauben, wenn man einzelne Aspekte oder Herangehensweisen kritisiert“, erklärt Gunta Czajka und ergänzt: „Wenn ich zweifle, dann bin ich kein Zeuge Jehovas.“ Kritik, zum Beispiel an Bibelstellen,seinichtsanderesalsUnverständnis. „Ich werde Gott nicht kritisieren. Es liegt an mir, als unvollkommenen Menschen, dass ich manches nicht verstehe“, sagt der Älteste. Unvollkommen sei ihrer Ansicht nach jeder Mensch – auch sie selbst. Trotzdem ist Gunta Czajka mit ihrem Glauben glücklich. „Wenn wir gehorsam sind, werden wir von Gott getragen, da fühlt man sich geborgen. Das macht Herzensfrieden.“ ●


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Schleswig-Holstein Bei den Zeugen Jehovas werden Leute wie Susanne Olsen* U-Boote genannt. Sie tauchen in unregelmäßigen Abständen auf, dann wieder für längere Zeitab,erscheinennichtzweiMalproWochebeidenTreffen, wie es üblich ist. „Ich bin noch drin. Offiziell. Aber in mir drin, bin ich eher draußen“, sagt sie nachdenklich. „Man schleicht sich immer mehr zurück, nimmt weniger teil, in der Hoffnung, dass man vergessen wird.“ Vergessen zu werden ist aus Sicht von Olsen eine dankbare Alternative zur offiziellen Herangehensweise. Es gebe nämlich keinen Weg, die Zeugen Jehovas ehrenvoll zu verlassen, sagt sie, und beschreibt die Misere, in der sie steckt. Ein freiwilliger Selbstaustritt hätte den Gemeinschaftsentzug zur Folge: Die Zeugen Jehovas würden sämtlichen Kontakt zu ihr abbrechen, sie nicht einmal mehr auf der Straße grüßen. Zeugen Jehovas befreunden sich nur mit Zeugen Jehovas, deshalb würde nach einem Selbstaustritt das soziale Umfeld von einem auf den anderen Tag wegbrechen. Selbst einige Familienmitglieder würdensichvonihrabwenden.„DawirdeinemderBoden unter den Füßen weggezogen.“ Nun sitzt sie zwischen den Stühlen, ist nicht Zeugin und nicht Ausgeschlossene. „Mir ist schon bewusst, dass das nicht ewig so weitergehen kann“, sagt sie und entfernt sich mit kleinen aber stetigen Schritten von ihrer religiösenHeimat.AufdiesemWeghatsiegelernt,umzudenken. „Die Zeugen Jehovas sehen alles schwarz-weiß. Sie selbst sind gut, die anderen schlecht. Sie sind absolut davon überzeugt, dass einzig sie die richtige Religion haben.“ Zeugen Jehovas glauben daran, dass ihr Gott Jehova in naher Zukunft darüber richten wird, welche Menschen dem Untergang geweiht sind und wer ins Paradies kommt. „Sie leben heute so, dass sie bald vor dem Gottesgericht überleben“,erklärtOlsenundberichtet,dasssienachihrerfrühen Hochzeit („Wenn man keinen Sex vor der Ehe haben darf, heiratet man früh“) aus ihrem Beruf ausgestiegen ist, um sich ganz auf den Pionierdienst zu konzentrieren. Sie lebte in der ständigen Panik noch nicht gottgefällig genug gewesen zu sein und versuchte so vielen Menschen wie möglich ihren Glauben näher zu bringen, damit auch sie als Zeugen Jehovas dem sicheren Ende entgehen. Das sei vergleichbar mit einem Brand im Nachbarhaus, habe man ihr erklärt: Man würde losrennen und versuchen, so viele wie möglich zu retten. In ihrer noch jungen Ehe haben sie und ihr Mann sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, Kinder zu bekommen – bis zum Gottesgericht würde schließlich nicht mehr viel Zeit vergehen. „Zum Glück“, wie sie heute sagt, „kamen die Kinder dann doch recht schnell.“ Mittlerweile sind sie erwachsen. Sie selbst wurde mit dem Glauben groß. Vor fünf Jahren kamen ihr die ersten Zweifel. Damals versuchte sie, eine Frau von den Vorzügen ihres Glaubens zu überzeugen. Deren kritische Fragen parierte sie locker, antwortete „nach Schema F“, wie man es ihr beigebracht hatte, merkte aber, dass ihr selbst diese Antworten nicht reichten. Sie begann im Internet zu recherchieren. Auf Seiten wie www.sektenausstieg.net wurde sie fündig und kam auch mit anderen Zweifelnden ins Gespräch. „Ich habe irgendwann angefangen, selbst zu denken, habe den Selbstdenk-Apparat bei den Treffen nicht mehr an der Garderobe abgegeben.“ Die mehrfache Mutter zog sich langsam aus der Gemeinschaft zurück, wurde Mitglied in einem Verein, knüpfte dort und an ihrem Arbeitsplatz neue Kontakte. „Das ist eine interessante Erfahrung: Ich kann mir meine Freunde jetzt selbst aussuchen, muss mich nicht mehr an die Glaubensgemeinschaft halten.“ Von ihren neuen Freunden habe sie Zuneigung, Rückhalt und liebevolles Entgegenkommen erfahren. Und das in einer so aufrichtigen Art, wie sie es in 40 Jahren in der Glaubensgemeinschaft noch nicht erlebt habe. Die familiäre Atmosphäre, die Worte wie Glaubensbru-

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Sie beginnt gerade ein neues Leben, möchte jedoch anonym bleiben, weil sie die Konsequenzen fürchtet, mit denen ihre Familie sonst leben müsste. FOTO: WELKENER/SCHRÖER

Ausgestiegen „In ihren Augen habe ich mein Leben weggeworfen – in meinen beginnt es erst.“ Susanne Olsen* ist als Zeugin Jehovas groß geworden. Doch jetzt, mit Mitte 40, orientiert sie sich um. VON ANNE WELKENER

der und Glaubensschwester suggerieren, stehen nämlich im krassen Gegensatz zu dem Druck, den Olsen in ihrem alten Alltag verspürte. „Von außen sieht das aus, als machen wir das freiwillig, den Predigtdienst zum Beispiel, aber der psychische Druck von innen und die Kontrolle untereinander sind massiv.“ Die vielen Regularien seien für manche ein helfendes Gerüst, „aber für Menschen, die wissen, was sie wollen, kann das beengend wirken“. Besonders ärgert sie, „wie Menschen sich anmaßen, solche Regularien aufzustellen, und dann sagen: Das kommt von Gott. In mir drin bin ich irgendwie gläubig. Dieser Gott kann das nicht von uns verlangen.“ Erleichternd war für sie die Erkenntnis: „Ich kann aufrichtig gläubig sein, auch

wennichkeinZeugeJehovasbin.Esgibtnichtnurschwarz und weiß, es gibt auch ganz viel dazwischen.“ Die Vorstellung, auch öffentlich zu dieser neuen Überzeugung zu stehen, macht ihr mittlerweile keine Angst mehr:„Ichhabenichtmehrvielzuverlieren,imGegenteil: Ich habe viel Schönes gewonnen.“ Sie fühle sich jetzt freier, sogar gesundheitlich besser und wie von einem Korsett befreit. Von den Zeugen Jehovas wünscht sie sich Gesprächsbereitschaft auf Augenhöhe und dass sie „mir gegenüber die Toleranz aufbringen, die sie von anderen gegenüber ihrem eigenen Glauben erwarten“. ● *Name von der Redaktion geändert


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In der Klosterkirche beten die Mönche mehrmals täglich ihre Psalmen. FOTOS: TYRELL

48 Stunden Stille Fernab des turbulenten Alltags suchen immer mehr Menschen Ruhe und Erholung im Kloster. Doch was bewirkt die innere Einkehr in vollkommenem Schweigen? Ein Selbstversuch im Benediktiner-Kloster Nütschau. VON JOHANNA TYRELL Nütschau „Schweigen? Du? Und Du

darfst wirklich gar nichts sagen?“ Die Verwunderung steht jedem ins Gesicht geschrieben, dem ich von meinem Plan erzähle, zwei Tage schweigend im Kloster Nütschau zu verbringen. Und doch stehe ich Anfang Mai vor den Pforten des Benediktiner-Klosters in der Nähe von Bad Oldesloe. Zu meiner Überraschung bin ich aufgeregt, habe fast ein bisschen Angst ob meiner Courage. Ich fasse mir ein Herz und betrete, wenn auch zögernd, den „Stillen Bereich“, der sich hinter der Klosterkapelle und den Speiseräumen erstreckt. Die schwarze Tür fällt hinter mir ins Schloss – Stille. Mein Zimmer „St. Hildegart“ ist schlicht eingerichtet. Ein schmales Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Schrank und ein Kreuz an der Wand. Fernseher, Telefon oder auch nur eine mobile Internetverbindung gibt es nicht. Ich schalte mein Handy aus. So langsam begreife ich, was Stille bedeutet. Wie Watte legt sie sich über mich, kriecht in mich rein und schottet mich vom Rest der Welt ab. Meine Gedanken fliegen noch. Ich ertappe mich dabei, wie ich wieder und wieder in Gedanken überprüfe, ob ich alles erledigt habe, ob nicht noch eine dringende Mail zu schreiben, ein Telefonat zu führen ist.

Siedendheiß fällt mir ein, dass ich noch zwei Bücher in der Bibliothek abgeben muss – der Gedanke lässt mir für eine halbe Stunde keine Ruh’. Ich packe erst einmal meine Sachen aus, blättere durch die Bibel und die Regeln des heiligen Benedikts, die auf meinem Nachttisch liegen, lese den Flyer über das Leben im Stillen Bereich des Klosters, schaue ins Bad, in den Kleiderschrank und prüfe die Matratze meines Bettes. Was tut man eigentlich während des Schweigens? Beten? Meditieren? Aus dem Fenster schauen? Darüber habe ich mir vorab gar keine Gedanken gemacht. 14 Uhr: Ich schaue aus dem Fenster. Vier Enten sonnen sich dort. ... Stille ... 14.30 Uhr: Ich sehe immer noch aus dem Fenster. Eine Ente ist inzwischen weg. Zwei Erpel kämpfen in einem kleinen Bach miteinander. ... Stille ... So kann das jetzt nicht die nächsten zwei Tage weiter gehen, denke ich und beschließe spazieren zu gehen. Birken in zartem Frühlingsgrün und moorige Teiche säumen den schmalen Weg. Die Stille ist von launischer Natur: Je stärker ich sie suche, desto mehr scheint sie sich mir zu entziehen. Je leiser die Welt um mich herum wird, desto lauter werden die

Stimmen in meinem Kopf. Nach der klösterlichen Stille ist das Vogelkonzert schier ohrenbetäubend. Doch zumindest die vielen lauten und bunten Gedanken in meinem Kopf werden ruhiger. Ich merke: Es gibt zwei Arten der Stille – eine in der Welt um mich herum und eine in mir drin. Die erste findet man im Kloster Nütschau. Und die innere Stille? „Die vielen Gedanken gehören dazu“, wird Bruder Lukas mir später erklären. Man müsse sie zulassen und zwischendurch immer wieder versuchen „die Seele zurückzuholen“, wie er es beschreibt. Der 36-Jährige ist erst seit knapp drei Jahren in Nütschau. Zuvor hat er fast zehn Jahre in einer Werbeagentur gearbeitet. „Ich weiß was Lärm, Hektik und Stress bedeuten“, sagt er rückblickend. Dabei hat Stille keineswegs etwas mit Stillstand zu tun. Vielmehr könne nur sie dem Menschen Raum für Entscheidungen im Leben geben. Zu lebenswichtigen Entscheidungen reicht meine innere Stille noch nicht aus, doch ich beschließe in die Vesper zum Abendgebet zu gehen. Die Tagesstruktur im Kloster ist durch das gemeinsame Stundengebet und das Singen der Liturgie geprägt: vier Mal am Tag, sieben Tage die Woche. „Dem Gottesdienst ist nichts vorzuzie-

hen“, lautet eine der Ordensregel des Heiligen Benedikts. Wenn die Glocken auf der Schlosskirche läuten, legen die Klosterbewohner ihr Tagewerk zur Seite und eilen zum Gebet. 6 Uhr morgens: Helles Glockenläuten schallt über das Klostergelände. Ihr nachdrücklicher Ton duldet keinen Widerspruch, kein weiteres Umdrehen im Bett. Der Hahn vor meinem Fenster

Bruder Lukas ist seit knapp drei Jahren im Kloster Nüttschau, zuvor arbeitete er bei einer Werbeagentur.


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stimmt ihr lautstark zu. Wohl oder übel schlüpfe ich in meine Jeans und mache mich auf den Weg in die Klosterkirche. 6.30 Uhr: Fröstelig und noch nicht richtig wissend, wo ich bin und was nun von mir verlangt wird, knie ich in einer der Holzbänke, die sich rund um den gläsernen Altar gruppieren.Nach und nach singt Bruder Matthäus zwei Zeilen eines Psalms vor, die übrigen Mönche und die Gemeinde antworten mit den nächsten beiden Zeilen. Eine Orgel gibt es nicht. Archaisch klingen die Mönchsstimmen durch den Kirchenraum. Meine Stimme will mir noch nicht richtig gehorchen – das Schweigen und die frühe Uhrzeit haben ihre Spuren hinterlassen. Am Ende der „Vigil“ (eigentlich „Nachtwache“) verharren alle im stillen Gebet. Sechs, sieben, acht Minuten verstreichen in vollkommender Ruhe. Die Zeit scheint still zu stehen, bis um sieben Uhr die Glocke schlägt. Nahtlos schließen sich die „Laudes“, das Morgenlob, an. Gebetet wird – wie in allen Benediktiner-Klöstern – vor allem in Psalmen. Anders als in anderen Klöstern geschieht dies auf deutsch. Der Grund: „Kloster Nütschau war schon immer ein Gästekloster. Uns ist es wichtig, dass jeder Gottes Botschaft versteht“, erklärt Bruder Lukas. Vier Wochen dauert es, bis die Nütschauer Mönche alle 150 Pslame des Alten Testaments durchgebetet haben. „Im Mittelalter brauchten die Mönche nur eine Woche – sie haben beispielsweise Körbe geflochten und dabei die ganze Zeit gebetet“, erklärt Bruder Lukas. Körbe werden im heutigen Nütschau nicht mehr geflochten. Doch gemäß der Ordensregel „Ora et labora“, arbeite und bete, gehen die Nütschauer Mönche verschiedensten Tätigkeiten nach. Viele arbeiten im Gästebetrieb mit, betreuen Jugend- und andere Gruppen, führen Einzelgespräche. Je nach Neigung kümmert sich ein Bruder um die 13 Bienenstöcke des Klosters, die Gärten oder die Öffentlichkeitsarbeit. „Dabei wird die dritte Regel der Benediktiner, das „lege“, die Aufforderung zum Lesen, vergessen“, sagt Bruder Lukas. Für die 17 Mönche des Benediktiner-Klosters gehört das kontemplative, das betrachtende Schweigen und Lesen zum Alltag.

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Idyllisch im Grünen liegt das Kloster Nütschau.

7.30 Uhr: Frühstück. Für Einzelgäste im Schweigen gibt es einen gesonderten Raum, abseits der anderen Gäste, in dem nicht gesprochen wird. Wir sind an diesem Morgen zu viert. Es ist ein sonderbares Gefühl mit Menschen zu essen, von denen man gar nichts weiß, ja noch nicht einmal deren Stimme kennt. Aber es ist nicht unangenehm sondern fast vertraut, wie wir da zusammen sitzen. Und es ist ein gutes Gefühl sich nicht unterhalten zu müssen. Dennoch überlege ich, was für Lebensgeschichten wohl hinter den Menschen stecken, die hier mit mir an einem Tisch sitzen. Es ist so still, dass beim Brötchen aufschneiden das Knuspern der Kruste, wie ein Gewitter wirkt. Das Schweigen scheint unser aller „Antennen“ sensibilisiert zu haben. Der junge Mann neben mir reicht mir die Butter, noch ehe ich ihn darauf aufmerksam gemacht habe. Ein Nicken zum Dank – man versteht sich auch ohne Worte. Das Schweigen macht uns zu einer Gruppe, auch wenn

„St. Hildegart“ – Das Zimmer unserer Reporterin.

wir alle als Einzelgänger in Nütschau sind und uns mit uns selbst beschäftigen. Begegnen wir uns in den kommenden Tagen auf dem Klostergelände, zeigte ein erkennendes Lächeln oder Kopfnicken das Wiedererkennen. Das Interesse am klösterlichen Kurzurlaub in Deutschland ist groß. Laut einer Umfrage der Deutschen Ordensoberkonferenz (DOK) aus dem Jahr 2011, berichten 83 Prozent der 182 teilgenommenen Klöster von gleichbleibenden oder steigenden Besucherzahlen. Die Gründe für einen Aufenthalt sind dabei verschieden. 37 Prozent der Klostergäste suchen die geistliche Erfahrung, 36 Prozent wollten in der klösterlichen Atmosphäre Ruhe und Erholung finden. Das Kloster Nütschau zählt alljährlich 14 000 Übernachtungen. Nach 48 Stunden hat das Schweigen ein Ende. Ein letztes Mittagsgebet, ich verlasse das Kloster. Der turbulente Alltag beginnt hinter der Klostertür. Es ist erstaunlich, wie laut die Menschen um

48 Stunden Schweigen – für Johanna Tyrell eine Herausforderung.

mich herum auf einmal reden und wie eilig sie es haben. Erst jetzt fällt mir auf, wie viel Ruhe ich in den letzten zwei Tagen gefunden habe. Eine gute Erfahrung. ●

KLOSTER NÜTSCHAU

DEUTSCHLANDS NÖRDLICHSTES BENEDIKTINER-PRIORAT Das Priorat St. Ansgar (auch Kloster Nütschau genannt) ist das nördlichste Benediktiner-Kloster in Deutschland. 1951 wurde es von Mönchen der Abtei Gerleve in Westfalen gegründet, um Seelsorge für die vielen Kriegsflüchtlinge in Schleswig-Holstein zu betreiben. Anfangs spielte sich das gesamte klösterliche Leben in 1577 von Heinrich Rantzau erbauten RenaissanceHerrenhaus ab. Im Lauf der Zeit kamen das Konventgebäude (Wohnhaus der Mönche), das Bildungshaus St. Ansgar, der „Stille Bereich“, das Männerhaus St. Raphael, das Jugendhaus St. Benedikt und die Klosterkirche hinzu. Heute ist das Kloster selbstständig. Die 17 Benediktiner-Mönche im Alter von 36 bis 82 Jahren, im Kloster Nütschau leben nach den Regeln des Heiligen Benedikts von Nursia (480-547). Sie haben ein Ordensgelübt abgelegt, das die Oboedientia (Gehorsam), Stabilitas loci (Ortsgebundenheit, die das Mitglied an ein bestimmtes Kloster bindet) und Conversatio morum suorum (klösterlichen Lebenswandel) umfasst, wobei Letzterer die freiwillige Armut und die ehelose Keuschheit mit einschließt.


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In der Bibel liest er fast jeden Tag: Neuapostole Tobias Nissen.

FOTO: WALTHER

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Kirchgang mal zwei „Wie, du gehst zweimal die Woche in die Kirche?“ – ein Satz, den Tobias Nissen schon oft gehört hat. Doch das gehört bei ihm nun mal dazu. Wir haben mit dem 28-Jährigen gesprochen und erfahren, was es heißt, den neuapostolischen Glauben zu leben. VON JANA WALTHER

In seinen Glauben wurde Tobias hiLadelund Mit großen Schritten betritt der 28-jährige Tobias Nissen den Raum. neingeboren. Sein Ur-Opa hat den neuEr trägt Jeans, dazu weiße Turnschuhe apostolischen Glauben in der Region verund einen schwarzen Wollpulli. Heute breitet. Auch sein Vater ist in der Kirche hat er frei, der Edeka in Breklum muss aktiv. Er übt das Amt des Bezirksevangemal einen Tag ohne seinen Marktleiter listen aus. „Überhaupt ist meine ganze auskommen. Die Büroarbeit bleibt für ei- Familie neuapostolisch. Das ist meistens nen Tag liegen. Endlich hat Tobias Zeit bei uns so. Jeder kennt jeden in der Kirfür Sport mit seinen Kumpels und für sei- che.“ Auch Tobias ist in seiner Kirche aktiv. ne Verlobte Tina. Ein langer Spaziergang am Wasser und gemütlich ein Glas Wein Als Jugendbetreuer organisiert er Austrinken – das macht so einen freien Tag flüge ins Schwimmbad, Fahrten zu Jufür ihn perfekt. Mit Tina wohnt er ge- gendgottesdiensten oder Spiele-Abende meinsam in einer Wohnung in Bordelum, – alles Veranstaltungen, an denen er früim Herzen Nordfrieslands. Dieses Jahr her auch teilgenommen hat. Die Kirche im Juni steht die Hochzeit an. Sie wollen ist eben ein wichtiger Teil in seinem Lespäter Kinder, vielleicht auch einen ben. Das war schon immer so. „Zwar wird Hund. Tobias Nissen ist eben ein ganz man hineingeboren und man hat zunächst eigentlich keine Wahl. Es ist aber normaler junger Mann. Doch dann möchte er beten. „Lieber nicht so, dass man gezwungen wird. Es Vater, leg deinen Segen über das Inter- gehört einfach für mich dazu.“ Als kleiner Junge hat Tobias das nicht view mit der Zeitung und leg deinen Segen auch auf das Engagement der Redakteure mit ihrem Magazin über den Glau- ......................................................... ben. Lass uns ein schönes Gespräch haben. In Jesu deiner großen Liebe Willen „Es ist jeden Tag eine Entscheidung Amen“. Das Beten vor dem Gespräch war und ich entscheide mich jeden Tag für ihm wichtig. Schließlich sitzt er hier in eiGott und meinen Glauben.“ ner Kirche, in seiner Kirche, in der Kirche in Ladelund, direkt an der dänischen Grenze. Tobias Nissen Tobias Nissen ist neuapostolisch. Das Neuapostole bedeutet für ihn zweimal die Woche in die Kirche gehen. Mittwoch und Sonntag. Dabei zieht es ihn von Breklum immer immer verstanden, erinnert er sich. Früwieder in seine Heimatgemeinde. Neu- her fand der Gottesdienst sonntags sogar apostolisch – das bedeutet, dass er einer zweimal statt, morgens und nachmittags. christlichen Glaubensrichtung angehört. „Und immer fing die Kirche an, wenn die Hier gibt es einen Stammapostel statt des Disneyfilmparade noch nicht zu Ende Papstes. Hier gibt es Vorsteher statt Pas- war“, sagt er lachend. „Nie konnten mein toren. Tobias glaubt an die Auferstehung Bruder und ich das bis zum Ende sehen. Jesu. Das Evangelium und die Seelsorge Als dann der Gottesdienst am Sonntagstehen in seiner Kirche an oberster Stel- nachmittag abgeschafft wurde, haben wir gejubelt.“ le. In der Schule gab es wegen seines Seinen Glauben lebt der gebürtige Flensburger: Er liest fast jeden Tag in der Glaubens die ein oder andere Hänselei. Bibel und betet dreimal täglich. Das Während seine Klassenkameraden ReliHauptgebot von Jesus – Liebe deinen gionsunterricht hatten, saß er mit den Nächsten wie dich selbst – versucht er, in Katholiken und Moslems im Nebenraum seinem Leben zu verfolgen. Dabei möch- und machte seine Hausaufgaben. Bei te er das richtige Maß finden. „Es gibt Fußballspielen am Sonntag konnte er Leute, die lieben sich zu sehr selbst. Ge- häufig nicht dabei sein. Da stand nun mal nauso gibt es welche, die sich zu sehr für Kirche auf dem Programm. Dann hieß es andere aufgeben“. Er möchte mit seinen von den anderen Kindern: „Ihr NeuaposNächsten gut zurecht kommen und ein tolen geht ja immer nur zur Kirche. Was seid ihr eigentlich?“, erinnert sich Tobiganz normales Leben führen.

as. Doch darauf konnte er damals nicht viel antworten. „Als Kind kann man sich eben noch nicht so gut erklären.“ Heute ist das anders. Seine Freunde akzeptieren seinen Glauben. Sie wissen, dass es bei Feiern am Samstagabend nicht so lange gehen kann. Dass sie ihren Freund für Unternehmungen am Sonntagvormittag gar nicht erst fragen müssen, haben sie akzeptiert. Sie kommen damit zurecht. Lernt Tobias neue Leute kennen, muss er allerdings wieder mit den bekannten Vorurteilen kämpfen. Viele sind zunächst überrascht, dass er seinen Glauben so lebt. Einige bezeichnen ihn auch als Mitglied einer Sekte. Doch damit kann Tobias inzwischen umgehen. „Bei vielen beginnt eine Sekte, wenn da mehr hintersteckt, als sie verstehen. Wenn ich nach einem Diskobesuch am Samstagabend am nächsten Tag nicht einfach mal liegen bleibe, können sie das eben nicht verstehen und denken, dass ich gezwungen werde. Das ist aber nicht so. Ich habe mich für meinen Glauben entschieden und dann gehe ich auch jeden Sonntag zum Gottesdienst, ob ich nun vorher lange wach war oder nicht. Das spielt keine Rolle.“ Auch seine Verlobte konnte Tobias’ innige Bindung zum Glauben zunächst nicht verstehen. Sie waren früher Nachbarn, als er nach zweieinhalb Jahren Großstadtluft von Hamburg nach Leck gezogen war. Da war er 24. Verwundert darüber, dass Tobias zweimal die Woche im Anzug das Haus verließ und sich gerade ein neues Auto gekauft hatte, reimte sie sich ihr eigene Geschichte zusammen: „Sie dachte doch tatsächlich, dass ich ein Drogendealer wäre“, erzählt Tobias lachend. „Als ich ihr dann sagte, dass das völliger Unsinn sei und ich in Wahrheit mit meinen Eltern und Geschwistern in die Kirche ging, hielt sie dies für noch unwahrscheinlicher, als die Sache mit dem Drogendealer. Dass junge Menschen ihren Glauben so leben, ist heute einfach so selten geworden.“ Inzwischen ist seine Verlobte sogar selbst zum neuapostolischen Glauben konvertiert. Aus freien Stücken, wie Tobias erzählt. Für Tobias war dies Anlass, seinen eigenen Glauben zu hinterfragen. Das war eine schwierige Zeit für ihn. Schließlich habe man eine gewisse Ver-

antwortung dem Partner gegenüber, sagt er. „Also für was entscheidet sie sich da eigentlich? Woran glaube ich überhaupt? Warum glaube ich? Ist es, weil ich da nur hineingeboren wurde? Versteife ich mich hier auf etwas?“ Alles Fragen, die dem Gläubigen durch den Kopf gingen und auf die er keine klaren Antworten finden konnte. Doch Zweifeln ist ganz normal, findet er. Jeder kennt solche Momente. Und auf solche Zeiten folgt auch wieder ein Hoch. Natürlich hat er dabei auch mal über den Tellerrand geschaut, was es für andere Glaubensrichtungen gibt. Doch er hat sich für seinen Glauben entschieden. Er ist neuapostolisch, er vertraut auf Gott. Er hat für sich selbst entschieden, ein christliches Leben zu führen. Er hat die Motivation, seinem Glauben zu folgen. „Es ist jeden Tag eine Entscheidung und ich entscheide mich jeden Tag für Gott ● und meinen Glauben.“ NEUAPOSTOLISCHE KIRCHE

DATEN & FAKTEN Die Neuapostolische Kirche ist in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts aus der Katholisch-Apostolischen Gemeinde hervorgegangen und wird seitdem auch von Aposteln geführt. Die erste Gemeinde in Deutschland befand sich in Hamburg. Von dort aus breitete sich die Kirche in allen Teilen Deutschlands und der Welt aus. Bundesweit bekennen sich rund 360.000 Christen zu dem Glauben. Ihren Schwerpunkt setzt die Kirche auf die Gottesdienste und die Seelsorge. Die Mitglieder glauben daran, dass Jesus seine Apostel gesandt hat, um von seiner nahen Wiederkunft zu predigen. Tod und Auferstehung Christi sind zentrale Bestandteile neuapostolischer Glaubenslehre. Daneben sind Mission und Nächstenliebe wesentliche Inhalte. Die Kirche kennt drei Sakramente: die Heilige Wassertaufe, die Heilige Versiegelung und das Heilige Abendmahl. Bei der Versiegelung wird der Gläubige mit der Gabe des Heiligen Geistes erfüllt. Die Neuapostolische Kirche verhält sich parteipolitisch neutral und unabhängig. Sie finanziert sich aus den freiwilligen Spenden ihrer Mitglieder.

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Kraft Tanken für den Tag: Jeden Morgen um sieben Uhr meditiert Gerd Boll eine halbe Stunde lang. Zwischen den Buddha-Figuren hängt ein Foto seines Lehrers und dessen Frau, Lama Ole Nydahl und Hannah. FOTOS: ALTHAUS

Landwirtschaft im Geiste Buddhas Gerd Boll aus Holzdorf – Familienvater und Gemüsebauer – ist Anhänger und Lehrer des Diamantweg-Buddhismus. Die Meditation ist sein ständiger Begleiter, auch bei der Arbeit auf dem Hof. Unser Reporter hat ihm einen Tag lang über die Schulter geschaut. VON MICHAEL ALTHAUS

Holzdorf „Bioland“ steht auf den Schildern, die zu Gerd Bolls Hof mitten auf der Ostsee-Halbinsel Schwansen führen. Und richtig: Wer den Hinweisen folgt, der findet einen idyllischen Gemüsehof mit Bauernhaus nebst Scheune, Stall, Gewächshäusern und viel, viel Land vor. Aber da ist noch mehr. Ein großer Stein in der Einfahrt zeigt es bereits an. „Karmapa tschenno“ lauten die fremd klingenden Worte, die darin eingehauen und mit goldener Farbe nachgemalt sind. „Karmapa tschenno“ – das ist ein buddhistisches Mantra, dasdieAnhängerdieserReligionausFernost bei ihren Meditationen wieder und

wieder vor sich hinmurmeln. Dass Gerd Boll es an seiner Hofeinfahrt zur Schau stellt, hat einen Grund: Sein Anwesen ist nicht nur ein landwirtschaftlicher Betrieb, sondern gleichzeitig ein Zentrum des Diamantweg-Buddhismus. Gerd Boll ist seit über 25 Jahren glühender Anhänger dieser Richtung. Seine Lebensphilosophie: Immer das Bestmögliche zu tun, allen Menschen das Beste wünschen. „Gute Wünsche für andere Leute loszuschicken, das entspannt“, sagt der 53-Jährige. Ob beim Tee Kochen am Morgen, beim Treckerfahren am Vormittag oder beim Gurkenpflanzen am Abend

– immer und überall wünsche er seinen Mitmenschen alles Gute – in seinen Gedanken. Anzumerken ist das dem überzeugten Buddhisten daran, dass er stets ein Lächeln auf den Lippen trägt – auch morgens um Viertel nach sechs, wenn er den Frühstückstisch für seine Familie eindeckt. Währenddessen ist seine Frau Miriam (37) damit beschäftigt, die Kinder aus dem Bett zu holen. Nach und nach setzt sie Lola (5), Bosse (3) und Fiona (1) an den Tisch. Als Jan-Ole (16) dazukommt, ist die Familie vollständig, die älteste Tochter Nina (23) ist schon aus dem Haus.

Umgangssprache bei der ersten Mahlzeit des Tages ist übrigens Englisch. „Das haben wir uns angewöhnt“, erklärt der Vater, „seitdem haben sich unsere Sprachkenntnisse enorm verbessert.“ Und nach etwas Geplauder über „farming“, „religions“ und „school“, lässt Boll seine Familie zurück und geht aus dem Haus: „Jetzt wollen wir mal meditieren“, kündigt er an. Im Nebengebäude hat er ein buddhistisches Gästehaus eingerichtet, mit einigen Zimmern, einer Gemeinschaftsküche und einem Meditationsraum. Dorthin begibt er sich jetzt, um sich vor einem Regal mit zwei Dutzend goldenen Buddha-Statuen


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an der Wand bäuchlings auf die Erde zu werfen. Gleich darauf richtet er sich mit einer schnellen Bewegung wieder auf und wiederholt das ganze einige Male – Lockerungsübungen, bevor die eigentliche Meditation beginnt. Und dann geht es los: Gerd Boll setzt sich auf ein Kissen, richtet den Oberkörper auf, als ob er an einer Schnur an der Decke befestigt sei, und klappt den Deckel einer kleinen roten Kiste vor sich auf. Darin liegt sein Meditationsheft, dessen Worte er längst wie im Schlaf beherrscht, aber als Gedächtnisstütze gerne vor sich legt. Und so verharrt der Landwirt im Schweigen, zehn Minuten, zwanzig Minuten, dreißig Minuten. Nur seine tiefen Atemzüge durchbrechen die Stille und ab und zu das Rascheln beim Umblättern der Seiten. Alles steht still, außer der kleinen Uhr, die vor ihm unterhalb der Buddha-Statuen steht. „Ganz ohne geht es nicht“, sagt er. Denn schließlichbeginntumsiebenUhrdreißig sein Arbeitstag mit einer Besprechung. „Da muss ich dabei sein, ich bin ja der Chef“, meint er schmunzelnd. Gemeinsam mit seiner Ex-Frau Ilona Ebel, ebenfalls Buddhistin, führt er den Bio-Hof „Großholz“. Auf rund 17 Hektar LandbauensieüberdreißigObst-undGemüsesorten an, Tomaten, Gurken, Salat, Kartoffeln. Von den Erträgen können beide gut ihre Familien ernähren. Neben Boll undEbelsitzendreiweitereführendeMitarbeiter am Tisch. Heute muss der Chef Kritik üben: Gestern wurden viel zu viele Tomaten auf dem Kompost entsorgt. Außerdem haben seine Leute die Zwiebeln, die er einpflanzen wollte, versehentlich mit zum Markt genommen. Er sagt das mit derselben ruhigen Stimme, mit der er immer spricht, wird nicht laut, haut nicht auf den Tisch, schaut keinen an. Die Mitarbeiter haben verstanden. „Das war ein Versehen“, kommentiert einer. Um acht gibt’s noch einige Anweisungen für die zehn versammelten Feld-, Stall- und Werkstattarbeiter, und dann muss Gerd Boll selbst Hand anlegen. Im Gewächshaus ist er dabei, das Bewässerungssystem zu erneuern. Und während

Wenn Sohn Bosse (3) müde ist, dann bringt ihn eine Runde TreckerFahren in den Schlaf.

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er auf der Leiter steht und Rohre zusammenbastelt, erzählt er, wie er zum Buddhismus gekommen ist. Als protestantischer Christ wuchs er auf, doch irgendwann gab ihm der Glaube seiner Eltern nicht mehr genügend Antworten. Die Totschlag-Argumente des Pastors im Konfirmandenunterricht – „Das ist jetzt so, das müsst ihr einfach glauben.“ – befriedigten ihn nicht mehr. Also ging er selber auf die Suche, engagierte sich in einigen freien Jugendgruppen, fand zur Friedensbewegung. Als der führende Eckernförder „Friedens-Pastor“ aus politischen Gründen in der

Garnisonsstadt nicht länger praktizieren durfte, war es Gerd Boll und seinen Freunden genug. Gemeinsam traten sie aus der Kirche aus.GanzglücklichwarermitdiesemProtest-Schritt aber nicht: „Denn jetzt hatte ich ja nichts mehr. Und eigentlich war ich doch ein spiritueller Mensch.“ Neues Licht brachte eine Reise nach Australien, wo ihn die große gesellschaftliche Freiheit faszinierte: „Dort hängt der Himmel einfach höher. Es gibt dort viele alternative Lebensformen, auch buddhistische Gemeinschaften.“ Voll des jugendlichen Optimismus, entschloss er sich auszuwandern. Doch plötzlich habe er ge-

merkt, dass er nicht ins Ausland müsse, um ansprechende Spiritualitäten zu leben. „Ich stellte fest: Das gibt es alles auch in Deutschland.“ Die entscheidende Wende kam im Alter von 27 oder 28 Jahren. Damals nahm ihn ein Freund mit zu einem Vortrag von Lama OleNydahl.DercharismatischeDänehatte auf einer Tibet-Reise in jungen Jahren zum Diamantweg-Buddhismus gefunden und seitherinEuropahunderteZentrendieser Weltanschauung aufgebaut. „Ich werde Buddhist“ – das stand für Gerd Boll sofort fest,nachdemerLamaOlegehörthatte. Die Idee, Buddha, also das Gute, in seinem Inneren zu finden, habe ihn sofort gefesselt. „Das war meins“, sagt er, ohne auch nur den geringsten Zweifel durchblicken zu lassen. Am Christentum habe ihn immer gestört, dass Gott irgendwo außerhalb sei, jemand anderes, jemand Fremdes. Und so begann er zu meditieren. Anfangs lief es zäh und mühsam, doch mit der Zeit sei die Meditation sein ständiger Begleiter geworden: „Das läuft einfach somit,denganzenTagüber.Automatisch“, sagt er jetzt, über 25 Jahre später. Als „Hippie“ – so beschreibt Boll sich selbst – habe er sich im Hause seines Vaters – CDU-Ortsvorsitzender – erst mal nicht mehr blicken lassen können. Und so bewirtschaftete der gelernte Landwirt zusammen mit einem Freund einen Hof im Nachbardorf. Als er im Jahr 2000 den väterlichen Betrieb erbte, krempelte er diesen komplett um. Statt auf konventionelle Milchviehhaltung und Bullenmast setzte er auf ökologischen Gemüseanbau. „Ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie Tiere geschlachtet werden.“ Heutegibtesda,woeinstdieKühestanden,nur nochKatzenundPferde.LetzteresetztBoll auchgernemalfürdieBewirtschaftungdes Landes ein, etwa fürs Pflügen. „Das ist schonender für den Boden“, weiß er. NachhaltigkeitliegeihmsehramHerzen–erwill das Beste tun für alle Wesen.

Plötzlich reißt ihn ein lautes Geschrei aus dem Gespräch: Sein Sohn Bosse, der die ganze Zeit auf dem Trecker saß und ihm bei der Arbeit zugeschaut hat, ist müde geworden. „Jetzt muss ich eine Runde fahren“, weiß der Vater. Denn das Rattern der Maschine befördert den Kleinen so gut in den Schlaf, wie kein Lied und keine Geschichte es könnte. Als die beiden nach einer guten Stunde vom Pflügen zurückkommen, meditiert Bosse noch tiefer als sein Vater und schlummert seelenruhig vor sich hin. Jetzt ist Mittagszeit: Arbeiter und Familie versammeln sich in der Gemeinschaftsküche, wo ein Mahl aus Hirsebrei und Gemüse angerichtet ist. Hinzukommen einige Bewohner des buddhistischen Gästehauses, das Gerd Boll auf dem Hof eingerichtet hat. Interessierte können hierherkommen, um sich zur Meditation

Der Stein mit dem Mantra begrüßt Besucher an der Hofeinfahrt.

zurückzuziehen. Unter den Arbeitern ist eine evangelische Christin sowie ein Mitglied der Kirche Rudolf Steiners, einer alternativen christlichen Gemeinschaft. Schnell kommt das Gespräch auf religiöse Themen: Ist die Wiedergeburt, von der die Buddhisten überzeugt sind, mit dem Christentum vereinbar? Eine Frage, die sich nicht abschließend beim Mittagessen klären lässt. Fest steht: Philosophiert und diskutiert wird hier gerne. „Wir sind so eine Art Anziehungspunkt für Menschen, die sich mit Religiosität auseinandersetzen“, sagt Mit-Betreiberin Ilona Ebel.

Um den Boden zu schonen, pflügt Gerd Boll, wo es geht, mit den Pferden – hier mit Mitarbeiter Detlef Tischler.


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Doch die Pause währt nicht lange und Karma und Erleuchtung – mit vielen BeGerd Boll muss wieder arbeiten. Bis mor- zügen zum Lebensalltag. Wer einen Vorgen muss im Gewächshaus alles herge- trag von Gerd Boll anhört, der kann sich richtet sein, dann sollen die Gurken ge- auf zwei Stunden voller Anekdoten aus pflanzt werden. Und während er weiter dem Alltag freuen, über Hofleben, Bezieam Bewässerungssystem herumbastelt hungsproblemeoderStressmitdenAuszuerzählt er, wie nahe er Lama Ole Nydahl bildenden. Er erzählt, dass auch er sich imsteht, dessen Vortrag er als junger Mann mer wieder dabei erwischt, wie er seinem gelauscht hatte. Der Lama – tibetisch für Zorn freien Lauf lässt, und sich dann er„Leiter“ oder „Hoher Priester“ – habe ein mahnt, loszulassen. „Denn auch die unglaubliches Wissen und eine tiefe Ein- schwierigsten Menschen, die ganz fürchsicht in den Lauf der Dinge. In seiner Nähe terliche Sachen tun, sind keine Dämonen.“ könne man das förmlich spüren. Boll trifft ihn regelmäßig, stellt ihm Fragen und geht ......................................................... sogar mit ihm auf Reisen. Welche Bedeu„Um den Alltag meistern zu tung sein Lehrer für ihn hat, lässt ein aufkönnen, ist eine kleine Meditation merksamer Gang über den Holzdorfer Hof erahnen. Fotos vom Lama finden sich gar nicht so schlecht.“ nicht nur im Meditationsraum, wo sich Gerd Boll die sportliche Gestalt des Europäers nicht Buddhist so recht in die Aura der goldenen BuddhaStatuen einfügen will. Auch im Büro zwischen Papieren und Ordnern prangen Bilder und Poster, und sogar hinter dem Am Ende lädt er alle Zuhörer zu einer MeSpiegel in Bolls Badezimmer steckt eine ditation ein, will aber keinen vereinnahPostkarte mit dem Gesicht des buddhisti- men: „Beim Buddhismus geht es nicht darschen Pioniers in der westlichen Welt. um, irgendwelchen Autoritäten zu glau„Es ist wichtig, sich jeden Morgen in Er- ben“, sagt er, „wir sind eine Erkenntnisreinnerung zu rufen: Ich bin Buddhist“, be- ligion.“ Alles sei logisch erklärbar, jeder merkt Bolls Frau Miriam später dazu, die müsse selbst zur Einsicht kommen. sich ebenfalls der Religion aus Fernost Um halb sechs ist Feierabend auf dem verschrieben hat. Nur deswegen lernte sie Bio-Hof – zumindest für die Angestellten. überhaupt ihren Mann kennen, den sie bei Der Chef geht meist, nachdem er das einem Vortrag erstmals traf. Rund 100 Abendessen im Kreis seiner Familie geMal im Jahr steht er nach eigener Schät- nossen hat, nochmal an die Arbeit. Doch zung irgendwo auf der Bühne und erzählt heute Abend trifft sich seine Meditationsvon seiner Religion. „Auch wenn ich die gruppe. Ilona Ebel und ihr Mann Andreas Erleuchtung noch nicht ganz erreicht ha- gehören dazu. Außerdem sind Volker und be, bin ich vom Lama beauftragt, die Leute Elisabeth,WernerundAngelagekommen. in die buddhistische Lehre einzuweisen“, Zuerst gibt es eine Tasse Tee, und das erklärt er. In dieser Mission war er schon neusteGeschehenausderbuddhistischen in Russland, Australien und in mehreren Welt in Eckernförde, Kiel und Rendsburg Ländern Nord- und Mittelamerikas unter- kommt auf den Tisch. Dann geht es in den wegs. Er erzählt dann von Meditation, Meditationsraum: Wie Gerd Boll es schon

amMorgengetanhat,nehmenalleaufKissen oder kleinen Bänkchen Platz. Volker trägt den Text der Meditation laut vor: „Wir spüren, wie der formlose Luftstrom unseres Atems an der Nasenspitze kommt und geht. Dabei lassen wir Gedanken und Geräusche vorbeiziehen, ohne sie zu beurteilen“, so beginnt eine halbe Stunde, in der Karotten und Kartoffeln, Trecker und Pflug, Ackerboden und Bewässerung auf einmal keine Rolle mehr spielen. Neben den leise vorgetragenen Worten sind nur noch die tiefen Atemzüge der Teilnehmer zu hören, die regungslos ausharren. GleichfordertsiederTextdazuauf,den 16. Karmapa – einen wichtigen tibetischen Lehrer des Diamantweg-Buddhismus – vor sich zu sehen. Mit schwarzer Krone und goldenem Gesicht soll er vor den Augen der Teilnehmer erscheinen, bevor er Lichter auf Stirn, Kehle und Herz aussendet und sich schließlich im Regenbogenlicht auflöst. Am Ende beginnt die Gruppe zu murmeln: „Karmapa tschenno“ – „Tatkraft verschmelz mit mir“ bedeuten diese tibetischen Worte, die auch den Stein in der Hofeinfahrt zieren. Die kleinen Gebetsketten, die die Meditierenden durch ihre Finger gleiten lassen, machen ein surrendes Geräusch wie die Grillen auf einer Wiese an einem Sommerabend. „Karmapa tschenno, karmapa tschenno, karmapa tschenno...“, murmeln sie immer wieder. Dabei wollen sie die Erleuchtung finden, um eines Tages den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt durchbrechen zu können. Wie sie wohl aussieht für Gerd Boll? Was sieht er vor sich, wenn er meditiert? Den Karmapa? Die goldene Krone? Das Licht? Oder noch etwas viel, viel Schöneres? Er kann es schwer in Worte fassen. Es bleibt sein Geheimnis. Sicher ist: Irgendetwas Besonderes scheint er gefunden zu haben. ●

Am Abend wird gemeinsam meditiert: Die Teilnehmer verharren in Stille während Volker (rechts) den Text vorliest.

DIAMANTWEG-BUDDHISMUS

HINTERGRUND Gerd Boll ist Anhänger der Karma Kagyü-Linie des Diamantweg-Buddhismus. Der Diamantweg ist eine von drei großen Schulen des Buddhismus. Sie gehen zurück auf Buddha, der Belehrungen für drei verschiedene Arten von Menschen gegeben haben soll. Wer Leid vermeiden wollte, bekam Auskunft über Ursache und Wirkung („Kleiner Weg“). Wer mehr für andere tun wollte, hörte Belehrungen über Mitgefühl und Weisheit („Großer Weg“). Wenn die Leute starkes Vertrauen

in ihre eigene Buddhanatur hatten, lehrte er den „Diamantweg“. Im Diamantweg lernt man, die Welt aus einer reichen und selbstbefreienden Sicht heraus zu erfahren. Die Anhänger streben danach, sich mit der eigenen Buddhanatur (Reihnheit und Vollkommenheit des Geistes) zu identifizieren, nicht nur während der Meditationssitzungen sondern auch außerhalb. Daher lässt sich der Diamantweg besonders gut in einen gewöhnlichen Alltag integrieren. Oft wird er als „tibetischer Buddhismus“ bezeichnet. Eine von vier großen Schulen des Diamantwegs ist die Karma KagyüLinie. Ihr Oberhaupt ist der Karmapa, der inzwischen zum 17. Mal wiedergeboren wurde. Prägend für den Buddhismus in der westlichen Welt ist der 16. Karmapa, Rangjung Rigpe Dorje (1924-81). Der Däne Ole Nydahl (kleines Foto) und seine Frau Hannah lernten ihn 1969 auf ihrer Hochzeitsreise im Himalaya kennen und wurden seine ersten westlichen Schüler. Nach einigen Lehrjahren in Fernost reisten die beiden rund um die Welt, um den Buddhismus bekannt zu machen. Hannah verstarb 2007 in Kopenhagen. Als „Lama“ (Lehrer) gründete Ole Nydahl bis heute über 650 Meditationszentren der Karma-Kagyü-Schule. Sie sind demokratisch aufgebaut und in Deutschland als gemeinnützige Vereine anerkannt. Zentren in Schleswig-Holstein: Auenbüttel, Großholz, Itzehoe, Langenhorn, Kiel, Laboe, Rendsburg, Eckernförde, Lübeck, Sylt, Elmshorn, Heide, Flensburg, Hohwacht, Neumünster.

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Eine Oase der Ruhe Die Kirche der Stille in Hamburg-Altona bietet Menschen die Möglichkeit, im hektischen Großstadtleben einmal abzuschalten. Pastorin Irmgard Nauck gestaltete das Gotteshaus nach der Fusion dreier Gemeinden komplett um.

ANNETTE ROEMER

VON TINA LUDWIG

Hamburg Noch ist sie leer, die Kirche der Stille. Nur ein paar blaue Kissen und kleine Sitzbänke liegen im Kreis auf dem Boden. Die bunten Fenster sind mit weißen Stofftüchern abgedeckt, an einer Wand steht die aufgeschlagene Bibel auf einem Ständer. Im hinteren Bereich, wo sich einst der Altar befand, hängen ein Kreuz und ein Bild von der Jungfrau Maria. Nur eine einzige Frau läuft langsam durch das Gotteshaus, um die Ruhe zu genießen und sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Noch ist sie allein. Doch schon bald werden sich einige Hamburger zum Meditieren und Beten treffen. Die Christophoruskirche in Hamburg-Altona-Nord ist seit 2009 ein Raum von Stille, Weite und Rhythmus. Nach der Fusion mit der St. Johannis Kirche und der Friedenskirche wurde sie in eine „Oase der Ruhe“ umgebaut, wie sie die Gläubigen oft nennen. Irmgard Nauck war zu jener Zeit Pastorin in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde. Schon damals habe sie gemerkt, dass die Menschen das Bedürfnis haben, in Ruhe

abzuschalten. Während eines Gottesdienstes stellte die 56-Jährige einmal eine Klangschale auf und ließ die Gläubigen dem Hall lauschen. „Zum ersten Mal herrschte Stille nach einer Predigt“, erinnert sich die Pastorin und lächelt. Als auch die Taizé-Lieder – bei denen ein einziges Wort mehrmals hintereinander gePastorin Irmgard Nauck sprochen F. HOFFMANN wird – gut angenommen wurden, war klar, dass die Christophoruskirche nach dem Zusammenschluss ein Ort der Stille werden muss. In den vergangenen vier Jahren haben viele Menschen den großen hellen Raum aufgesucht, um einmal vom hektischen Alltag in der Großstadt abzuschalten und in sich zu kehren. Oder um zu me-

ditieren. Pastorin Irmgard Nauck und zehn Meditationslehrer bieten täglich verschiedene Übungen an, wie etwa die „Atempause am Abend“ oder „Zen – sitzen in Kraft und Stille“. Neben christlichen Traditionen werden die Sitzungen auch durch Elemente des Buddhismus bereichert. Durch Mantren zum Beispiel. Dabei „atmet“ man immer wieder ein einziges Wort. Doch wie wird ein Wort geatmet? „Das ist einfach“, erklärt Nauck. „Nehmen wir einmal das Beispiel für Frieden, ‘Schalom’. Beim Einatmen äußert man still die Silbe ‘scha’, beim Ausatmen folgt das ‘lom’. Dadurch versetzt sich der Körper in einen Ruhezustand.“ Das gleiche Prinzip funktioniere auch beim Laufen, dann zähle eine Silbe pro Schritt. Nach den Übungen könne man förmlich sehen, wie sich die Gesichter der Menschen entspannen, erzählt die Hamburgerin. Auch eine japanische Teezeremonie gehört zu den „Ritualen“ der buddhistisch angehauchten Veranstaltung. Die Traditionen anderer Religionen sind

laut Nauck eine Bereicherung für die christliche Kultur. Der Buddhismus sei jedoch erst in einer Zeit nach Europa gekommen, als viele Menschen schon mit der Kirche verfeindet waren. Dabei seien besonders die Erfahrung von Gott in sich selbst und die Achtsamkeit wichtige Werte, die auch in den Meditationsgruppen angenommen würden. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Glaubensgemeinschaften hätten positive Auswirkungen, erläutert die Pastorin. Sie ist davon überzeugt, dass interreligiöse Gespräche viele Konflikte vermeiden könnten. „Der Islam hat von vornherein eine schlechte Stellung in der Gesellschaft und wird sofort mit Terrorismus verbunden“, stellt die 56Jährige klar. „Doch wenn man sich mal näher mit dem Glauben beschäftigt, merkt man, dass es eigentlich eine friedliche Religion ist.“ Genau deshalb müsse man den Glauben ohne Bewertung wahrnehmen und den Menschen so eine Chance geben. „Damit es in Zukunft keine religiösen Kriege mehr gibt.“ ●


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Eine Religion – viele Offenbarer

Die Sylter Walburga und Holger Löffelmann sind seit über 20 Jahren Anhänger der Bahá’íPFEIFER Religion.

Der Glaube der Bahá’í lehrt: Alle monotheistischen Religionen sind gut und von ein und demselben Gott gestiftet. Angepasst an die jeweilige Zeit hat er sich in Jesus, Mohammed oder Krishna offenbart. Walburga und Holger Löffelmann haben diesen Glauben für sich entdeckt. VON CORNELIA PFEIFER

Sylt Wenn die Sylter Walburga und Holger Löffelmann anderen von ihrem Glauben erzählen, erfahren sie die unterschiedlichsten Reaktionen. „Einige Leute wollen mit Religion nichts zu tun haben, andere haben noch nie etwas von den Bahá’í gehört und die dritten halten uns für eine islamische Sekte“, erzählt Walburga Löffelmann. Vor 27 Jahren wussten die Löffelmanns selber noch nichts von den Bahá’í und ihrem Religionsstifter Bahá’u’lláh. Dann lernten sie – damals noch an ihrem früheren Wohnort in der Nähe von Frankfurt – neue Freunde kennen. „Mir hat von Anfang an ihre sehr positive Ausstrahlung und ihre vernünftige Einstellung zum Leben imponiert“, erzählt Walburga Löffelmann. „Ich habe mich immer gefragt, woher das kommt – und dann habe ich erfahren, dass die beiden Bahá’í sind.“ Die heute 51-Jährige begann, Fragen zu der Religion zu stellen, sie las Texte,

sprach mit Gläubigen und erkannte bald, dass sie bei den Bahá’í etwas gefunden hatte, was ihr in ihrem alten Glauben gefehlt hatte. Sowohl Walburga als auch Holger Löffelmann sind katholisch aufgewachsen. An Gott haben sie nie gezweifelt, an der katholischen Kirche mit ihrem alleinigen Wahrheitsanspruch und der untergeordneten Rolle der Frau schon. Walburga Löffelmann bekannte sich fünf Jahre nach ihrem ersten Kontakt mit den Bahá’í offiziell zu der Religion. „Es machte mir den Religionswechsel sehr viel leichter, dass ich meinen katholischen Glauben nicht negieren musste. Denn Bahá’u’lláh lehrt uns, dass alle monotheistischen Religionen gut und von ein- und demselben Gott gestiftet sind.“ Die Bahá’í glauben an eine fortschreitende Gottesoffenbarung. Das bedeutet, dass alle Propheten anderer monotheistischer Religionen – seien es Jesus, Mo-

hammed oder Krishna, als Manifestationen des einen Gottes gelten. Jeder dieser Offenbarer erscheine in unterschiedlichen Jahrhunderten, um den Menschen Gottes Botschaften, angepasst an die jeweilige Zeit, zu vermitteln. „Alle Vorgänger und die Gebote, die sie vermittelt haben, werden bestätigt. Aber weil sich die Nöte und Umstände verändert haben, werden auch die Gebote an die jeweili-

Kalligraphie mit Namen Bahá’u’lláh: „Oh du Herrlichkeit des Allherrlichen“

gen gesellschaftlichen Bedürfnisse und Nöte angepasst“, erklärt Holger Löffelmann. Er fand vier Jahre später als seine Frau zur Bahá’í-Religion. Bahá’u’lláh, der bislang letzte Offenbarer, lebte zwischen 1817 und 1892. Für das 19. Jahrhundert erscheinen seine Glaubensanpassungen sehr modern. So predigte er die Gleichwertigkeit von Mann und Frau, damit beide Geschlechter ihr Bestes in die Gesellschaft einbringen können. Auch sei die Erde eigentlich nur ein Land und alle Menschen seine Bürger. „Alte Zöpfe, wie die Unterdrückung von Frauen oder anderer Kulturen und Rassen, werden einfach abgeschnitten“, fasst Walburga Löffelmann zusammen. Das Wissen werde mit jeder neuen Religion und jedem neuen Offenbarer erweitert. „Auch nach Bahá’u’lláh wird wieder jemand kommen, der den Glauben neu erklärt und reformiert“, ist sich ihr Mann Holger sicher.


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dieses Gebot nicht besonders schwierig einzuhalten. „Am Anfang war es schon befremdlich für ihre Freunde, dass sie nie Alkohol getrunken hat. Aber dann haben sie irgendwann gemerkt, wie praktisch das ist, wenn man jemanden hat, der einen nach einer Party nach Hause fahren kann.“ Für alle Regeln, die Bahá’u’lláh aufgestellt hat, gibt es auch eine Erklärung. „Viele Probleme auf dieser Welt resultieren aus dem Nichtbefolgen der göttlichen Gebote. Deshalb versuchen die Bahá’í weltweit mit Hilfe der Schriften Wege zu finden, geistiger zu werden, sich also selber zu erziehen“, erklärt Holger Löffelmann. Die großen Ziele seien letztlich das Paradies auf Erden und der Weltfrieden. Und der sei nach dem Glauben der Bahá’í unausweichlich – „die Frage ist nur, wie lange es bis dahin noch dauert“. ● MONOTHEISMUS AUS DEM IRAN

DIE RELIGION DER BAHÁ’Í Die Bahá’í-Religion ist weltweit verbreitet und hat fünf bis acht Millionen Anhänger. Die meisten von ihnen leben heute in Indien, Afrika und Nord- und Südamerika. Aber auch in Deutschland gibt es rund 5 000 Menschen, die an die Lehren des Stifters Bahá’u’lláh glauben. Bahá’u’lláh lebte zwischen 1817 und 1892 im Iran. Er erkannte ihm vorausgegangene Gestalten wie Mohammed, Moses, Krishna oder Jesus Christus als Gottesgesandte an und beanspruchte gleichzeitig, jüngstes Glied in einer Kette der Gottesboten zu sein. Im Mittelpunkt der Religion steht der Glaube an den einen Gott, die Einheit der Religionen und die Einheit der Menschen. Bereits seit den Anfängen der Religion werden die Bahá’í in ihrem Ursprungsland Iran verfolgt. Bis heute kommt es zu Inhaftierungen, horrenden Kautionszahlungen, Folter, Beschlagnahmungen, Schikanen und Drangsalierungen. In Deutschland sind die Bahá’í eine anerkannte Körperschaft öffentlichen Rechts.

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Das Leben der Löffelmanns wird stark von ihrem Glauben geprägt. Die Bahá’íReligion war vor 17 Jahren der Grund für sie, nach Sylt zu ziehen. „Wir wollten immer schon am Meer leben. Dann haben wir gehört, dass auf Sylt Bahá’í gesucht werden und sind auf die Insel gezogen“, erzählt Holger Löffelmann. Gemeinsam mit den beiden Töchtern zog die Familie nach Sylt. Holger Löffelmann übernahm ein eigenes Fahrradgeschäft, seine Frau Walburga arbeitete lange Jahre als Krankenschwester in der Nordseeklinik und ihre Töchter gingen aufs örtliche Gymnasium. Mit 15 entschieden sich die jungen Frauen aktiv dazu, ebenfalls Bahá’í zu werden. Aber das Leben auf der Nordseeinsel hat auch Nachteile. Die Bahá’í-Gemeinde ist hier sehr überschaubar. Außer Walburga und Holger Löffelmann gibt es momentan nur ihre 20-jährige Tochter und ein weiteres Mitglied. Ein Gebetsraum ist nicht vorhanden. Deshalb versammeln sie sich meistens in der Wohnung der Löffelmanns. „Schließlich ist es ja schon immer ein Aufwand, von der Insel herunter zu kommen.“ Viermal im Jahr versuchen sie sich mit der 120 Mitglieder zählenden Gemeinde in Schleswig-Holstein zu treffen. „Das ist dann meistens in Rendsburg, weil das zentral ist und einen Bahnhof hat“, sagt Holger Löffelmann. Dann wird gemeinsam gebetet und meditiert. Ein Haus der Andacht, in dem das Wort Gottes verlesen wird, gibt es auf jedem Kontinent nur einmal. In Europa ist das in Langenhain in der Nähe von Frankfurt. Dort werden Texte aus allen monotheistischen Religionen gelesen. Jeder Ort, an dem mindestens neun Bahá’í leben, hat jedoch einen eigenen Rat, der über die Themen, die die Bahá’í betreffen, abstimmt. Anders als in vielen anderen Religionen gibt es bei den Bahá’í nämlich keinen Klerus. „Bei uns legt jeder seine Meinung auf den Tisch und man versucht, mittels Beratung die beste Lösung für das jeweilige Anliegen zu finden. Es geht nicht darum, den anderen umzustimmen oder seine Meinung schlecht zu reden“, erklärt Walburga Löffelmann. Während die Bahá’í im Iran verfolgt werden, gilt die Religion mit weltweit sieben bis acht Millionen Gläubigen in Deutschland als anerkannte Körperschaft öffentlichen Rechts und wird von der Religionswissenschaft als jüngste monotheistische Weltreligion bezeichnet. Für die Bahá’í gelten ebenso wie für Christen und Juden die zehn Gebote. Außerdem dürfen sie keinen Alkohol trinken, müssen vor der Ehe keusch bleiben und sollten einmal im Jahr für 19 Tage fasten. Für die Löffelmanns haben all diese Gebote einen Sinn. So könne Alkohol ganze Familien und Gesellschaften kaputt machen. „Es ist ein Selbstschutz für uns. Denn Alkohol umnebelt den Verstand.“ Für ihre 20-jährige Tochter war

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Das Rätsel um den bunten Fisch

Zwei Halbkreise – meist in Regenbogenfarben – formen sich schwungvoll ineinander. So sieht er aus, der Fisch, der das Heck zahlreicher Autos schmückt. Schon häufig schwamm mir die Frage im Kopf herum: Was hat es nur mit diesem Aufkleber auf sich? Als ich auf der A7 im Feierabendverkehr feststeckte, tauchte er plötzlich wieder auf. Direkt vor mir zierte er das Heck eines VW Golf und wich beim ständigen Stop-and-Go nicht aus meinem Blickfeld. Habe ich es hier mit einem Angelliebhaber zu tun? Ist der Fahrer womöglich ein Fischfreund? Unwahrscheinlich – ich klebe mir ja auch kein Schweine-Bild aufs Auto, nur weil ich gerne Würstchen esse. Handelt es sich vielleicht um ein Symbol der homosexuellenSzene,wegenderRegenbogenfarben?Dochauchdamit war ich auf der falschen Fährte. Ob der Fisch mir anzeigen soll,auswelcherStadtderFahrerstammt?Soetwas,wieeineneue Version der Kieler Fischgräte? Auch nicht richtig. Vielleicht haben die Fischfahrer aber auch einen Ausflug ins Sealife gemacht und das Bildchen aufs Auto gedrückt bekommen. Wie die TolkschauAufkleber. „Das muss es sein“, dachte ich. Doch mein Beifahrer bremste meinen Enthusiasmus und verriet mir, dass der Fisch ein Zeichen der Christen sei. Aber tragen die nicht bekanntlich Kreuze? Jetzt wollte ich es genau wissen. Also suchte ich Pastorin Johanne Hannemann auf. Sie erklärte mir, dass Fisch auf Griechisch „Ichtys“ heißt und dies das kürzeste christliche Glaubensbekenntnis ist. ICHTYS sind die Anfangsbuchstaben der Wörter IesousChristosTheousYiosSoter(übersetzt:JesusChristusGottes Sohn Retter). Außerdem werde vermutet, dass die Christen den Fisch zu Zeiten der Verfolgung als Erkennungssymbol nutzten. Historisch bewiesen sei das allerdings nicht. Trotzdem eine Erklärung, mit der ich mich zufrieden geben konnte. Komischerweisetauchtensieplötzlichüberallauf.EinMeerausbuntenFischen. Doch sie waren nicht alleine. Engel, Rosenkränze und Kreuzanhänger – geschickt am Rückspiegel montiert – gesellten sich zu ihnen. Religiöser Autoschmuck scheint total im Trend zu sein, schoss es mir durch den Kopf. Naja, wenn es denn hilft, sicher durch den Straßenverkehr zu kommen, dekoriere ich meine kleine Blechkiste auch bald um. Schaden kann es zumindest nicht. ●


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Gelebte Offenheit Die 18-jährige Jüdin Viktoria Budnikov ist stolz auf ihren Glauben. Auch der Austausch mit anderen Religionen gehört für sie zum Alltag. Als Kind feierte ihre Familie mit ihr sogar das christliche Weihnachtsfest. VON CHRISTOPH KÄFER Bad Segeberg „Nein“, sagt Viktoria Budnikov, „ich bin zwar überzeugte Jüdin, aber meinen Sohn würde ich nach der Geburt nicht beschneiden lassen.“ Ihre Stimme klingt bestimmt, aber freundlich, ernst, aber höflich. „Wenn ich mal einen Sohn bekomme, will ich ihm nicht unnötig Steine in den Weg legen, falls er später lieber konvertieren möchte.“ Sie blickt mich an, sie lächelt. Es ist ein ehrliches Lächeln, warm und herzlich. Es passt zu ihr, zu ihrem gelebten Glauben. „Mir ist wichtig, das eigene Weltbild, die eigenen Traditionen, Werte und Vorstellungen zu bewahren und gleichzeitig offen zu sein für alles andere.“ Ihre Worte klingen gestelzt, wie aus einem Lehrbuch, besonders, da Viktoria Budnikov erst 18 Jahre alt ist. Aber sie stimmen, sie sprechen ihr aus der Seele, sie könnten auch problemlos das Glaubensmotto der Gemeinde repräsentieren. „Wir gehören zum liberalen Judentum, also zu den Reformjuden, wir sind von der Glaubensauslegung relativ frei und stehen anderen Religionen sehr offen gegenüber.“ Offen ist eines der Lieblingswörter der Schülerin, wenn sie über ihren Glauben spricht. „In Bad Segeberg haben wir viele religiöse Strömungen, es gibt neben der jüdischen Gemeinde auch eine muslimische und mehrere christliche. Zusammen gestalten wir einmal im Jahr den Tag der Religion, um uns untereinander auszutauschen und besser zu verstehen.“ Viktoria Budnikov sitzt auf einem Stuhl, relativ nah an der Wand. Sie wirkt konzentriert, spricht ehrlich über ihre Religion, obwohl ständig Menschen an ihr vorbeihuschen. Es ist Freitagabend, kurz nach 19 Uhr. In der Synagoge, die zugleich Gemeindezentrum ist, herrscht Hochbetrieb. Es ist ei-

Überzeugte Jüdin und tolerant bei der Glaubensauslegung: Viktoria Budnikov (18).

ne Art Tag der offenen Tür, wegen eines Jugendprojektes. Bestimmt 30 Kinder, Jugendliche, Eltern und Senioren sind gekommen, die meisten hier sind keine Juden. Der Gemeindevorsitzende schnackt mit den Gästen, macht Späße und lässt sie alle an einem jüdischen Abendmahl mit Brot, Wein, alternativ Traubensaft, teilhaben. Die Gemeinde predigt nicht bloß die Offenheit gegen-

über anderen, sie lebt es vor allen Dingen. Für Budnikov ist das selbstverständlich. Mit kurzen, langsamen Schritten kommt ihr eine junge Frau entgegen, sie ist vielleicht 20 Jahre alt. Sie geht schnurstracks auf Budnikov zu, sie strahlt, als sich ihre Blicke treffen. Beide fallen sich in die Arme und begrüßen sich herzlich. „Das ist eine Freundin von mir, sie ist auch Jüdin, aber das

KÄFER

sind die wenigsten Leute in meinem Umfeld“, berichtet Viktoria Budnikov. Das macht ihr überhaupt nichts aus, es ist Teil ihres gelebten offenen Glaubens. Was vielen in ihrer Religion bis zum Lebensende nicht gelingt, hat sie bereits mit 18 Jahren als Schülerin geschafft – sie ist überzeugte Jüdin, trotzdem völlig uneitel und tolerant bei ihrer Glaubensauslegung.

Sie besucht die zwölfte Klasse eines staatlichen Gymnasiums in Bad Segeberg, nächstes Jahr will sie dort ihr Abitur machen, danach für einen Freiwilligendienst ein Jahr ins Ausland, dann studieren. Aber was? „Das weiß ich noch nicht, aber auf keinen Fall etwas, das im Zusammenhang mit meiner Religion steht.“ Umso intensiveren Kontakt mit Glaubensbrüdern und -schwestern hat sie beim dreitägigen LimmudFestival in Berlin und beim Limmud-Tag in Hamburg gesammelt. „Das sind Treffen von Juden aus Deutschland, das ist echt total ungewohnt für mich, auf einem Fleck so viele Juden anzutreffen.“ Viktoria Budnikov wirkt gelöst, wenn sie über die Treffen plaudert, ist zu spüren, wie stolz sie auf ihren Glauben ist. Aber es ist kein übersteigerter Stolz, im Gegenteil. „Bis ich sechs Jahre alt war, haben wir Weihnachten wie alle Christen auch gefeiert, mit Tannenbaum, Geschenken und allem was dazu gehört. Ich hätte damals nicht verstanden, wieso alle meine Freunde Weihnachten feiern, wir aber nicht.“ Auch das ist Teil des gelebten, offenen Glaubens der Gemeinde. Das weiß auch die 18-Jährige zu schätzen. Noch immer sitzt sie auf dem Stuhl am Ende des Raumes. „Bei meiner Bat-Mizwa durfte ich mit 13 Jahren einen Gottesdienst mit einem anderen Mädchen zusammen gestalten und aus der Tora vorlesen – das ist nicht selbstverständlich für Jüdinnen.“ Ungefähr einmal monatlich feiert die Gemeinde in Bad Segeberg Gottesdienst. Danach sitzen sie noch beisammen und essen gemeinsam Mittag. Oder zu Abend, wie gelegentlich freitags, zum Beginn des Schabbat. „Anders als die orthodoxen Juden legen wir unseren Glauben eher locker aus, aber auf koscheres Essen achten auch wir“, sagt Viktoria Budnikov.


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Koscheres Essen? Sie scheint die Fragezeichen auf meiner Stirn bemerkt zu haben. Sie lächelt, holt einmal Luft und fährt fort. „Vor allem achten wir auf eine strenge Trennung von Milch- und Fleischprodukten, die werden separat gelagert und dürfen nie miteinander in Berührung kommen und nie zusammen gegessen werden.“ Aber wie geht das? Budnikov geht in die Gemeindeküche. Die ist groß, sauber, aber farblich sehr auffällig gestaltet. Die linke Seite ist komplett rot, die rechte komplett blau. „Auf der einen Seite werden nur Milchprodukte gelagert und zubereitet, auf der anderen nur Fleischgerichte.“ Die farbliche Trennung dient als Eselsbrücke. Sie geht weiter durch die Synagoge. Es ist erstaunlich, abgesehen von ein paar Davidssternen und Israelflaggen unterscheidet sich das Gemeindehaus kaum von einem christlichen. Kein Wunder, schließlich ist das Christentum dem Judentum in vielen Dingen ähnlich. „Stimmt“, sagt Viktoria Budnikov und lächelt. „Ich würde deshalb auch sehr gern mal einen christlichen Gottesdienst miterleben.“ Das überrascht nicht, es passt zu ihr, zu ihrer Offenheit, zu ihrem gelebten Glauben. ● JÜDISCHE GEMEINDE BAD SEGEBERG

283 JAHRE LANGE HISTORIE Die jüdische Gemeinde in Bad Segeberg blickt auf eine lange Geschichte zurück: Bereits im Jahr 1730 ließen sich die ersten Juden nieder, 62 Jahre später gründeten sie ihren Friedhof und weihten 1842 ihre Synagoge ein. Diese wurde von den Nationalsozialisten entweiht und musste 1962 wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Nachdem die Nazis 1938 die jüdische Gemeinde aufgelöst hatten, wurde diese erst 2002 mit 28 Mitgliedern wieder gegründet. Nach rund fünfjähriger Bauzeit konnten die mittlerweile 200 Mitglieder das neue Gemeindezentrum beziehen.

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Beim Segnen des Abendmahls.

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„Diffuse“ Religion Professor Dr. Uta Pohl-Patalong im Interview: Religion ist im Kommen, über die Inhalte ihres Glaubens wollen die Menschen selbst entscheiden. Welche Glaubensrichtungen überwiegen in Schleswig-Holstein? Prof. Dr. Pohl-Patalong: Schleswig-Holstein ist traditionell evangelisch geprägt. Auch heute ist die Mehrheit evangelisch (63,8 Prozent), es gibt aber natürlich auch katholische Christen (6,3 Prozent). Drei Prozent gehören dem Islam an. Wenden sich die Menschen im 21. Jahrhundert von der Kirche ab? Und wenn ja, warum? Das kann man so eindeutig gar nicht sagen. Gerade für das evangelische Christentum gilt schon lange, dass Menschen ihren Kontakt zur Kirche individuell gestalten. Große Austrittswellen gab es nach 1968 und 1995 mit der Einführung des Solidaritätszuschlages. Immer noch treten Menschen aus der Kirche aus, interessanterweise aber treten auch vermehrt Menschen wieder ein. Auch im Blick auf den Gottesdienstbesuch haben wir im Moment eine interessante Entwicklung: Der Besuch des „normalen“ Gottesdienstes am Sonntag geht eher noch zurück, „besondere“ Gottesdienste wie Open Air-Gottesdienste, Gottesdienste zu besonderen Anlässen oder auch Weihnachten haben jedoch einen größeren Zulauf als noch vor einigen Jahren. Menschen entscheiden über ihr Verhältnis zur Kirche selbst. Wenn weniger Leute die Kirchen besuchen als vor 50 Jahren, heißt das dann auch, dass die Gesellschaft weniger religiös ist als damals? Mittlerweile ist in der religionssoziologischen Forschung deutlich geworden, dass Religiosität und Kirchenzugehörigkeit zwar nicht unabhängig voneinander sind, aber auch nicht deckungsgleich. Religion hat seit einigen Jahren andere Formen als die, die wir traditionell gewohnt sind und damit ist sie oft auch schwerer zu identifizieren – „unsichtbare“ oder „diffuse“ Religion nennen wir dies. Manche aktuellen empirischen Untersuchungen kommen sogar zu dem Ergebnis, dass Religion wieder zunimmt, dass also mehr Menschen sich als religiös ver-

stehen als noch vor einigen Jahren. So glauben zum Beispiel mehr Jugendliche an ein Leben nach dem Tod als Erwachsene mittleren Alters. Gibt es also aktuelle Trends und Phänomene des Glaubens? Schon lange ist der Trend zur „Individualisierung“ des Glaubens zu beobachten: Menschen entscheiden selbst, was sie glauben, wem sie religiös vertrauen, und sie setzen sich kritisch mit Glaubensinhalten auseinander. Oft werden nicht alle In-

Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong DEKT / J. SCHULZE

halte einer Religion übernommen, sondern es werden bestimmte Elemente ausgewählt und mit Elementen anderer Religionen kombiniert, zum Beispiel gibt es nicht wenige Christinnen und Christen, die den buddhistischen Glauben an eine Wiedergeburt teilen. Neuer ist der Trend, dass religiöse Traditionen wiederentdeckt werden. Alte Kirchen, Liturgien, besonders auch Klöster sind „in“. Traditionen gelten im Moment nicht als langweilig und verstaubt, sondern das Fremde hat seinenReiz,dasvieleeinmalausprobieren möchten. Neue Studien zeigen, dass sich viele Menschen der Esoterik zuwenden. Wie lässt sich das erklären? „Esoterik“ ist ja ein Sammelbegriff für diverse Überzeugungen und Praktiken, die gemeinsam haben, dass sie Zusammenhänge von Körper, Geist und Seele jenseits naturwissenschaftlicher Beweise sehen. Dass Menschen für diese Dimensionen offen sind und nach solchen Zusammenhängen suchen, ist eine

Konsequenz der sogenannten „Entzauberung“ der Moderne: Wir merken seit einigen Jahrzehnten, dass das naturwissenschaftliche Weltbild vieles, aber nicht alles erklärt und manches schlicht ausblendet, was zum Menschsein dazu gehört. Attraktiv an esoterischen Überzeugungen und Praktiken ist zudem, dass sie in der Regel keine Verbindlichkeiten fordern, wie sie zum Beispiel die Kirchenmitgliedschaft darstellt, weil sie keine Institution bilden. Schließlich bieten esoterische Praktiken meist klare Antworten auf Fragen und versprechen Lösungen für Probleme. Das passt in unsere Zeit, die weniger nach großen inhaltlichen Überzeugungen und stimmigen Weltbildern fragt als danach, was hilft und (rasch) gut tut. Gibt es Unterschiede zwischen Land- und Stadtgebieten? Es gibt Tendenzen, allerdings verschwimmen die Unterschiede zwischen Stadt und Land ja generell und das gilt auch für Religion und Kirche. Grundsätzlich sind Menschen nicht unbedingt religiöser oder weniger religiös, weil sie auf dem Land oder weil sie in der Stadt leben. Allerdings sind auf dem Land prozentual mehr Menschen Kirchenmitglieder. Die Vielfalt der Religionen und religiösen Orientierungen ist in der Stadt stärker ausgeprägt und zumindest auf dem „klassischen“ Land noch etwas einheitlicher. Kirche zeigt sich zudem auf dem Land in der Tendenz traditioneller, nicht zuletzt, weil in der Stadt mutiger experimentiert wird zum Beispiel mit Citykirchenarbeit, neuen Formen von Jugendarbeit oder Kirchen der Stille. Interview: Kira Oster ZUR PERSON

PROF. DR. UTA POHL-PATALONG Uta Pohl-Patalong (Jg. 1965) ist seit 2007 Professorin für Praktische Theologie an der ChristianAlbrechts Universität zu Kiel. Ihre Forschungsbereiche sind Religionspädagogik, Zukunft der Kirche, neue Formen von Verkündigung, Bibliolog und Genderfragen.


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Die Welt der Geister Rückende Gläser, kippelnde tanzende Tische – Spiritismus ist mehr als Geisterbeschwörung. Die Brüderliche Spiritistische Studiengruppe Schwester Sheilla aus Hamburg trifft sich regelmäßig, um über die spirituelle Welt zu diskutieren. VON JOHANNA TYRELL

Von den Geistern lernen und ihre Welt studieren: Mariley Lopes Stoll tut dies seit 23 Jahren in der Brüderliche Spiritistische Studiengruppe Schwester Sheilla.

Hamburg 21Uhr.Esistdunkelindemkleinen Kellerraum in Hamburg-Winterhude. NureinekleinegrüneGlühbirnetauchtdie Szenerie in dämmriges Licht: Vier Personen sitzen auf Sesseln an der Wand, die Handflächen gen Decke gerichtet und die Augen geschlossen. Ihnen gegenüber vier Medien. Darunter die Brasilianerin Mariley Lopes Stoll, Gründerin der Brüderliche Spiritistische Studiengruppe Schwester Sheilla. Zusammen mit drei weiteren erfahrenenMitgliedernderGruppe,spendet sie den anderen Bioenergie, die ihr aus der Geisterwelt gesendet wird. Eine Stunde zuvor. Mit gezückten KugelschreibernundaufgeschlagenenNotizbüchern sitzen die Mitglieder um Mariley Lopes Stoll herum. Thorsten Fagundes liest aus dem Buch „Der Bote“ vor. Viele Textstellen sind mit rosa Textmarker angestrichen. Es geht um Geisterkolonien. Immer wieder klingelt es an der Haustür, Gruppenmitglieder kommen herein und setzensichdazu.„Manmussaucharbeiten und studieren, damit man sich weiter ent-

wickelt“, erklärt Lopes Soll. Denn Glaube allein reiche im Spiritismus nicht aus. Vielmehr bestehe er auch aus philosophischen Elementen und einer komplexen Wissenschaft, sagt die 44-jährige Brasilianerin. Daher treffen sich Spiritisten in sogenannten Studiengruppen, wie die Brüderliche Spiritistische Studiengruppe Schwester Sheilla in Hamburg, benannt nach der Krankenschwester Sheilla, die während des zweiten Weltkrieges in der Nähe von Hamburg arbeitete. Ein riesiger Spiegel nimmt fast die gesamte Längsseite des Raumes ein. Rosa und orange Moosgummi-Blüten sind an die Wände gepinnt. Daneben hängt ein kleines Kruzifix. „Wir sind eigentlich alle Christen“, sagt Lopes Stoll. Rückende Gläser, kippelnde und tanzende Tische – auch das ist Spiritismus. „DiesePhänomenewurdenzuerstinAmerikabeobachtet“,erklärtsie.EsseienGeister, die durch diese Gegenstände Kontakt zu den Menschen aufnehmen würden. Schließlich war es das französische Medium Allan Kardec, der im 19. Jahrhundert

derWeltderGeistereineOrdnunggab.Die Spiritisten selbst sind im Gegensatz zu anderen Religionen vergleichsweise wenig starr organisiert. Es gibt keinen Klerus. Auch Rituale, Kerzen, Weihrauch oder Gesänge sucht man vergeblich. Sogenannte Medien stellen den Kontakt zur Geisterwelt her. Durch sie gelangen Gesetze und Prinzipien des Glaubens zu den Menschen. „Die Seelen der Menschen sterben mit dem Tod des weltlichen Körpers nicht“, erklärt Lopes Stoll. Vielmehr ginge sie in die Geisterwelt über und warte dort auf ihre Reinkarnation. „Dabei entwickelt siesichimmerweiter.“Immerwiederwürden die Geister durch irdische Medien Kontakt zur Welt aufnehmen und dabei Ratschläge geben oder über die Geisterwelt berichten. Um deren Struktur geht es auch bei diesem Treffen. Oder genauer: um Geisterkolonien und -ministerien, in denen es recht geordnet zuzugehen scheint. So wird dort diskutiert, wer wiedergeboren wird, und welcher Geist mit welchem Medium Kontakt aufnimmt. „Die Geisterwelt ist viel mehr organisiert als unsere Welt. Die Erde ist quasi eine schlechte Kopie von ihr.“ Immer wieder geht es an diesem Abend um die Fragen „Was ist meine Aufgabe auf der Welt?“, „Bin ich mit mir im Reinen?“ Die Diskussion wird heftiger, als ein Mitglied, dem Ungerechtigkeit in einer anderen Familie aufgefallen ist, die Gruppe fragt, ob es sich einmischen sollte. „Deine Freiheit endet dort, wo die des anderen anfängt“, sagt ein junger Mann in einer Ecke des Raumes. Aber sollte man sich darum nicht einmischen? Es herrscht Uneinigkeit in der Gruppe. Im Eifer der Diskussion verfallendieMitgliederimmerwiederinsPortugiesische. Die Luft wird stickiger. Vor23JahrengründetedieBrasilianerin die Spiritistische Studiengruppe SchwesterSheilla.Biszu30Leutekommenzuden Treffen. „Ich bin in die Welt der Geister

reingewachsen“, sagt Lopes Stoll. Schon ihre Ur-Ur-Großeltern in Brasilien waren Spiritisten, ihre Mutter ein bekanntes Medium. Doch sie bezeichnet sich auch als Christin und es kämen auch Buddisten oder Muslime zu den Treffen. „Wir sind sehr tolerant.“ Durch diese Offenheit anderen Religionen gegenüber sei der Spiritismus sehr friedlich. „O Espiritismo não é a Religião do futuro mas o futuro das Religiões – der Spritismus ist keine Zukunftsreligion, sondern die Zukunft der Religionen“, sagt sie. Nach einer Stunde beginnt der zweite Teil des Abends: Die Vergabe der Bioenergie. Mariley Lopes Stoll und drei weitere Medien ziehen sich in einen kleinen Nebenraum zurück. Die Wände sind hier apfelgrün, Sterne kleben an der Decke und Bilder von Schwester Sheilla an den Wänden. Lopes Stoll dimmt das Licht. Es riecht stark nach Desinfektionsmittel. „Wir sind hier auch ein bisschen ein Hospital für die Seele“,erklärtsiespäter.Aufportugiesisch rufensiedieGeisteran.NachfünfMinuten ist die 44-Jährige soweit. Vier weitere Mitglieder werden in den Raum gebeten. Auf einmal verändert sich die Stimme der Brasilianerin. Sie wird tiefer und rauer. Als ob sieetwasvomKörperdesvorihrSitzenden abstreifen wollte, fährt sie dessen Konturennach,schütteltdieHändeaus,alsobsie lästigen Dreck abschütteln würde. Die anderenMedientunesihrnach.Unterihnen: Thorsten Fagundes. Der 44-Jährige ist seit 1995 Teil der Studiengruppe, die er durch seine Frau kennenlernte. „Ich mag das Zwanglose im Spiritismus und dass sich hier nicht alles allein auf den Glauben stützt sondern auch Philosophie und Wissenschaft eine Rolle spielen.“ „Der Spiritismus ist nicht statisch. Wir lernen im Laufe der Zeit immer mehr über die Geisterwelt dazu. So wird man sich bewusst, dass das Leben auf der Erde nur einen winzigen Teil unserer Existenz ausmacht.“ ●

ALLAN KARDEC

DIE ORDNUNG DER GEISTERWELT Allan Kardec (1804 - 1869) wurde als Hippolyte Léon Denizard Rivail im französischen Lyon geboren, studierte in der Schweiz bei Johann Heinrich Pestalozzi, bevor er nach Frankreich zurückkehrte. Dort unterrichtete er unter anderem Physik, Chemie und Humanbiologie, vergleichende Anatomie und Französisch. Als in den 1850er Jahren das Phänomen der Geistermanifestationen auftrat, begann er sich zunächst skeptisch mit dem Spiritismus zu beschäftigen. Seine Beobachtungen schrieb er später in seinen fünf Hauptwerken auf: Das Buch der Geister (philosophischer Teil), Das Buch der Medien (experimental-wissenschaftlicher Teil), Das Evangelium im Lichte des Spiritismus (ethischer Teil), Himmel und Hölle (über Gerechtigkeit) und Genesis (Versuch, Religion und Naturwissenschaft in Einklang zu bringen). Sie sind die Grundlage des heutigen Spiritismus.


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Leitung zum höheren Bewusstsein Angst vor Feuer? Vielleicht ist man in einem früheren Leben als Hexe verbrannt worden. Die spirituelle Lehrerin Christiane Feuerstack aus Eckernförde unterstützt Menschen bei ihrer Reise ins Innere. VON MIRIAM RICHTER

Eckernförde „Menschen erle-

ben Dinge in ihrem Leben, die sie sich nicht erklären können. Ich helfe ihnen bei der Lösung“, sagt Christiane Feuerstack. Die 53jährige Eckernförderin bezeichnet sich selbst als spirituelle Lehrerin. Sie hilft ihren Kunden durch „Karma-Arbeit“, sich selbst zu entdecken und so Probleme in der Gegenwart zu lösen. „Durch Reinkarnation stößt man auf Ereignisse in früheren Leben. Viele Probleme haben ihren Anfang in früheren Leben“, erklärt Feuerstack. Deswegen sei es wichtig, die Ursachen in der Vergangenheit zu suchen, um so dieProblemedesjetzigenLebens lösen zu können. „Manche Menschen kommen mit einer konkreten Fragestellung zu mir“, sagt Feuerstack. Beziehungsprobleme, körperliche Schmerzen und Angstzustände sind häufige Ursachen für Fragen. „Es gibt Konflikte, die sich nicht aus dem Hier und Jetzt erklären lassen“, sagt Feuerstack. Die spirituelle Reise helfe,diesenaufdenGrundzugehen. Nach einem Vorgespräch bildet die geführte Meditation das Kernstück der Reise ins Innere. „Zum Einstimmen wende ich eine geführte Schutzmeditation an, die eine bestimmte Atemtechnik beinhaltet, die zu einer leichten Entspannung führt. Es ist aber keine Hypnose“, betont die spirituelle Lehrerin. Das Gehirn funktioniert in einer langsameren Frequenz. Man fühlt sich wie kurz vorm Einschlafen, ist aber noch in der Lage, Fragen zu beantworten. AufderReiseinsInnereundzu den früheren Leben helfen Engel. Sie weisen den Weg und sind die Mittler zum eigenen Bewusstsein. „Zum einen kann man bestimmte Engel oder Lichtwesen gezielt um Hilfe bei der Heilung oder Lösung von Blockaden bit-

„Häufig bekommt man erst ein vollständiges Bild von sich, wenn man über seinen früheren Tod hinausgeht“, sagt Christiane Feuerstack. ALTHAUS

ten, was sie in der Regel auch tun. Sie tun es aber nicht unbedingt von sich aus, weil sie nicht in die Freiheit des Menschen eingreifen.DeshalbistdieBittederMenschen auch wichtig“, erklärt Feuerstack. „Zur Einstimmung frage ich, obsieihrenEngelhintersichspüren können. Es geht viel über Gefühle. Manche Menschen sind blockiert, wenn sie etwas vor ihrem inneren Auge sehen sollen“, sagt Feuerstack. Sie versucht in solchen Fällen, die Blockaden durch gezielte Fragen wie „Wo spürst Du die Gefühle im Körper?“ zu lösen. Denn nur so kann man in seine früheren Leben eintreten. „Man kommt in einen Schattenbereich und erkennt: ‚Die Blockaden sind meine Angst, aber ich bin nicht die Angst, ich bin mehr als nur Angst. Dann komme ich mit ihr ins Gespräch.

Sie zeigt sich als Figur und diese führt mich zur Entstehung der Angst.‘ Das ist die Möglichkeit, ins frühere Leben zu gelangen.“ In einem Nachgespräch spricht Feuerstack über das Gesehene und unterstützt bei der Interpretation. „Viele Leute sagen danach: ‚Ich weiß nicht, was die Bilder bedeuten sollen.‘ Ich helfe ihnen, sie in einen großen Zusammenhang einzubetten. Einige brauchen einen Schlüssel, um die Bilder zu verstehen.“ Manchmal müsse man ein Bild auf sich wirken lassen und die Erkenntniskommeerstspäter.Man halte ein Zwiegespräch mit dem eigenen Bewusstsein, so Feuerstack. „Es ist wie eine Telefonleitung zum höheren Bewusstsein.“ Christiane Feuerstack erklärte, in einem ihrer früheren Leben Lehrerin gewesen zu sein. Mit 24 Jahren machte sie in ihrem jetzi-

gen Leben ein Praktikum in einemOrtimSchwarzwald,indem sie im früheren Leben gestorben sei. „Ich kam an den Ort und dachte, hier habe ich mal gewohnt. Deswegen habe ich mich dort so zu Hause gefühlt“, sagt sie. Die Lehrerin habe damals zu einer ihrer Schwestern eine sehr gute Beziehung gehabt. „Ich dachte immer, ich kenne keinen Menschen im jetzigen Leben, der meineSchwesterist.“Bissie2007 ein Karma-Seminar in der Schweiz gegeben habe: „Ich saß beim Abendessen einer Holländerin gegenüber und fühlte, dass ich die Frau kenne“, sagt Feuerstack. Die beiden seien sich gleich vertraut gewesen. „Bei meinem Besuch in Holland sagte das Kind meiner Freundin: „Mama, warum musstest du so lange auf deine Schwester warten?“ Das Faszinierende an der Kar-

ma-Arbeit sei, dass die Leben ineinander übergleiten, sagt Feuerstack, die sich 2005 als spirituelleLehrerinselbstständigmachte und nebenbei Eurythmiekurse gibt.IhreersteBerührungmitReinkarnation hatte sie mit 13 Jahren.„WirhattenzuHauseamEsstisch eine Diskussion darüber. Ich hörte sofort eine Stimme in mir,diesagte,dassReinkarnation selbstverständlich sei“, sagt Feuerstack. Sie begann früh, sich mit der Lehre von Rudolf Steiner, Philosoph und Begründer der Antroposophie, zu beschäftigen, fühlte sich aber erst mit Mitte 30 bereit, intensiver in das Thema einzusteigen. „Jetzt mache ich ernst und kümmere mich um meinen geistigen Weg“, sagte sie sich. Eine Reise in ein früheres Leben, bei der sie Rudolf Steiner begegnete, bekräftigte sie, sich beruflich für die Karma-Arbeit zu entscheiden. „Häufig bekommt man erst ein vollständiges Bild von sich, wenn man über seinen früheren Tod hinausgeht. Man muss seine Erlebnisse und seine Leben in einen großen Zusammenhang betten, um sich selbst und die Gründe seiner Probleme zu verstehen“, sagt Feuerstack. Vergebung spiele dabei eine große Rolle. Feuerstack erinnert sich an eine Frau, die im früheren Leben als Hexe verbrannt worden ist. Die Inquisitoren waren Verwandte aus dem jetzigen Leben. „Es ist doch furchtbar. Nicht nur, dass man als Hexe gestorben ist, sondern auch, dass die Verwandten sie nicht gerettet haben.“ So lerne man jedoch, dass auch die Verwandten, also die Täter, unter Zwängen stehen und Angst um ihr Leben hätten. „Man lernt verstehen und muss sein Leben im großen Ganzen sehen. Dann lernt man, sich und anderen zu vergeben.“ ●


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Das muslimische Ich entdeckt Im Alter von 13 Jahren entschied sich Rabia Atasoy bewusst für den muslimischen Glauben: Sie beschäftigte sich mit dem Koran, begann zu beten und bedeckte sich mit dem Kopftuch. Die Mitschüler reagierten aufgeschlossen und neugierig. VON KIRA OSTER

Glückstadt Rabia Atasoy legt ihre Ja-

cke auf den Boden, dann zieht sie ihre Schuhe aus. Sie kniet auf der Jacke, sie ist nach Mekka gewandt. In welcher Richtung der heilige Ort liegt, das zeigt ihr eine App auf dem Handy. Dann setzt sich die 16-Jährige auf die Knie, steht wieder auf und beugt sich wieder herunter. Ihre Lippen bewegen sich, ganz leise sind die arabischen Worte ihres Gebets zu hören. Rabia Atasoy betet täglich mindestens fünf Mal. So schreibt es ihre Religion vor. „Bis ich 13 war, war ich nur ab und an in der Moschee“, sagt die junge Muslimin. Seit zwei Jahren ist das anders: Sie ist religiös bedeckt, betet, fastet zum Ramadan. Sie hält sich an die sogenannten fünf Säulen des Islam. Das sind: Der Glauben an die Einheit Allahs und das Ablegen des Bekenntnisses zu diesem Glauben (Shahada), die fünf täglichen Gebete (Salat), die Wohltätigkeit gegenüber Mitmenschen (Zakat), das Fasten während des Ramadan (Saum) und die Pilgerfahrt nach Mekka (Hadsch). Morgens nach dem Frühstück ist es Zeit für das erste Gebet. „Sobald die Sonne gesehen wird“, erklärt Rabia Atasoy. In der Schule betet die Gymnasiastin selten, denn die Schulzeit kollidiere nur im Winter mit den Gebetszeiten. „Das ist immer abhängig von der Sonne, im Winter sind die Tage kürzer und die Gebetszeiten deswegen näher beieinander.“ Auch im Sportunterricht ist sie religiös bedeckt. Das heißt: Sie trägt Kopftuch, eine weite Jogginghose und einen Pullover. Damit sich nichts abzeichnet. Falls die Gebetszeiten sich aber doch einmal mit ihrem Stundenplan überschneiden, hat sie an ihrer Schule, dem Detlefsengymnasium in Glückstadt, die Möglichkeit sich einen ruhigen Raum zu suchen und dort zu beten. „Eine befreundete Familie wohnt aber auch gegenüber der Schule – in dem muslimischen Haus sind natürlich bessere Voraussetzungen.“ Vieles in ihrem Alltag richtet sich nach ihren

Gelebter Glaube: Die 16-jährige Rabia Atasoy betet fünf Mal am Tag – gerne auch mal im Garten. OSTER

religiösen Pflichten. Am liebsten bete sie alleine, im Sommer kann das auch mal im Garten sein. Und auch wenn sie unterwegs ist, finde sie immer einen Ort für ihr Gebetsritual: „Ich überlege mir dann am Abend vorher, wo ich be-

ten könnte. Außerdem gibt es sehr kleine Gebetsteppiche, die in die Handtasche passen und kaum Platz wegnehmen.“ Ein besonderer Monat ist – dem muslimischen Mondkalender nach –

der Ramadan. Es ist der Fastenmonat. Nach islamischer Auffassung wurde in diesem Monat der Koran herab gesandt. Für Muslime ist er Pflicht, Ausnahmen sind aber erlaubt, zum Beispiel während der Schwangerschaft. Auch Kinder und ältere Menschen sind der Pflicht entbunden. Das Fasten beginnt jeweils vor Anbruch der Dämmerung und dauert bis zum Sonnenuntergang. Auch Rabia Atasoy geht während des Ramadan fastend zur Schule. „Es ist am Anfang echt schwierig, aber letztlich eine Gewöhnungssache“, sagt sie. Sogar den Sportunterricht halte sie gut durch. Im Januar 2011 entdeckte die heute 16-Jährige ihre Religion neu. „Ich fragte mich damals: Wenn ich schon ein muslimisches Mädchen bin, warum bete ich dann nicht?“ Sie beschäftigte sich intensiv mit dem Koran und begann sich nach ihm zu richten. „Im Mai fing ich dann an mich religiös zu bedecken.“ Nervös sei sie gewesen, als sie das erste Mal mit Kopftuch in die Schule ging. „Es gab damals aber schon zwei Mädchen an unserer Schule, die Kopftuch trugen.“ Die Reaktion der Mitschüler sei positiv gewesen. „Viele wussten schon, dass ich nun Kopftuch tragen möchte.“ Es kamen viele neugierige Fragen. Rabia Atasoy beantwortete alle. „Viele wissen nur sehr wenig über den Islam.“ Für eine 16-Jährige ist sie sehr wortgewandt und aufgeschlossen. In ihrer Familie sei die Haltung zur Religion individuell: „Meine Schwester betet zum Beispiel nicht die fünf Gebete und sie trägt auch kein Kopftuch.“ Geduldiger sei sie durch ihren Glauben geworden und reflektierter. „Mein muslimisches Ich ist ein ruhigerer und ein sozialerer Mensch.“ Vorher habe sie nicht begründen können, warum sie lebe oder jeden Tag aufstehe. „Für Außenstehende ist fünf Mal am Tag Beten viel. Doch ich mache das mit Liebe.“ Die 16-Jährige ist überzeugt: „Meine Religion verleiht mir Stärke. Es gibt sicher eine Belohnung – im Diesseits oder im Jenseits.“ ●


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Wie glaubt der Norden? Religion in Schleswig-Holstein in Zahlen


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Ein Ja-Wort – zwei Feiern Mohamad Ahmad ist Moslem und Laila Burgschat Christin. Geheiratet haben sie Ende 2006. Nur für die Feier spart das junge Ehepaar noch, denn die gibt es gleich in doppelter Ausführung: einmal auf Arabisch und einmal auf Deutsch. VON HANNA ANDRESEN

Flensburg Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen? Mohamad Ahmad und Laila Burgschat schon. Und zwar auf ihren eigenen. Laila ist Christin und Mohamad Moslem, doch für sie kommt eine deutsch-arabische Hochzeitsfeier nicht in Frage. Ein Fest, auf dem grob über den Daumen gepeilt 500-600 Menschen sind, die mehr oder weniger zur Familie des Bräutigams gehören, kann für manch einen Deutschen überwältigend sein. Mohamads muslimische Familie stammt aus dem Libanon und selbst seine Eltern haben zusammen schon mehr als 15 Geschwister, die wiederum auch jeweils viele Nachkommen haben. „Da kann man sich ja ausrechnen wie viele das werden“, grinst der 25-Jährige. Eingeladen sei schließlich nicht nur der enge Familienkreis, sondern jeder der zur Familie gehört. Auch eventueller Besuch ist willkommen. Eine durchnummerierte Gästeliste? Unvorstellbar! Mohamad und Laila haben bereits mehr oder weniger schlechte Erfahrungen auf deutsch-arabischen Hochzeitsfeiern gemacht. „Das funktioniert nicht“, findet Mohamad. „Wenn die Deutschen sehen wie die anderen im Kreis tanzen, denken die sich auch: ‚Was ist das für ein Affentanz“, erklärt er mit einem Grinsen. Außerdem sei es den beiden wichtig, zwei richtige Feiern mit allem Drum und Dran zu haben. „Sonst ist es nichts Halbes und nicht Ganzes.“ Daher haben sie sich dazu entschlossen, zweimal zu feiern. Ob auf der arabischen Hochzeit mehr gefeiert wird, als auf der deutschen ist ungewiss. Bei der arabischen Variante stehe auf jeden Fall die Ausgelassenheit im Mittelpunkt, erklärt Mohamad. Eine Band mit Sänger wird für die Musik sorgen und den Gästen einheizen. Die sind meist auf der Tanzfläche aktiv und bilden einen Kreis um das Hochzeitspaar, wenn der Hochzeitstanz präsentiert wird. Das typische „Im-Kreis-tanzen“ wird den ganzen Abend durchgezogen. Nur beim Essen legen alle Anwesenden eine Pause ein. Kulinarische Köstlichkeiten wird es nicht geben. Schließlich gehe es bei einer arabischen Hochzeit nicht um das Essen. „Da steht dann irgendwo ein Hähnchenstand, wo die ganzen Hähnchen gebraten werden, dazu dann ein bisschen

Verheiratet sind sie seit 2006, aber die zwei Hochzeitsfeiern stehen noch aus: Laila Burgschat und Mohamad Ahmad.

Salat und Dip. Und nachdem sich alle satt gegessen haben geht’s wieder weiter mit Feiern.“ Das Essen sei nur eine Nebensache, ein Mittel zum Zweck. Mohamad und Laila erzählen, dass auf arabischen Hochzeiten häufig weiße Tauben fliegen gelassen werden, das Brautpaar die Torte mit einem riesigen Schwert anschneidet und die frisch Vermählten von Verwandten oft Geldgeschenke bekommen – entweder stecken

die Gäste es den Eheleuten an die Kleidung oder übergeben es persönlich in einem Briefumschlag. Im Mittelpunkt des muslimischen Festes, das voraussichtlich „irgendwo in einer riesigen Halle“ stattfinden wird, steht das Ehepaar. Mohamad und Laila werden nicht wie alle anderen Gäste von Papptellern essen und auf einer kleinen Erhöhung sitzen. „So haben wir das alles gut im Blick“, schmunzelt Laila.

PRIVAT

Ihr sei es auch wichtig, dass sie eine deutsche Feier halten. Alleine schon wegen ihrer deutschen Familie und Freunden. Dort wird dann Raum sein für eventuelle Hochzeitsspiele, eine klassische Hochzeitszeitung und deutsche Musik. So kommen alle auf ihre Kosten. Und selbst wenn Mohamad und Laila bereits längere Zeit sparen, um sich die beiden Feiern leisten zu können – die zwei Hochzeiten werden für sie ein Genuss.●


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Zu Gast in Abrahams Zelt Pastor Friedemann Magaard lädt Juden, Christen und Moslems in das Bildungshaus der evangelischen Kirche in Breklum ein. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen bei der interreligiösen Begegnung.

Grüne, gelbe oder rote Karte: Beim Seminar über religiöse Witze versuchen die Teilnehmer einzuordnen, wo die Grenzen ihres Humors liegen. Von links: Dr. Ali-Özgür Özdil (Imam, Hamburg), Yuriy Kadnikov (Rabbiner, Hannover), Senem Subasi (Muslimin, Hamburg), Renate Brockmann (Christin, Hamburg), Friedemann Magaard (Pastor, Breklum). ALTHAUS

JUDEN, CHRISTEN, MOSLEMS

INTERRELIGIÖSE TAGUNG Aus der Not heraus entstand die Idee zu einerinterreligiösenBegegnung:ImJahr 2011 war die Kapelle des Christian Jensen Kollegs in Breklum abgebrannt, die Gottesdienst-Gemeinde versammelte sich in einem Zelt. In einem solchen betete schon der Stammvater Abraham, aufdensichJudentum,Christentumund Islam berufen. Und so lud der Leiter, Pastor Friedemann Magaard, Vertreter aller drei Religionen in„sein Zelt", in diesem Jahr bereits zum dritten Mal. Freitagsgebet, Sabbatfeier und Sonntagsgottesdienst feierten die 15 Teilnehmer im Alter von 15 bis 73 Jahren miteinander.StandenbeimerstenTreffendieverschiedenen Arten zu beten im Mittelpunkt, ging es beim zweiten Mal um die Rolle der Frau in den drei Religionen. In diesem Jahr wurde über das unterschiedliche Empfinden für Witz und Humor diskutiert. Als Referenten sind stets dabei Dr. Ali-Özgür Özdil, Leiter des islamischen Wissenschafts- und Bildungsinstituts Hamburg, Yuriy Kadnikov, Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde Hannover„Etz Chaim“ sowie Andreas Schulz-Schönfeld vom Zentrum für Mission und Ökumene.

Was ist das Ziel der interreligiösen Begegnung? Eine Einheitsreligion? Magaard: Sicherlich nicht. Im interreligiösen Dialog begegnen sich Menschen mit hohem Respekt voreinander und vor der Verschiedenheit der anderen. Ein EinheitsbreiistnichtdasZiel,ichfindeesauch überhaupt nicht attraktiv. Sähen alle Menschen gleich aus: wie langweilig! So ist es auch mit dem Glauben. Worumgehtesdann?VersuchenSieuntereinander den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden? Gemeinsame Nenner zu finden ist eine akademische Aufgabe, wichtig, aber nicht unser Ansatz. Wir zeigen uns einander unsere geistlichen Schätze. Schaut hin, so beten wir. Hört, so lesen wir unsere Heiligen Schriften. Dass es Übereinstimmungen gibt:prima!Dasssiemehrsind,alsmanche vermuten: hervorragend! Aber die Unterschiede sind wichtig und auch wertvoll. Sie sind überzeugter Christ, richtig? Korrekt. (lachend) Was lernen Sie als Christ von Juden und Moslems? An den jüdischen und den muslimischen Partnern bewundere ich die Ernst-

haftigkeit, mit der sie ihren Glauben leben. Darin können sie uns Mehrheitschristen richtiggehend Vorbilder sein. Mit den jüdischen Partnern lerne ich, aufmerksam die Heiligen Schriften zu studieren und die religiösen Riten lieb zu haben. Mit den muslimischen Partnern lerne ich das stetige Gebet, das mich mehrfach am Tag daran erinnert, dass ich vor Gott lebe. SiehalteninBreklumgemeinsameFreitagsgebete, Sabbathfeiern und Gottesdienste.BetendaGläubigeunterschiedlicher Religion zusammen? Um genau zu sein: Wir laden uns gegenseitig als Gäste zu unseren Gebeten ein. Das ist etwas anderes als miteinander zu beten. Wenn ich das Freitagsgebet der Muslime miterlebe, dann kann mich auch eine meditative Stimmung erfassen und in mir beginnt ein Gebet. Wir sind aber nicht übergriffig und tun so, als wären Unterschiede nicht da. ÜberdieRollederFrauwurdebeieinem Ihrer Treffen diskutiert. Kritiker meinen, dass alle großen Religionen in Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter Nachholbedarf haben. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen? Immerhin sind nach dem Beleg der Hei-

ligen Schriften der drei monotheistischen Religionen Frauen und Männer gleichwertig, da sie gleichermaßen Geschöpfe Gottessind.Dassihnendannunterschiedliche Verantwortungsbereichezugewiesenwerden, führt oft zu kulturell unterschiedlichen, aber in der Sache gewichtig ungleichenKräfteverhältnissen.Eineinteressantes Detail am Rande: die muslimische Fassung der Sündenfallgeschichte bietet keinen Anhaltspunkt, der Frau Eva mehr SchuldzuzuschiebenalsdemMannAdam. Zuletzt haben Sie über religiöse Witze und die Grenze zwischen Scherz und Beleidigung gesprochen. Ist das Empfinden der einzelnen Religions-Vertreter für Humor unterschiedlich? Wir haben sehr viel gemeinsam gelacht, eine ungemein lustige Tagung. Aber wir haben auch die Schmerzpunkte ausgemacht,unddiesinddurchausverschieden. Die muslimischen Partner stellen sich schützend vor die Propheten im Koran, zu denenjaauchJesusgehört,auchvorMaria, seine Mutter. Christen verbinden oft mit religiösem Humor Autoritätskritik, und da geht es manchmal handfester zu. Der jüdische Humor ist ja sprichwörtlich komisch, nimmt oft Rabbiner ironisch aufs Korn – köstlich. Interview: Michael Althaus


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In der Ruhe sind alle gleich Im Zen-Kloster Schönböken werden Sinnsuchende eins mit dem Universum. Durch Meditation sollen Körper und Geist verbunden werden. Unsere Autorin hat es ausprobiert. VON ANABELA BRANDAO

Körper und Geist in Einklang: Beim Zazen, der wichtigsten Grundlage des Soto-Zen, meditieren die Mönche in aufrechter Haltung und tiefer Konzentration. STAUDT

Schönböken „Rücken gerade, Schultern nach unten. Und die Knie sollten möglichst den Boden berühren.“ Mit einer Engelsgeduld erklärt Wolfgang Rothe mir, worauf es beim aufrechten Sitzen ankommt. Mit gekreuzten Beinen versuche ich, seinen Anweisungen zu folgen. Doch so richtig klappen, will das nicht. „Deine Hose ist zu eng“, sagt er und verschwindet kurzerhand, um mir eine weite Jogginghose zu besorgen. Der 47-Jährige ist Mönch und gehört dem Soto-Zen an, einer Strömung des Zen-Buddhismus. Wir sitzen im Dojo, dem „Ort des Übens“ im Zen-Kloster Schönböken. Gleich beginnt hier das Zazen – die Sitzmeditation und Grundlage des SotoZen. Weil ich Anfängerin bin, gibt es aber heute nur die Kinderversion: 20 Minuten still sitzen, zehn Minuten Geh-Medita-

tion, und wieder 20 Minuten sitzen. Kann ja nicht so schwer sein, denke ich. Bevor es los geht, kriege ich erst eine Einführung, damit nachher auch alles klappt. Das Wichtigste ist die richtige Haltung. „Du musst für dich ausprobieren, wie du am besten sitzen kannst“, rät mir Wolfgang Rothe. Er macht es mir vor, kreuzt die Beine zu einem halben Lotussitz und legt seine Hände gefaltet in den Schoß. An die Verrenkung beim Lotussitz ist bei mir nicht zu denken, ich versuche es stattdessen mit einem einfachen Schneidersitz. Das passt. Mehr als 600 Zen-Buddhisten treffen sich regelmäßig, um in den einzelnen Dojos in ganz Deutschland zu meditieren. Die mehr als 200 Jahre alte Gutsanlage im Kreis Plön ist das gemeinsame Zentrum. Die meisten von ihnen kom-

men nur morgens oder abends zum Zazen ins Kloster, einige der Mönche verbringen auch den Großteil des Tages im Kloster. So wie Wolfgang Rothe. Der 47Jährige kommt fast jeden Tag, um gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und zehn bis zwölf anderen Mönchen und Nonnen zu meditieren. Einzige Ausnahme ist Mittwochs – da ist „Beziehungsmorgen“. Nebenbei kümmert sich der gebürtige Hesse um die Verwaltung. Außer den festen Mitgliedern der Vereinigung haben auch Gäste die Möglichkeit, ins Kloster zu kommen. „Die Modelle hier sind sehr verschieden“, weiß Rothe. Vom konsequenten Langzeit-Meditierer bis zum zweiwöchigen KlosterUrlauber sei alles dabei. Über das ganze Jahr verteilt finden außerdem die so genannten „Sesshins“ statt – eine Art Som-

mercamp für Zen-Buddhisten. „In dieser Zeit stehen wir zusammen auf, meditieren, kochen und essen gemeinsam und verrichten Arbeiten, die im Kloster anstehen“, erklärt Rothe. Jeden Tag der gleiche Ablauf. Die festen Strukturen helfen dabei, Platz für die eigenen Gedanken zu schaffen. Vertraut werden mit dem eigenen Geist – das ist das Motto. Was Zen von anderen Glaubensrichtungen unterscheidet, ist seine Offenheit. Keine Götter, keine starren Formen, keine Dogmen. „Es ist kein Glaubenssatz, den wir formen. Es geht vielmehr darum, Vertrauen zu gewinnen. Vertrauen in das, was man tut“, erklärt mir auch Jörg Baro. Der 53-Jährige ist Mönch und hat sich vor gut zwanzig Jahren dem Zen verschrieben. Mittlerweile wohnt er sogar im Kloster – obwohl er eine Freundin


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hat. Jeden Tag um 5.30 Uhr steht Baro Wolfgang Rothe, als ich ihm hinterher auf, eine halbe Stunde später ist Zazen- davon erzähle. „Es ist ein ständiger Beginn. Jeden Tag. Als Verzicht empfin- Wechsel aus dem Abschweifen der Gedet er das nicht. „Zen ist mein Lebens- danken und der Konzentration auf die mittelpunkt. Ich mache es, weil ich es Atmung und die Haltung des Körpers.“ will, nicht, weil ich es muss.“ Einsam sei Der 47-Jährige muss es wissen – schon das Leben als Mönch nicht, auch wenn seit 23 Jahren praktiziert er Soto-Zen. man materielle Abstriche machen müs- Früher führte der ehemalige Unternehse. „Es ist kein sozialer Rückzug, son- mensberater eine Art Doppelleben. Vor der Arbeit in einem Berliner Büro fuhr dern nur eine andere Art zu leben.“ Einen kleinen Einblick in dieses Le- er zum Meditieren ins Dojo, verbrachte ben bekomme auch ich. Während ich im seine Wochenenden und Urlaube mit Flur auf den Beginn der Meditation warte, ertönt ein hölzernes Klopfen. Erst ......................................................... langsam, dann immer schneller. „Das ist das Zeichen, dass es gleich los geht“, „Es ist kein sozialer Rückzug, sondern flüstert Wolfgang Rothe. Nach und nach nur eine andere Art zu leben.“ betreten die Meditierenden den Dojo, auch ich suche mir einen freien Platz auf einer der schwarzen Matten, den ZabuWolfgang Rothe tons. Meditiert wird mit dem Gesicht zur Mönch Wand. Passt mir eigentlich ganz gut, denke ich, dann fühle ich mich nicht so beobachtet. Vor dem Beginn korrigiert Meditieren. Irgendwann wurde ihm der jemand von hinten meinen Sitz und hebt Spagat zu viel. „Ich empfand es als meine Ellenbogen ein Stück an. Dann er- Zwang, mich zum Sklaven der Zahlen tönt ein Gong, und es herrscht Stille. zu machen. Das Leben ist oft so künstNur das gleichmäßige Atmen ist zu hö- lich, man steht immer unter Druck, alles erfüllen zu müssen.“ ren. Draußen zwitschern Vögel. Druck ist auch bei mir das Stichwort. Ich widerstehe der Versuchung, mich umzudrehen und beschließe Mein linker Fuß beginnt langsam einstattdessen, einen Punkt an der Wand zuschlafen, am liebsten würde ich mich anzustarren. Ich soll mich auf’s Atmen an der Nase kratzen. Denk an was anund auf meine Haltung konzentrieren, deres, rede ich mir ein. Und siehe da, hatte mir Wolfgang Rothe vorher gera- nach einer Weile habe ich die Nase verten. Aber es dauert nicht lange, und gessen und mich an das Kribbeln im meine Gedanken schweifen ab. Morgen Fuß gewöhnt. Gerade als ich mich fraum zehn ist Konferenz, da muss ich frü- ge, wie viele der ersten 20 Minuten her zur Arbeit. So was Blödes, dabei bin wohl schon vergangen sind, ertönt ein ich heute abend so spät zu Hause und Gong. Der erste Teil ist um. Was dann wollte eigentlich ausschlafen. Ich kommt, nennt sich Geh-Meditation könnte den Text später mit einem sze- und ist recht simpel. Einatmen, ausatnischen Einstieg beginnen. Oder viel- men, einen halben Schritt gehen. Zehn leicht lieber mit einem Zitat? Woher Minuten machen wir das. Nach dem wohl der kleine rote Strich an der Wand langen Sitzen ist die leichte Bewegung kommt? Oh, jetzt habe ich ganz verges- eine Wohltat, doch außer mir lässt sich keiner der anderen Teilnehmer etwas sen auf meine Atmung zu achten. „Das ist normal“, beruhigt mich anmerken. Die Bewegungen sind fast

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Die innere Mitte finden: Der aufrechte Sitz und eine gleichmäßige Atmung sind beim Zazen das A und O, erklärt mir Jörg Baro. ROTHE

synchron, trotzdem merkt man, dass jeder bei sich selbst ist. Im Dojo seien eh alle gleich, sagt Wolfgang Rothe und zeigt dabei auf den schwarzen Umhang, den hier jeder trägt. „Man zieht sich um, weil die soziale Welt hier keine Rolle spielt.“ Ärztinnen und Anwälte meditieren mit Bauarbeitern und Sozialarbeiterinnen. „Man ist es im Leben gewohnt, ständig die Wahl zu haben. Und jetzt taucht plötzlich eine andere Wirklichkeit auf, weil alle gleich sind“. Das Konzept scheint auch bei der jungen Generation gut anzukommen. „Seit zwei Jahren sind auch immer mehr jüngere Leute dabei, die sich anders orientieren wollen“, so Rothe. Doch nicht immer werden die Erwartungen erfüllt. „Am Anfang wollen alle Samurai werden“, sagt er lachend, „doch nach einer Weile merken sie, dass daraus nichts wird.“ Auch bei ihm war es die Suche nach etwas „anderem“, die ihn zum Zen gebracht hat. Und was? „Das wusste ich anfangs selber nicht. Aber ich fand es irgendwie spannend und faszinierend.“ Der Begriff Zen-Buddhismus sei jedoch irreführend. Denn anders als zum Beispiel im Diamantweg-Buddhismus gehe es im Soto-Zen weder um Wiedergeburt noch um Erleuchtung. „Wir haben keine Dogmen. Es geht nur darum, zurückzukehren zu etwas Ursprünglichem und uns mit dem Universellen in Einklang zu bringen“, so Rothe. Die Meditation helde dabei, über das Ichbezogene Denken – also das Ego – hinauszugehen. Besonders ärgern ihn falsche Versprechungen, wie kürzlich in einem Artikel im Spiegel. Krankheiten heilen durch Meditation, hieß es da. Darüber kann der 47-Jährige nur den Kopf schütteln. „Das wirkt so, als ob Meditation eine Art Pille gegen alles wäre. Dabei kommen aber nicht nur gute Gefüh-

le hoch, sondern auch schlechte wie Wut, Trauer und Aggression.“ „Strebt ihr denn nicht nach Erleuchtung?“, frage ich. Die beiden gucken sich an und grinsen. Mit Erleuchtung habe das nichts zu tun, antworten sie. „Wenn man nach Erleuchtung sucht, ist das ja ein Zustand, in dem man nicht erleuchtet ist“, findet Jörg Baro und Wolfgang Rothe ergänzt: „Am Ende ist es eine Sinnfrage: Was soll das hier eigentlich alles?“ Er selbst hat die Antwort gefunden. „Ich allein gebe den Sinn.“ Auch Jörg Baro hat im Zen seine Erfüllung gefunden. Der gebürtige Magdeburger war lange auf der Suche nach etwas, das er auch nach eineinhalb Jahren Reisen um die Welt nicht fand. Erst die Meditation und der Glaube an das eigene Handeln ermöglichten es ihm, zur Ruhe zu kommen. „Wenn man sein Leben darauf basiert, sind die Erschütterungen nicht mehr so schwer. Das kann einem keiner nehmen.“ Und ich? Nach der zweiten Runde Meditieren merke ich, dass ich ruhiger werde. An den Sitz habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Auch meine Gedanken werden ruhiger. Eigentlich ganz schön, die Stille, denke ich und beschließe, den Fernseher heute Abend mal aus zu lassen. ● ZEN-BUDDHISMUS

SOTO-ZEN Soto-Zen ist eine der drei größten japanischen Schulen des Zen-Buddhismus, die im 13. Jahrhundert in Japan gegründet wurde. Die Essenz des Soto-Zen ist die Ausübung einer korrekten Meditation, dem Zazen. Durch einen aufrechten Sitz und tiefe Konzentration soll sich die Vitalität des Körpers intensiv sammeln, um das individuelle Dasein wieder im Urgrund des Lebens zu verankern.

Auf dem idyllischen alten Gutshof treffen sich jedes Jahr hunderte Zen-Anhänger, um gemeinsam zu meditieren. STAUDT


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Kein Hokuspokus Für Ghelia Bohnhof ist Schamanismus keine Glaubenssache – für unseren Reporter Christoph Käfer schon. Die bloße Neugier trieb ihn zu der Heilerin, am Ende war er im wahrsten Sinne des Wortes begeistert. VON CHRISTOPH KÄFER

Dame mit tiefen, faltigen Furchen im Gesicht, einem verschmitzten Grinsen? Eine, die in ihrer eigenen Sphäre lebt, mit ihren Geistern redet und deren Gedanken so weit weg von der Erde sind wie die Milchstraße? Meine wilden Phantasien werden enttäuscht, Ghelia Bohnhof ist weder noch. Sie ist eine ganz normale Mittfünfzigerin, optisch unauffällig, geschieden, aber in einer festen Partnerschaft, mehrfache Großmutter, eine, die mit beiden Beinen im Leben steht. Sie bietet mir sofort das „Du“ an, wirkt von Anfang an ungemein herzlich als seien wir alte Schulfreunde, die sich ewig nicht gesehen haben und sich nun zum Kaffeeklatsch treffen. „Durch den Schamanismus soll ein Einklang zwischen Mensch und Natur geschaffen werden, aber es ist keine Glaubensrichtung“, betont Ghelia Bohnhof gleich zu Beginn. Glauben tut sie an die göttliche Allmacht, wie sie es ausdrückt; sie ist Mitglied der evangelischen Kirche. „Aber seit ich vor einigen Jahren schwer krank war, das Haus nicht

Spirituelle Praktiken mit einer Trommel sind Bestandteil von Ghelia Bohnhofs Arbeit als Schamanin. FOTOS: KÄFER

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„Als ich mich von einem Schamanen behandeln ließ, verschwanden meine Leiden.“ Ghelia Bohnhof Schamanin ......................................................... Malente Mein Oberkörper wankt leicht

nach vorn, dann leicht zurück, nach vorn, zurück. Alles dreht sich um mich herum, ich habe Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Ich beiße auf meine Unterlippe, zuerst sanft, dann stärker, doch es bringt nichts. Ich öffne die Augen, noch immer stehe ich auf dem flauschigen, weißen Teppichboden. „Können wir eine kurze Pause machen, mir ist gerade enorm schwindelig?“, frage ich. Ghelia Bohnhof tritt hinter meinem Rücken hervor, ihre Mundwinkel ziehen

sich leicht nach oben, sie lächelt. „Aber klar doch, setz dich auf das Sofa, vielleicht möchtest du etwas trinken.“ Ich nicke und gehe wortlos zu dem Sofa. „Ahhh“, es tut gut, endlich wieder sitzen zu können, der Kreislauf fängt sich langsam wieder. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass mich die Behandlung bei Ghelia Bohnhof, einer Schamanin aus einem Ortsteil von Malente, dermaßen beansprucht. Ghelia Bohnhof sitzt mir gegenüber, sie beobachtet mich stumm. Hätte mir vor einer knappen Stunde

jemand prophezeit, dass es soweit kommen würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt, ausgelacht, verhöhnt. An so einen Hokuspokus glaube ich nicht, die bloße Neugier treibt mich zu Ghelia Bohnhof. „Was erwartet dich da bloß?“, schießt es mir auf dem Weg zu ihr durch den Kopf. Steht mir gleich eine leichenblasse Gestalt mit zerfetzter Kleidung gegenüber, der okkulter Schmuck mit kleinen Totenkopfschädeln um den Hals hängt und die tagsüber ihr Haus nicht verlässt? Oder doch eher eine verknöcherte alte

mehr verlassen wollte und die Ärzte mit ihren herkömmlichen Medikamenten keinerlei Besserung erzielten, kam ich auf den Schamanismus.“ Sie habe den spirituellen Praktiken von Anfang an offen gegenüber gestanden und siehe da: „Als ich mich von einem Schamanen behandeln ließ, verschwanden meine Leiden.“ Sofort spürte Ghelia Bohnhof, damals schon Lehrerin und Meisterin für Reiki, eine alternative Heilungsmethode, dass der Schamanismus ihre Berufung sei. Gar nicht so abwegig. Denn ich staune Klötze, als Ghelia Bohnhof mir mitteilt, dass der Schamanismus seit fast 30 Jahren der uns bekannten Medizin bei der Behandlung psychosomatischer Krankheitsbilder von der Weltgesundheitsorganisation gleichgestellt ist. Warum das


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so ist, davon soll ich mich selbst überzeugen. Ich bin bereit. Ghelia Bohnhof geht den Flur entlang in Richtung ihres „Behandlungszimmers“, ich folge ihr. Ich stutze für einen Moment, denn Schuhe trägt Ghelia Bohnhof keine. Ich spreche sie darauf an. Sie lächelt. „Ich gehe so viel wie möglich barfuß, damit die Energie, die ich aufnehme, durch mich hindurch in den Boden fließen kann.“ Sie sagt das in ganz ruhigem Ton. Ich nicke, als würde ich diesen Satz täglich zu hören bekommen, als ginge der Satz links rein und rechts raus aus den Ohren. Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, habe ich nicht, denn wir erreichen das Behandlungszimmer, ein Raum von vielleicht 15 Quadratmetern. Dort liegen Karten auf einem Tisch, eine selbstgebaute Trommel lehnt an der Wand, Kerzen brennen auf einem Baumstumpf. Der Raum strahlt eine unsagbare Ruhe aus. Ghelia Bohnhof mustert mich kurz mit ihren Blicken, dann sagt sie: „Du bist von der Arbeit gestresst, solltest mehr entspannen.“ Ich erschrecke. „Woher weiß sie das?“ Sie merkt sofort, wo der Schuh drückt, ich bin beeindruckt. Ghelia Bohnhof will mir helfen. Sie wendet sich nach und nach den vier Himmels-

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richtungen zu und ruft die Geister des Nordens, des Westens, des Ostens und des Südens herbei. Anschließend lässt sie mich eine Karte aus dem Stapel ziehen, ich ziehe die Mutterkarte. Kann das Zufall sein? Sekundenlang starre ich auf die Karte. Tatsächlich hatte ich jahrelang massive Probleme mit meinen Eltern, besonders die Beziehung zu meiner Mutter hatte damals arg gelitten. Daher bittet mich Ghelia Bohnhof aufzustehen. Mit ihrer Trommel ruft sie den Geist meiner Mutter in den Raum. Es klingt verrückt, aber ich fühle tatsächlich, wie meine Mutter im Raum ankommt, spüre ihre Nähe. Ich schließe die Augen, sofort sehe ich vor meinem geistigen Auge die verdrängten Situationen aus der schwierigen Zeit mit meinen Eltern. Ghelia Bohnhof bittet mich, ihr einige sehr persönliche Sätze nachzusprechen, sie sind an meine Mutter gewandt. Von Sekunde zu Sekunde merke ich, wie hilfreich der Monolog mit meiner Mutter ist, wie ich immer befreiter werde. Nach einigen Minuten wird es zu anstrengend, ich kann nicht mehr, öffne die Augen, mir ist schwindelig. Hokuspokus war das jedenfalls nicht, das spüre ich sofort, meine Vorurteile sind auf einen Schlag verflogen. ●

Fühlt sich zur Schamanin berufen: Ghelia Bohnhof.

Crowdfunding macht’s möglich Ungewöhnliche Themen erfordern ungewöhnliche Finanzierungsmethoden. Das war das Motto dieses Magazins: Es entstand aus einem Experiment heraus. Zwei Volontäre unseres Verlags wollten das Crowdfunding ausprobieren, eine alternative Art der Vorfinanzierung. Auf der Internet-Plattform krautreporter.de warben sie um Unter-

Wie glaubt der Norden? Eine Sonderveröffentlichung des sh:z Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag VERANTWORTLICH

Chefredakteur: Dr. Helge Matthiesen Sprecher der Chefredakteure: Stephan Richter REDAKTION

Anabela Brandao, Michael Althaus MITARBEIT

Dana Ruhnke, Ina Krug, Linda Kupfer, Christina Norden, Anne Welkener, Johanna Tyrell, Jana Walther, Tina Ludwig, Cornelia Pfeifer, Kira Oster, Miriam Richter, Christoph Käfer, Hanna Andresen, Michael Staudt (Fotos) GRAFIK

Sönke Lundt, Can Yalim ANZEIGEN

Christian Arbien (verantwortlich) Ingeborg Schwarz GESCHÄFTSFÜHRUNG

Axel Gleie (Sprecher) Christian Arbien, Thomas Keßler VERLAG

sh:z Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag GmbH & Co. KG Fördestraße 20, 24944 Flensburg DRUCK

Druckzentrum Schleswig-Holstein Fehmarnstr. 1, 24782 Büdelsdorf

stützung. Das Ziel: Innerhalb von 30 Tagen mussten die Druckkosten von 2500 Euro für dieses Magazin zusammenkommen. Und sie waren erfolgreich. Die Namen aller Unterstützer, die zehn Euro oder mehr beigetragen haben, sind hier aufgelistet. Insgesamt beteiligten sich knapp 80 Leute. Den Rest der Kosten für

Recherche, Material und Mitarbeiter hat der Verlag übernommen. Daher kann das Magazin jetzt kostenlos ausgegeben werden. Eine PDF-Version ist zudem online unter www.krautreporter.de/wieglaubtdernorden einsehbar. > Kontakt zu den Volontären, Anabela Brandao und Michael Althaus: krautreporter@shz.de

Ein Dankeschön für die Unterstützung mit zehn Euro oder mehr: Roland Mitterbauer Vera Brinkmann Anni Nickelsen Helmut Kliche Ines Ludewig Edgar Jörgensen Torsten M. Beetz Axel Staudte Daniel Kunkel Christian Foks Michael Guntermann Robert Hirse Ulrich Krause Hartmut Pohl Jessica Fleischer Martin Bast Niklas Jordan Ulrich Klauke

Jürgen Friedrich Eimo Enninga Svenja Degner Frank Kraemer Markus Poerschke Stefan Bemmé Moritz Arbien Hartmut Pohl Jobst Spengemann Steffi Ebel Jochen Papke Andreas Mahler Andreas Althaus Elisabeth Althaus Dr. Marcus Nicolini Heiko und Ingrid Batelt Heinrich P. und Dr. Ingeborg Sondermann

E. Marita Arndt Karl Heinz Roll Gottfried Müller Jürgen Friese Peter und Ruth Dass Ernst-Eitel und Eva Klaebe Ilka Schümann Peter Kehm Marion Badberg-Jasper Astrid Kaack Jan Kuhlmann Norbert Wilckens Christel Berkenkopf Morten Basse Detlef Witt Eckard Nass Fehr Metta Christine Matzen Horst Hoop


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WIE GLAUBT DER NORDEN?

Die Religion f채hrt mit ... Entdeckt in Autos auf Schleswig-Holsteins Parkpl채tzen. FOTOS: WALTHER/ STAUDT


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