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18. Mai 2012
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Kriterien wären hilfreich Wer entscheidet eigentlich, ob EisenbahnEinstiege gehen, ob BILD geehrt werden darf, ob die Berichterstattung vor dem Scoop eine Rolle für den Wert des Scoops spielt, was überhaupt ein journalistisches Produkt ist? von Hajo Schumacher Interessante Tage gerade: Das Publikum bekommt einen hübschen Eindruck davon, wie Medien wirklich funktionieren. Da plaudert Ober-Bayer Seehofer mit ZDF-Kleber nach dem offiziellen Teil so vertraulich, wie es Politiker und total kritische Investigative eben oft tun, wenn das Mikro zugehalten wird, übrigens nicht nur im Fernsehen. Dem ZDF gebührt Ehre für den Mut, diesen Teil der Wirklichkeit ins Programm zu lassen. So geht Aufklärung in Zeiten der totalen Inszenierung. Lehrreich war auch die als feierlich gedachte Henri-Verleihung, wo die Kollegenschar gern ein gesellschaftlich relevantes Gesicht macht. Vergangenes Jahr lernte der interessierte Laie beim Henri, dass sich eine Jury über die Frage nach der ethisch korrekten Komposition süffiger Eisenbahn-Einstiege heillos überwerfen kann, weil einige halt noch edler sind als andere.
Dieses Jahr erfuhr die Show der Guten ihre Fortsetzung: Man distanziert sich von BILD, wenn die Scheinwerfer eingerichtet sind. Wäre es der SÜDDEUTSCHEN tatsächlich eine solchen Seelenqual, mit dem Boulevardblatt in einer Reihe zu stehen, dann hätte man den Beitrag schon sehr viel früher zurückziehen können. Ethisch betrachtet macht es keinen großen Unterschied, ob man nur im gleichen Wettbewerb startet oder gemeinsam geehrt werden soll. Eine spannende Frage für Dr. Rainer Erlinger, ob nicht schon die gemeinsame Nominierung Grund genug für Empörung hätte sein müssen. Was so ultimativ moralisch daher kommt, hat starke Züge von situativer Ethik und ist womöglich eher politisch und garantiert auch psychologisch motiviert. Interessant, dass parallel zum Henri-Eklat eine Studie aus dem Otto-Brenner-Institut kam, die die Frage aufwirft, ob BILD über-
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haupt ein journalistisches Produkt sei, was auch gleich verneint wurde. Eine ziemlich steile These, die allein auf einer OnlineInhaltsanalyse fußt, aber wesentliche und hochexplosive Faktoren wie etwa die Binnenspannungen zwischen BILD und BamS sowie die über die Jahre wechselnden Akteure und ihren jeweiligen Draht zu Wulff völlig ignoriert. So entsteht das Bild von einem Masterplan, wo wohl eher Meister Zufall regierte.
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Kriterien wären hilfreich, dann kann man Haltungen auch über die Preisverleihung hinaus einnehmen. Frage eins: Ist das Produkt BILD generell preiswürdig? Und wenn nicht, welche anderen Produkte ebenfalls nicht? Gibt es eine Chance, preiswürdig zu werden? Muss auch die FAZ von der Liste, wegen der unsäglichen Zeig-mirdeine-Klinker-und-ich-beurteile-deineLebensberechtigung-Story? Und dann noch das Thema Eigen-PR: Ab wieviel durchgesteckter Tipps wird der Autor von Dass BILD nach dem traumatischen Gut- der Jury abgelehnt? tenberg-Kuscheln nicht ein weiteres Mal einen Politiker verteidigen wollte, der Das große Problem lautet: Wer früh und nicht zu retten war, mag kein edles, aber laut genug trompetet, definiert, wer zu den ein nachvollziehbares Motiv sein, das guten, und wer zu den bösen Onkels man auch als Lernerfolg bezeichnen gehört. Ein Mensch wie Walter Kohl, kann. Der Vorwurf der Autoren, dass genau: der Sohn vom Altkanzler, hat dageBILD nicht mehr sei als geschickte Eigen- gen ganz andere Erfahrungen ausgerechPR, ist ebenfalls mutig in Zeiten, da Jour- net mit jenen gemacht, die rund um den nalistenverbände vor allem zu PR-Zwe- Henri als leuchtend saubere Vorbilder cken gegründet werden, da alle Medien gepriesen wurden. an allen Fronten für ihre Großartigkeit werben und sich auch der hinterletzte Es bleibt dabei: Diese Branche hat keine Mediendienst bereitwillig zum Auftrags- Kriterien, keine verlässlichen Leitplanken, killer von Erpressern und Rufmördern keine Haltung für den Umgang mit sich machen lässt, um eine eigene kleine selbst, sondern vor allem ein historisch Schlagzeile zu basteln. gewachsenes Rumgefühle. Mit welchem Selbstverständnis aber will eine Branche Bleibt die Frage: Wer entscheidet eigent- tagtäglich andere beurteilen, die selbst vor lich, ob Eisenbahn-Einstiege gehen, ob allem situativ und dünne argumentiert? BILD geehrt werden darf, ob die Berichter- Was für die Politik gilt, muss für die stattung vor dem Scoop eine Rolle für den Medien allemal gelten: Zentrale Fragen Wert des Scoops spielt, was überhaupt ein dürfen nicht nur von den besten Inszeniejournalistisches Produkt ist? Wie oft wol- rern beantwortet werden. len wir noch Antje Vollmer oder Joanne K. Rowling als Kronzeuginnen für etwas Hajo Schumacher arbeitet frei für die bemühen, das die Branche selbst nicht zu BERLINER MORGENPOST, die wie entscheiden wagt? BILD im Springer-Verlag erscheint.
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Nannen-Preis Spezial
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Freitag Abend, Hamburg Schauspielhaus, HenriNannen-Preis. Die Stimmung ist gut, der Rahmen festlich, sogar f端r einen Skandal haben die Veranstalter gesorgt: Hans Leyendecker und Kollegen nehmen den Investigativ-Preis nicht an, weil sie ihn sich mit zwei BILD-Leuten teilen sollen. V.i.S.d.P. ist dabei.
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Was wusste Leyendecker? „Wir haben ganz kurz beraten, soweit es möglich war“, sagt Hans Leyendecker. Aber möglich war das eigentlich gar nicht. Wusste er Bescheid? Oder entschied er eigenmächtig, den Preis abzulehnen? Es spricht einiges dafür, dass Hans Leyendecker nicht sonderllich überrascht war darüber, dass er und seine beiden SZ-Kollegen Klaus Ott und Nicolas Richter gemeinsam mit zwei BILD-Mitarbeitern den Henri-Nannen-Preis für die beste investigative Leistung erhalten sollten. Das Patt in der Jurysitzung (nebenbei: Sollte man nicht eine ungerade Zahl Mitglieder vorsehen?) und der faule Kompromiss, beide Arbeiten auszuzeichnen, machte schon vor der Verleihung die Runde. Das zumindest berichtet Ulrike Simon in der FRANKFURTER ZEITUNG/ BERLINER RUNDSCHAU/USW. Wussten die Meisterrechercheure Bescheid? War der dramatische Verweigerungsakt eine Inszenierung? Oder entschied Leyendecker für seine Kollegen gleich mit? Die drei SZ-Redakteure saßen jedenfalls nicht zusammen, hatten also keine erkennbare Möglichkeit, sich rechtzeitig abzustimmen. Die Szenerie:
decker sagt einen kurzen Satz zu Ott, der zeigt keine erkennbare Reaktion. Laudatorin Antonia Rados will die Nannen-Büste übergeben: „Ich weiß nicht wer...?“ Richter deutet auf Leyendecker. Moderatorin Judith Rakers: „Sie schauen
mich so an mit verschränkten Armen, ich ahne etwas.“ Leyendecker: „Überhaupt nicht.“
Richter nimmt von Rados, die inzwischen erschöpft scheint, den Bronzekopf entgegen, stellt ihn aber auf dem Stehtisch ab. Leyendecker bedankt sich zunächst, holt dann – unter Bezug auf die Bergpredigt – länger aus und formuliert schließlich: „ [...] Wir haben ganz
kurz beraten, soweit es möglich war. Jeder von uns hat seine Biografie, und wir möchten den Preis nicht annehmen. Wir möchten nicht gemeinsam mit BILD, weil ich‘s auch ‘n Stückchen für‘n Kulturbruch halte, aber man kann doch über Vieles reden, was damit zusammenhängt. Es ist der wichtigste Preis, und wenn die Jury der Meinung ist, dass die BILD-Zeitung dafür der richtige Adressat ist, dann ist das Sache der Jury, ist das völlig in Ordung, aber wir bitten um Verzeihung, wir möchten den Preis nicht annehmen.“
Die Preisträger werden auf die Bühne gerufen, Hans Leyendecker springt auf. Zunächst sind aber die BILD-Leute dran, er setzt sich wieder. Dann sind die SZler an der Reihe. Ott kommt vom gegen- Rakers: „Das ist ihr gutes Recht. Schönen überlliegenden Teil der Bühne. Leyen- Abend noch, trotz allem.“
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Was denn nun? Spielt es eine Rolle, in welchem Blatt eine Geschichte erscheint? Auf der Nannen-Bühne gab es dazu sich widersprechende Meinungen.
„Keine Diskussion der gestrigen Jurysitzung hat so lange gedauert wie in der Kategorie Investigation. Das wird Sie nicht überraschen. Aber es wird Sie vielleicht überraschen, dass es keine Debatte über die Tiefen und Untiefen des Boulevardjournalismus war, sondern eine über die drei nominierten Arbeiten. Das Medium, in dem eine Arbeit erschienen ist, darüber herrschte in der Jury schnell Einigkeit, kann kein Ausschlusskriterium für deren sachgerechte und faire Beurteilung sein.“ Helmut Markwort in der Begründung der Jury
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„Eine freie und unabhängige Berichterstattung gibt es nur, wenn sich die Presse selber nicht angreifbar macht. Wir können nicht über den Schmutz der anderen schreiben, wenn wir selber Dreck am Stecken haben. Wir können nicht dubiose Machenschaften anprangern, wenn wir sie selber anwenden. Dann sind wir nicht frei, dann sind wir nicht unabhängig, dann gefärden wir den ohnehin nicht sonderlich ausgeprägten Respekt vor dem Journalismus.“ STERN-Chefredakteur Thomas Osterkorn in seiner Laudatio auf den GUARDIAN-Medienredakteur Nick Davies. In der Nannen-Jury, die BILD auszeichnete, saß sein STERN-Kompagnon Thomas Osterkorn.
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Das goldene Dutzend Zwölf Autoren vom SPIEGEL haben die „Doumentation“ des Jahres geschrieben. Wer sonst? Neun von gleich zwölf Preisträgern drängten sich auf der Bühne, ums sich für die beste Dokumentation des Jahres auszeichnen zu lassen. Ferry Batzoglou, Manfred Ertel, Ullrich Fichtner, Hauke Goos, Ralf Hoppe, Thomas Hüetlin, Guido Mingels, Christian Reiermann, Cordt Schnibben, Christoph Schult, Thomas Schulz und Alexander Smoltczyk vom SPIEGEL. Erste Frage: Dokumentation? Was ist das überhaupt? Weitere Fragen: Warum nicht gleich der ganze SPIEGEL? Die Dokumentare, die Fotografen, die Infografik und so weiter? Ist es nicht ein wenig unfair, wenn die allein nominierten Kollegen gegen den FC Bayern des Journalismus antre-
ten? Gegen ein teuer zusammengekauftes Team aus Spitzenjournos, die, statt selbstständig zwölf Berichte abzuliefern, einen Omnibus-Text auf Hochglanz polieren lassen? Dient das Ergebnis als Vorbild? Ist es möglich, so etwas nachzumachen? Was wird ausgezeichnet: Die kunstvoll Komposition? Das Teamwork? Besondere Einzelleistungen darin? Der ausgezeichnete Text ist ohne Zweifel auszeichnungswürdig. Die Korrespondenten, Reporter und Redakteure beim SPIEGEL haben ihren Job gut gemacht. Besser kann das wahrscheinlich niemand in Deutschland, es versucht eigentlich auch niemand. Aber dann sollte man die Kategorie „Die SPIEGEL-Geschichte des Jahres“ nennen.
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Die fühlen was, die Saurier Es gab dann doch noch einen Preisträger der Herzen. Zwei Kisch-Preise hatte er schon, einen weiteren Nannen-Preis außerdem. Stefan Willeke von der ZEIT stetzte sein kurzweiliges und nun Kisch-prämiertes Porträt des RWE-Dinos Jürgen Großmann beim Sieger-Interview auf der Bühne einfach fort. Willeke: Man sieht es meinem Text vielleicht nicht an, aber ich habe ihn gemocht. Ich habe Jürgen Großmann gemocht. Rakers: Hat er Sie auch gemocht? Wie
hat er reagiert?
Willeke: Er hat gar nicht reagiert. Ich glaube, er ist beleidigt. Aber daran können wir heute Abend nichts ändern. Rakers: Sie wissen also auch nicht, ob es ihn gestört hat, dass Sie beschreiben, dass er weint? Willeke: Erstmal muss man sagen, dass die gesamt Familie Großmann ständig
weint. Der Bruder hat gesagt: Wir sind eine Familie von Heulern. Schon dem Vater wurden ganze Pakete von TempoTaschentüchern zu Hause neben den Ohrensessel gelegt, wenn er klassische Musik hörte. Er hat die dann in drei Stunden durchegweint. Auch Jürgen Großmann heult relativ regelmäßig. Auch vor Publikum. Nicht nur vor mir, sondern vor vier-, fünfhundert Leuten. Diese Saurier haben sehr viel Haut. Die fühlen was. Die fühlen vor allen Dingen, wenn die Zeit vorüber ist.
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Die Häääänris So richtig peinlich wurde es leider zum Abschied. Wir dokumentieren kommentarlos den Text der Schlusshymne. Die Melodie ist bei Coldplays „Viva la vida“ entlehnt, vorgetragen von einem KellnerChor aus dem Schul-Muisical. Merke: kritisch soll Journalismus sa-hein.
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... Ehr und Ruhm, wem der Ruuuuuhm gebüüüührt Mancher Beitrag hat uns gerührt Vergeben sind alle Häääänris nun Für uns gibt‘s nicht mehr viel zu tuhuhun Der allerschööönste Praaais liegt im Vertraun‘, dass jeder weiheiheiß Journalismus das – ist mein Ding Jetzt hab ich den Beweis Ja, schaut nur hin [unverständlich] sei verziiiiiiehn Jedem Zweifel kannst Du entfliehn Den Henri in Deiner Hand Gründe Deine Karriere nicht auf Sand Chorus: Wir wollen nun einen Toast ausbringen, den Siegern unseren Glückwunsch singen [in die Hände klatschen!] Egal ob Spiegel, ob Stern, ob Weeheelt um diese Schreiber ist‘s gut bestellt kritisch soll Journalismus sei-ein die Welt beschreiben und dann noch der Wahrheit diiiiiiehn‘ nur dann wird Dir ein Preis verliiiiehn
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V.i.S.d.P. – Magazin für Medienmacher Redaktion: Sebastian Esser Herausgeber: Dr. Hajo Schumacher Beratung: Markus Nowak Lektorat: Carla Mönig Adresse: Lietzenburger Straße 51, 10789 Berlin Telefon: 030 2196 27287 E-Mail: info@visdp.de
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