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Schubförmig remittierende MS: Teriflunomid jetzt auch für die Behandlung von Kindern ab 10 Jahren zugelassen
Weltweit sind mindestens 30.000 Kinder und Jugendliche von Multipler Sklerose betroffen [1], die Inzidenz liegt zwischen 0,18 und 0,51 pro 100.000. 98% davon leiden an einer schubförmig remittierenden MS (RRMS) [2]. Aufgrund des früheren Krankheitsbeginns treten bei Kindern mit MS irreversible Behinderungen und sekundäre Progressionen im Mittel 10 Jahre früher auf als bei Patienten, bei denen die Erkrankung im Erwachsenenalter diagnostiziert wird [3]. Daher sollten junge MS-Patienten von Anfang an möglichst gut behandelt werden. Allerdings ist die Anzahl der für die pädiatrische MS zugelassenen Therapien begrenzt. Erschwerend hinzu kommt, dass diese Altersgruppe eine orale Therapie eher akzeptiert als beispielsweise eine Injektionstherapie [4]. Daher ist es eine gute Nachricht, dass die Europäische ArzneimittelAgentur (EMA) die Zulassung von Teriflunomid (Aubagio®) im Juni 2021 erweitert hat: Teriflunomid kann nun als erste orale Behandlungsoption für die Erstlinientherapie der RRMS bei Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 17 Jahren eingesetzt werden. Die Dosierung richtet sich nach dem Körpergewicht und beträgt 1× täglich 7mg bei einem KG ≤40kg (in dieser Dosierung voraussichtlich ab Ende 2021 verfügbar) bzw. 1× täglich 14mg bei einem KG ≥40kg.
Zulassungsrelevante Studiendaten aus TERIKIDS
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Maßgeblich für die Zulassung waren die Ergebnisse der der PhaseIII-Studie TERIKIDS [5]. In diese multizentrische, randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Parallelgruppenstudie wurden 166
pädiatrische RRMS-Patienten aus 22 Ländern eingeschlossen. 109 Patienten wurden auf Teriflunomid und 57 Patienten auf Placebo randomisiert und über einen Zeitraum von bis zu 96 Wochen behandelt. In der Therapiephase konnten die Patienten bei einem klinisch nachgewiesenen Schub oder hoher MRT-Aktivität von mindestens 5 neuen oder größer werdenden T2Läsionen bei 2 aufeinanderfolgenden Untersuchungen in eine offene Verlängerungsstudie wechseln, in der alle Patienten Teriflunomid bekamen. Als primärer Studienendpunkt wurde die Zeit bis zum ersten bestätigten klinischen Schub oder eine hohe Entzündungsaktivität im MRT definiert. Die Therapie mit Teriflunomid war mit einem geringeren Schubrisiko von –34% im Vergleich zu Placebo assoziiert (mediane Dauer: 75,3 vs. 39,1 Wochen; HR: 0,66; 95%-KI: 0,39–1,1; p=0,29). Wegen einer hohen MRT-Aktivität traten aus der Placebo-Gruppe mehr Patienten und früher in die offene Studie über als aus der Verum-Gruppe (26% vs. 13%). Wurden beide Endpunkte gemeinsam betrachtet, wie es vorab im Studienprotokoll festgelegt worden war, führte Teriflunomid hinsichtlich des kombinierten Risikos eines klinisch nachgewiesenen Schubs oder hoher MRT-Aktivität zu einer statistisch signifikanten Verringerung um 43% im Vergleich zu Placebo (p=0,04) [5]. Bei den sekundären Endpunkten – der Anzahl an T1 Gadolinium aufnehmenden Läsionen und der Anzahl neuer oder sich vergrößernder T2-Läsionen – wurde unter Teriflunomid signifikant jeweils eine signifikante Verringerung um 75% (p<0,0001) bzw. 55% (p=0,0006) anhand von MRT-Befunden verzeichnet [5].
Verträglichkeit auf Placebo-Niveau
Die Gesamtinzidenz aller Nebenwirkungen sowie von schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen war in der Teriflunomid-Gruppe und in der Placebo-Gruppe etwa gleich hoch (88,1% vs. 82,5% bzw. 11,0% vs. 10,5%). Die Verträglichkeit von Teriflunomid lag somit auf Placebo-Niveau. Darüber hinaus wurden bei pädiatrischen RRMS-Patienten, bis auf 2 Fällen von Pankreatitiden, keine neuen Sicherheitssignale verzeichnet. Nebenwirkungen, die in der Teriflunomid-Gruppe häufiger auftraten als in der Placebo-Gruppe, waren z.B. Nasopharyngitis (25,7% vs. 8,8%), Infektion der oberen Atemwege (21,1% vs. 10,5%),
Teriflunomid
Bei Teriflunomid (Aubagio®) handelt es sich um einen Immunmodulator mit entzündungshemmenden Eigenschaften, der selektiv und reversibel auf aktivierte T- und B-Zellen wirkt, indem er das mitochondriale Enzym Dihydroorotat-Dehydrogenase (DHO-DH) hemmt. Dadurch kommt es zu einer Blockade der Proliferation von sich teilenden Zellen, die auf eine De-novo-Pyrimidinsynthese angewiesen sind [11]. Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen, dass Teriflunomid bevorzugt die hochaffinen autoreaktiven T-Zellen hemmt. Somit wirkt Teriflunomid nicht auf alle Lymphozyten gleich, sondern erzielt eine selektive Wirkung, bei der schwach aktivierte Zellen kaum betroffen sind. Dies führt zu einer Normalisierung des hochregulierten Stoffwechsels in autoreaktiven T-Zellen (Stoffwechselbremse) [12]. Die gezielte Beeinflussung des gestörten Zellstoffwechsels bewirkt einen relativen Anstieg der regulatorischen, entzündungshemmenden T-Zellen im Vergleich zu den proinflammatorischen Zellen [12]. Die Grundfunktion der Immunabwehr wird unter der Teriflunomid-Therapie nicht beeinträchtigt. So blieb die Lymphozytenzahl in klinischen Studien im Durchschnitt über dem erforderlichen Maß (LLN) [13]. Auch die Immunantwort auf inaktive Impfstoffe wie z.B. eine saisonale Grippeschutzimpfung [14] und ebenso die Immunantwort auf inaktivierte Neoantigene und Recall-Antigene blieben erhalten [15].
Alopezie (21,1% vs. 12,3%), Parästhesie (11,0% vs. 1,8%), abdominaler Schmerz (11,0% vs. 1,8%) und erhöhte Kreatinphosphokinase im Blut (≥ 3-Fache der oberen Normgrenze) (5,5% vs. 0%) [5].
Überzeugende Langzeitwirksamkeit und -Sicherheit
Teriflunomid ist seit 2013 in der EU zur Behandlung erwachsener MS-Patienten zugelassen. Daher liegen zur Langzeitwirksamkeit und -Sicherheit von Teriflunomid mittlerweile Erfahrungen von über 100.000 behandelten (adulten) Patienten vor, was einer „RealWorld“-Exposition von mindestens 285.800 Patientenjahren entspricht [6]. In den Extensionsstudien traten unter Langzeitbehandlung mit Teriflunomid über einen Zeitraum von 13 Jahren keine neuen oder unerwarteten Sicherheitsaspekte auf [6, 7]. Unter Teriflunomid bleiben die mittleren Lymphozyten- und Neutrophilen-Zahlen im Allgemeinen im Normbereich. Das Infektionsrisiko ist im Vergleich zu Placebo ebenfalls nicht erhöht, was ein Hinweis darauf ist, dass die Grundfunktion der Immunabwehr bei MS-Patienten unter Teriflunomid erhalten bleibt [6]. Fälle von progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML) sind unter Teriflunomid bislang nicht aufgetreten [8]. Gepoolte Daten zur Langzeitwirksamkeit aus Kern- und Extensionsstudien zeigten einen stabilen EDSS-Verlauf (Expanded Disability Status Scale) über 12 Jahre hinweg (Mittelwerte zwischen 2 und 3) [9]. Eine weitere Analyse bestätigte, dass Teriflunomid die jährliche Schubrate in allen Altersgruppen (bis 25, 25–35, 35–45 und >45 Jahre) im Vergleich zu Placebo jeweils signifikant reduzierte [10]. Daher bilden Langzeitwirksamkeit und das überzeugende Sicherheitsprofil eine gute Basis für die langfristige Anwendung von Teriflunomid bei RRMS. Brigitte Söllner, Erlangen
Literatur
1 Ghezzi A et al. Mult Scler Demyelinating
Disord 2017;2(5). https://doi.org/10.1186/ s40893-017-0022-6 2 Chitnis T et al. Neurology 2013;80:11611168 3 Renoux C et al. Clin Neurol Neurosurg 2008;110:897-904 4 Bigi S et al. Pediatric multiple sclerosis. J
Child Neurol 2012;27:1378-1383 5 Chitnis T et al. EAN 2020; O2032 6 Comi G et al. BMC Neurol 2020;20:364 7 Miller AE. Ther Adv Neurol Disord 2017;10:381-396 8 Chavin et al. Mult Scler 2018;24:11-117 9 Freedman MS et al. Mult Scler 2018; 24:530-737, P1233 10 Oh et al. Neurology 2019;92 (Suppl. 15),
P2-047 11 Fachinformation Aubagio®; Stand: Juli 2021 12 Klotz L et al. Sci Transl Med 2019;11: eaao5563 13 Comi G et al. Mult Scler 2020;26:10831092 14 Bar-Or A et al. Neurology 2013;81:552558 15 Bar-Or A et al. Neurol Neuroimmunol
Neuroinflamm 2015;2:e70