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Wie die Menschen das Land eroberten

Ohne den Einfluss des Menschen wäre das Weserbergland und seine Umgebung fast überall mit Wald bedeckt. Durch das rauhe Klima in den ausgedehnten kargen Bergwäldern und unwirtlichen Hochflächen sind allerdings bis in das 5. Jahrhundert nach Christi Geburt lediglich die fruchtbaren Wesertäler besiedelt gewesen. Erst danach wurden Flächen entsprechend dem Wachsen der Bevölkerung gerodet. Immer weiter, bis in kleinere Täler und Hochflächen drangen die Menschen vor. Bereits zu dieser Zeit wurde Sandstein als Baumaterial für den Eigenbedarf gewonnen.

Klimaverschlechterungen, Seuchen und Hungersnöte sowie nicht zuletzt zahlreiche Fehden führten jedoch schon ab dem 14. Jahrhundert wieder zu einem „wüst“ fallen der erst neu entstandenen Bergdörfer in den Waldgebieten. Neuer Wald wuchs auf den verlassenen Wiesen und Äckern der weit verbreiteten, aber nur kurz währenden Siedlungen. Heute erinnern oft nur noch die Flurnamen im Waldesinnern daran.

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Großes Bild: Die im 12. Jahrhundert errichtete Homburg wurde bis zum Jahr 1535 bewohnt. Für Wirtschaftsund Verwaltungszwecke ungeeignet, verwahrloste sie, bis sie 1542 endgültig zusammenbrach

Bild rechts: 1742 errichtete Lennebrücke in Eschershausen

Außen von oben nach unten: Wehrturm in Höxter

Die Erichsburg bei Dassel gilt als der erste bedeutende Renaissance - bau im Weserbergland

Einer von drei Kreuzsteinen im Gutspark von Deensen: Der wahrscheinlich im 13. Jahrhundert errichtete „Ibermannstein“

Unterschiedliche Siedlungsformen

Bei den Ortschaften mit den Endungen -hausen, wie Sievershausen oder Eschershausen, wurde kranzförmig um ältere Siedlungen das angrenzende, weniger fruchtbare Land urbar gemacht. Sie entwickelten sich zu charakteristischen „Platzhaufendörfern“, älteren Siedlungsformen, in denen sich die Meier- und Kothöfe um einen Platz mit Kirche und Pfarrei anordneten.

Erst im späteren Mittelalter wurden durch große Grundherren wie Herzöge, Bischöfe oder Grafen, Dörfer nach Plan angelegt. Bei der Neuanlage wurde die Grundriss bildung des „Einwegedorfes“ bevorzugt, welches regelmäßige Flurformen aufwies. Entlang der Dorfstraße lagen die Höfe, hinter denen sich regelmäßige, streifenförmige Felder befanden. Diese älteste erkennbare Flureinteilung in „Gewann- oder Langstreifenflure“, wurde durch eine genau festgelegte Ernteordnung ergänzt. Für die Bauern bedeutete die Grundbesitzzerstückelung eine möglichst gerechte, wirtschaftliche Einteilung der Ackerflächen. Erst in der hochmittelalterlichen Siedlungsperiode

kamen die individuell zu nutzenden „Kamp- und Blockfluren“ auf.

Eine Besonderheit für die Region waren die sogenannten „Hägersiedlungen“. Im 12. Jahrhundert siedelten sich hier vielerorts unter Bischof Udo von Hildesheim nieder rheinische oder flämische Kolonisten an. Die Kirche versuchte sich zu dieser Zeit eigene Territorien zu sichern. Die Häger waren persönlich frei und konnten über Haus und Hof frei verfügen. Zudem hatten die Häger ein von König und Grafen unabhängiges Gericht und ihr eigenes, von ihnen gesprochenes Recht. Außerdem unterlagen sie keinem Flurzwang. Ihre Felder lagen meist als Kämpe, von einem „hagen“ (mittelhochdeutsch hag = hecke) umgeben außerhalb der Altflur.

Machtkämpfe um die Region

Obwohl heute nur noch wenige Mauerreste davon zeugen, lag die weltliche Herrschaft in der Zeit vom 12. bis 15. Jahrhundert in der Hand der Grafen von Everstein und der Edelherren von Homburg. Von ihrer Stammburg, deren Reste heute noch auf dem Burgberg bei der Ortschaft Negenborn zu sehen sind, gelang es den Eversteiner Grafen, ihre Territorien über den gesamten Weserraum von Holzminden bis Hameln auszubreiten. Als Verbündete der Staufer war der Sturz Heinrich des Löwen im Jahre 1180 ein Höhepunkt ihrer Machtentfaltung.

Die Edelherren von Homburg, als Verbündete des welfischen Herzogtums, waren ebenfalls seit dem 12. Jahrhundert auf eine Ausweitung ihrer Territorien im

Das 1324 erbaute Muthaus in Hardegsen ist mit einer Höhe von 35 Metern das älteste, größte und völlig erhaltene welt liche Bauwerk in Südniedersachsen

Ehemaliger Wäscheplatz in Schorborn. Die Gründung des Sollingdorfes geht auf eine Glashütte zurück

Geburtshaus von Wilhelm Raabe in Eschershausen. Den -hausen-Dörfern folgten im 9. und 10. Jahrhundert Siedlungen mit den Endungen -rode

Weserbergland bedacht. Kaum eine Fußstunde von den Eversteinern entfernt, steuerten sie ihre Machtkämpfe um die Region von der gleichnamigen Burg bei Stadtoldendorf aus, die gleichzeitig zum Schutz des von Siegfrid IV. von Northeim gegründeten Klosters Amelungsborn diente. In ihrer Hand war eher der südöstliche Bereich des Gebietes.

Von beiden ehemals so mächtigen Herrschaftshäusern blieben am Ende nur noch zahlreiche Ruinen von Burgen und Schlössern erhalten. Die Eversteiner erloschen im Erbfolgekrieg, die Linie der Homburger ging mit dem Tod Heinrichs VIII. zu Ende. Das jahrhundertelang umkämpfte Gebiet fiel dadurch 1409 in die Hände des Herzogtums Braunschweig.

Machtbereiche zersplitterten

Die äußeren Grenzen des Gebietes des „Braunschweigischen Weserdistricts“ blieben für die nächsten vier Jahrhunderte weitgehend unverändert. Im Inneren entstanden durch die Zersplitterung der ehemals wenigen Ämter zahlreiche fürstliche und adlige, städtische und klösterliche Amts- und Gerichtsbezirke.

Der erhöhte Nahrungsbedarf und das Aufblühen von Handwerk, Handel und Gewerbe führte im 16. Jahrhundert zu einer Intensivierung der Landnutzung. Auch entfernt liegendere Wiesen und Weiden wurden zunehmend in die acker

Ehemals war an der Stelle der heutigen Poller Fähre eine Furt gelegen. Gesichert durch die oberhalb liegende Burg bildete diese Furt bis zur Ablösung durch die Fähre ein lästiges Schiffahrtshindernis

Rittergut in Deensen: Die Gründung des Dorfes im Jahre 1483 geht auf die Familie von

Campe zurück. Berühmtester

Spross der Familie ist der Pädagoge und Autor Joachim Heinrich Campe

bauliche Nutzung eingebunden. Die verstärkte Nutzung des Waldes führte zu einer fast völligen Verwüstung der Flächen.

Auch Gewinnung, Verarbeitung und Handel des Sollingsandsteins profitierten von dem wirtschaftlichen Aufschwung des Wesergebietes. Noch heute zeugen prachtvolle Bauten, Kirchen und die zahlreichen Schlösser der Weserrenaissance davon.

Als Tilly im Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) mordend und brandschatzend über die Gegend herfiel, war die wirtschaftliche Entwicklung vorerst beendet. Dörfer und Städte, wie Stadtoldendorf und Holzminden, waren verwüstet und ausgebrannt.

Wandel durch Industrialisierung

Die Städte und vor allem die Wirtschaft erholten sich nach den verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges im 18. Jahrhundert wieder, der Handel und das Gewerbe blühten auf. Bereits seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unterstützten die Landesherren des „Braunschweigischen Weserdistricts“ den gewerblichen industriellen Ausbau. Noch heute wird das Wirtschaftsleben der Region von den Industriezweigen, wie der Gipsindustrie bei Stadtoldendorf, den Glashütten in Grünenplan und Holzminden und der in Holzminden

ansässigen Riech- und Geschmacksstoffindustrie bestimmt. Mehr als 500 Jahre dauerte die Zugehörigkeit zu Braunschweig, 1941 ging der ehemalige „Braunschweigische Weserdistrict“ auf Veranlassung Hitlers an Preußen über.

Im Vergleich zu der verheerenden Zerstörung in den industriellen Zentren ging der Zweite Weltkrieg an dieser Region fast spurlos vorbei. Durch den Autobahnbau der Nationalsozialisten und die vielen mit Sandstein verblendeten Brückenpfeiler erlebte das Sandsteingewerbe in der Vorkriegszeit noch einmal einen starken Aufschwung. Zum Ende des Krieges wollten die Nationalsozialisten die Abgeschiedenheit der Gegend und den bestehenden Untertagebau im Hils nutzen, um dort mit Tausenden von Zwangsarbeitern Rüstungsgüter zu produzieren. Zum Glück kam das Kriegsende jedoch einer geregelten Produktion zuvor.

Auch heute noch liegt der Reiz des Weserberglandes in der landwirtschaftlichen Nutzung der Täler und der sie umgebenden Mittelgebirge mit den ausgedehnten Wäldern. Wirtschaftlich hat die Landwirtschaft jedoch — wie anderenorts auch — ihre einstige Bedeutung längst verloren. Neben Handwerk und Handel sind einige größere Industriebetriebe Hauptarbeitgeber in der provinziell geprägten Region. Im Natursteingewerbe arbeiten nur noch sehr wenige Menschen. Das Bild der Neubaugebiete, die seit den 1950er Jahren um die alten

Gegenüberliegende Seite: Dachlandschaft in Holzminden

Lagerhaus der Domäne Wickensen

Sandsteingepflasterte Gasse in Höxter

Rechts: Sandsteinsäulen in der Klosterkirche Lippoldsberg

Nach dem Gottesdienst in der Kirche der Sollingortschaft Mühlenberg

Ortskerne herum wachsen wird von Zement-Asbest-Platten, Betondachpfan- nen und Verbundsteinpflaster geprägt. Vorbei sind die Zeiten, in denen Bruch- steinmauerwerk und Plattensandsteine beim Hausbau eine Rolle spielten. Die schmalen, mit Sandstein gepflasterten Straßen sind Asphaltpisten gewichen, und die meisten Dachdecker haben das alte Handwerk der Sandsteineindeckung nie gelernt.

Religionen

Während sich auf der gegenüberlie- genden Weserseite eine überwiegend katholische Gegend befindet, waren bis zum Zweiten Weltkrieg die auf der östli- chen Seite der Weser lebenden Men- schen fast ausschließlich evangelischlutherischen Glaubens. Der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung betrug bis 1939 kaum mehr als fünf Pro- zent. Lediglich in einigen Industrie- und Gutsgemeinden mit zugewanderten Arbeitskräften war der Anteil der Katho- liken etwas höher. Durch die Vielzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten des ehemaligen Deut- schen Reiches, verdreifachte sich der Anteil der katholischen Bevölkerung in einigen Gemeinden.

Außen: Klosterkirche Kemnade

Kirche in Wangelnstedt

Das orthodoxe Dreifaltigkeits- kloster Buchhagen wurde 1990 gegründet und in den folgen- den Jahren von den ersten Mönchen erbaut.

Klosterkirche Fredelsloh

Oben: Kilianikirche Höxter

Klosterkirche Bursfelde

Mitte: Dorfkirche in Dielmissen

Die von einer „Krone des guten Namens“ verzierte Grabplatte des Zvi Hirsch ben Samson auf dem jüdischen Friedhof in Mackensen stammt aus dem

Jahre 1835. Sie wurde vor wenigen Jahren restauriert

Von den in der Zeit des Nazi-Regime vertriebenen und ermordeten Menschen jüdischen Glaubens zeugen heute nur noch einige kleine, oftmals kaum mehr auffindbare jüdische Friedhöfe. Die auch in der Solling-Region von Vertreibung und Abgrenzung bestimmte Geschichte der Juden reicht bis in das Mittelalter zurück, allerdings erreichte der Anteil der jüdisch Gläubigen an der Gesamtbevölkerung nur selten mehr als ein Prozent. Im 19. Jahrhundert und am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Aufstieg der zwischen Solling und Vogler gelegenen Kleinstadt Stadtoldendorf ganz wesentlich von jüdischen Familien geprägt. Die Weberei A.J. Rothschild Söhne wuchs innerhalb von wenigen Jahrzehnten zu einem Betrieb mit 940 Beschäftigten im Jahre 1904. Nach einem großangelegten Schauprozeß wurden die Geschäftsführer der Weberei Wilhelm Matzdorf, Richard Wolff und Joseph Schoenbeck Anfang 1938 inhaftiert und der Betrieb „arisiert“. Matzdorf und Wolff starben im KZ Sachsenhausen.

Hugenottenturm bei Karlshafen

Innenansicht der Klosterkirche Lippoldsberg

Rechts: Außenansicht der Klosterkirche Lippoldsberg

Von dicken Mauern umgeben sind die beiden bedeutendsten Klöster in der Region. Beide wurden vor langer Zeit, Kloster Corvey im Jahre 822 und Kloster Amelungsborn um das Jahr 1129, gegründet und in beiden lebten — zumindest die längste Zeit — Mönche nach den Regeln ihrer Orden. Scheinbar symbolisch durch die Weser getrennt liegen die beiden Klöster nur einige Kilometer auseinander. Auf der einen Seite Kloster Corvey, ursprünglich als Kloster Hethis in der Nähe von Neuhaus gegründet und nach wenigen Jahren an die dem Solling gegenüber liegende Weserseite umgesiedelt, auf der anderen Seite das am Rande des Odfeldes liegende Zisterzienserkloster Amelungsborn.

Gemeinsam ist beiden die fast uneingeschränkte Verwendung von Sandstein als Baumaterial mit Mauerwerken von bis zu 1,80 Meter Tiefe. Das tägliche Leben gestaltete sich in beiden Klöstern in Anlehnung an die verschiedenen Ordensregeln höchst unterschiedlich. Doch auch bei den baulichen Anlagen enden die Gemeinsamkeiten schnell wieder: Während sich hinter der gewaltigen, zwei Kilometer langen, Sandstein-Klostermauer von Amelungsborn Reste einer

Impressionen aus der Klosteranlage Amelungsborn

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